2. Buch
Übersetzung
1 Unter diesen wechselseitigen Lobeserhebungen, giengen wir in das Gemach des Mädchens, um sie auf der Githarre spiele zu hören; denn ich konnte nicht einen Augenblick leben, ohne sie zu sehen. Sie sang zuerst nach dem Homer39 den Kampf des Ebers mit dem Löwen; darauf stimmte sie eine sanftere Melodie an. Ihr Gesang war ein Loblied auf die Rose; und wenn man die Wendungen des Gesangs wegläßt, und die Worte von der Harmonie entblößt, so war ihr Inhalt ohngefähr dieser: „Wenn Zeus den Blumen einen König geben wollte, so würde er die Rose zur Königin der Blumen machen; denn sie ist der Schmuck der Erde, die Zierde der Gewächse, das Auge der Blumen, die Röthe und strahlende Schönheit der Wiese; sie haucht Liebe, lockt zum Genuß, ist mit wohlriechendem Laube geziert, brüstet sich mit ihren leichtbeweglichen Blättern, und das Blatt lächelt dem Zephyr.“ So sang sie. Ich aber glaubte, die Rose auf ihren Lippen zu sehen, so als wär’ ihr Mund mit dem Kelche der Rosen bekränzt.
2 Kaum hatte sie aufgehört zu spielen, als die Zeit zu speisen herankam. Es wurde gerade das Fest des Dionysos Protrygaios40 gefeyert; denn die Tyrier halten den Dionysos für ihre eigene Gottheit. Sie singen auch die Fabel vom Cadmos41, und als Veranlassung des Festes geben sie folgende Fabel an: Vor dem kannten weder andere Menschen, noch auch sie den Wein, weder den dunklen, noch den duftenden, noch auch den vom Biblischen Weinstocke42, den Thrakischen des Maron, den Chiischen aus Lakaine43, noch auch endlich den Inselwein vom Ikaros44; denn alle diese Weine waren zuerst Abkömmlinge des Tyrischen, und die erste Mutter der Reben wuchs bey ihnen. Ein gewisser gastfreundlicher Hirt unter ihnen gab, wie sie erzählen, zu der Fabel die erste Veranlassung, so wie die Athenäer auch vom Ikaros erzählen; und die Fabel selbst scheint beynahe Attisch zu seyn. Zu diesem Hirten kam Dionysos; er setzte ihm alles vor, was nur die Erde erzeugt und eingefahren wird; und zum Getränke hatten sie das, was auch der Stier trank; denn sie kannten den Wein noch nicht. Dionysos lobt den Hirten wegen seiner Freygebigkeit, und reicht ihm den Becher der Freundschaft dar. Das Getränke war Wein. Der Hirt trank davon, wurde von Vergnügen begeistert und sagte zum Gott: „Woher, Fremdling, hast du dieses purpurne Wasser? Wo hast du ein so süßes Blut gefunden? denn das Getränke ist nicht so, wie es auf der Erde fließt; dieses steigt in die Brust herab, und gewährt ein schwaches Vergnügen; das deinige aber ergötzt vor dem Munde schon die Nase, und ist kalt, wenn man es berührt; ist es aber in den Magen hinabgesprungen, so haucht es von unten ein Feuer des Vergnügen herauf. –“ „Dieß ist, sagte Dionysos, das Wasser der Herbstfrucht, das Blut der Weintraube.“ Er führte dann den Hirten zum Weinstocke, nahm eine Weinbeere, drückte sie und sagte, auf den Weinstock zeigend: „dieß ist das Wasser, dieß die Quelle.“ So kam der Wein unter die Menschen, wie die Tyrier erzählen.
3 Diesen Tag feyerte man nun dem Gotte das Fest. Mein Vater setzte aus Ehrbegierde unter andern Dingen, wodurch er die Mahlzeit glänzender zu machen suchte, auch einen dem Gotte geheiligten Krater45 auf, welcher nach dem vom Chier Glaukos46 den zweyten Rang behauptete. Das ganze Werk war aus Glas von erhabener Arbeit. Weinstöcke umkränzten es rings, so daß sie aus dem Krater herausgewachsen zu seyn schienen. Die Weintrauben hiengen überall herum; jede von ihnen erschien unreif, so lange der Krater noch leer war; goß man aber Wein hinein, so fieng sie nach und nach an, sich zu färben und zur reifen Traube zu werden. Dionysos war unter den Trauben als Winzer vorgestellt. Während der Wein schon herumgieng, sah ich etwas dreist auf sie hin; denn Eros und Dionysos sind zwey gewaltige Götter; sie bemächtigen sich der Seele und setzen sie bis zur Schaamlosigkeit außer sich: Eros, indem er sie mit seinem gewöhnlichen Feuer entzündet, und Dionysos dadurch, daß er dieses durch den Wein noch mehr anfacht: denn Wein ist die Nahrung der Liebe. Auch sie faßte schon Muth, mich häufiger anzublicken. Und so verstrichen zehn Tage, ohne daß wir weitere Fortschritte machten: denn wir wagten weiter nichts, als wechselseitige Blicke.
4 Ich entdeckte nun dem Satyros meine Liebe, und bath ihn um Beystand. Er sagte mir, „er hab’ es schon vorher bemerkt, aber mir’s nicht vorhalten wollen, um mir’s nicht merken zu lassen; denn wer im geheimen liebt, haßt den, der es ihm sagt, gleichsam als wenn dieser ihm Vorwürfe darüber machte. Aber das Schicksal, fügte er hinzu, hat von selbst für uns gesorgt. Ich stehe nämlich mit der Kleio, welcher ihr Schlafgemach anvertraut ist, in vertrautem Umgang, und sie betrachtet mich als ihren Liebhaber. Diese will ich in kurzem so für uns gewinnen, daß sie unsere Absichten unterstützt. Du mußt aber auch das Mädchen nicht allein durch Blicke zu reizen suchen, sondern etwas dreister mit ihr sprechen. Dann brauche einen zweyten Kunstgriff; berühre ihre Hand, drücke den Finger, und seufze dazu; leidet sie es, so nenne sie Gebietherin, und küss’ ihr den Hals. –“ „Bey der Athene47, sagte ich, du unterrichtest mich auf eine sehr überredende Art; aber ich befürchte, ich möchte zu wenig Muth haben, und mich als einen feigen Kämpfer in der Liebe zeigen. –“ „Eros, mein Lieber,“ erwiederte er, „verträgt keine Feigheit. Siehst du nicht, wie seine Rüstung so ganz kriegerisch ist? Sein Bogen, sein Köcher, die Pfeile, das Feuer: alles an ihm zeugt von Männlichkeit und Kühnheit; und du, da du einen solchen Gott in dir trägst, bist feig und fürchtest dich? Sieh dich vor, daß du den Gott nicht verleugnest. Ich will dir die Sache einleiten; u Kleio’n entferne ich, wenn ich eine schickliche Gelegenheit für dich wahrnehme, mit dem Mädchen allein zu seyn.“
5 Mit diesen Worten entfernte er sich. Mir selbst überlassen und vom Satyros angefeuert, suchte ich mir Muth gegen das Mädchen einzuflößen. „Wie lange, sagte ich, willst du noch schweigen? Warum so muthlos seyn im Dienste eines so tapfern Gottes? Willst du etwas warten, bis das Mädchen von selbst zu dir kömmt? Handelst du aber nicht unbesonnen, Unglücklicher? setzte ich dann hinzu. Warum liebst du nicht die, welche du lieben solltest? Du hast ein anderes schönes Mädchen in deinem Hause; dieser schenke deine Liebe, dieser deine Blicke; diese darfst du heyrathen.“ Ich glaubte, mich so überredet zu haben; aber aus der Tiefe der Brust sprach Eros dagegen: o du Tollkühner! du stellst dich gegen mich, um mit mir zu streiten? ich fliege, werfe Pfeile und setze in Flammen. Wie wolltest du mir entgehen? Entgehst du auch meinem Bogen, so kannst du dich doch vor meinem Feuer nicht schützen; und löschest du auch durch besonnene Enthaltsamkeit diese Flammen aus, so ergreif’ ich dich doch mit meinen Flügeln.
6 Während ich dieß bey mir sprach, stand ich, ohne es zu wissen, ganz unvermuthet bey dem Mädchen, und wurde bleich, da ich sie so plötzlich erblickte; bald aber überzog mich Schaamröthe. Sie war allein, und auch Kleio war nicht bey ihr. Ungeachtet meiner Bestürzung, in welcher ich nicht wußte, was ich sagen sollte, redete ich sie an: sey gegrüßt, meine Gebietherin! Sie lächelte hold, und zeigte dadurch an, daß sie meine Worte verstanden hatte; darauf sagte sie: „deine Gebietherin? Sage dieß nicht. –“ „Und doch hat mich ein Gott an dich verkauft, wie einst den Herkules an die Omphale48,“ sagte ich darauf. – „Meinst du den Hermes49,“ versetzte sie – „Ja, diesem hatte es Zeus befohlen.“ „Wie sprichst du so,“ entgegnete sie, „da du doch weißt, was ich sage?“ – >So knüpfte ich eine Rede an die andere, und der Zufall selbst unterstützte mich hierbey.
7 Den Tag darauf gegen Mittag spielte das Mädchen auf der Githarre. Ich war zugegen, und auch Kleio saß neben ihr. Ich gieng hin und her, und unversehens kam eine Biene geflogen, und stach Kleio’n in die Hand. Diese schrie laut auf, Leukippe sprang in die Höhe und legte die Githarre hin, um nach der Wunde zu sehen; sobald sprach sie ihr Trost zu: „mache dir keinen Kummer; mit zwey Worten will ich dir den Schmerz stillen;“ sogleich sprach sie die Zauberworte aus (sie hatte sie von einer Aegypterin gelernt gegen die Bienen- und Wespenstiche); und Kleio sagte, sie spüre etwas Linderung. Nicht lange, so umsauste auch mich eine Biene, und umflog mir im Kreise das Gesicht. Ich hatte den Einfall, meine Hände vor das Gesicht zu halten, und stellte mich, als ob ich gestochen wäre und Schmerzen empfände. Das Mädchen kam zu mir, zog mir die Hand weg, und fragte mich, wo sie mich gestochen hatte. „Auf die Lippe,“ antwortete ich ihr – „aber willst du nicht auch bey mir deine Zauberformel brauchen?“ – Darauf nahte sie sich mir, und legte ihren Mund auf meine Lippen, als wollte sie die Zauberformel singen; sie flüsterte auch etwas, indem sie die Oberfläche meiner Lippen berührte; ich küßte sie stillschweigend, und unterdrückte heimlich das Geräusch der Küsse. Sie öffnete und verschloß ihre Lippen, und machte durch das Geflüster des Zaubergesanges das Singen zum Küssen. Darauf küßte ich sie nun sichtbar, und umschlang sie; sie wich etwas zurück, und sagte: „was machst du? singst du auch einen Zaubergesang? –“ „Ich küsse deinen Mund,“ sagte ich, „dessen Gesang mir die Schmerzen gestillt hat.“ Sie verstand, was ich wollte, und lächelte; und so faßte ich Muth und sagte: „Ach, Geliebteste! ich bin von neuem verwundet, aber noch heftiger; denn die Wunde ist mir ins Herz hinabgeflossen, und begehrt deinen Zaubergesang. Trägst du etwa auch eine Biene auf deinem Munde? denn du bist voll Honig, und deine Küsse verwunde. Aber ich bitte dich, heile mich wieder durch einen Gegengesang, und eile nicht so sehr, damit nicht die Wunde wieder schlimm wird.“ Mit diesen Worten warf ich meine Hand etwas ungestüm um sie herum, und küßte sie freyer. Sie sträubte sich zwar etwas, aber verstattete es doch.
8 Unterdessen sahen wir von Ferne ihr Mädchen kommen, und so trennten wir uns; ich ungern und im Herzen betrübt darüber; wie sie? kann ich nicht sagen. Es wurde mir leichter, und ich faßte Hoffnung. Ich empfand noch den Kuß, der, wie ein Körper, auf meinen Lippen lag, und bewahrte ihn sorgfältig, als einen Schatz des Vergnügens. Der Kuß ist das erste Süße, was der Liebhaber genießt; denn ihn erzeugt das schönste Organ des Körpers; der Mund ist das Organ der Stimme; die Stimme aber ist das Schattenbild der Seele; bey der Vermischung der Lippen fließt das Vergnügen vom Munde in die Brust herab, und zieht die Seele zum Kusse herauf. Nie wohl hatte meine Seele vorher eine solche Lust empfunden; und damahls lernt’ ich zuerst, daß dem Kusse der Liebe kein Vergnügen gleich zu achten ist.
9 Als die Tischzeit herankam, tranken wir wieder zusammen. Satyros schenkte uns ein, und machte dabey einen Liebesscherz. Er verwechselte die Becher, dem Mädchen gab er den meinigen, und mir den ihrigen, füllte beyde mit Wein, vermischte ihn mit Wasser, und reichte sie uns dar. Ich hatte beobachtet, wo sie beym Trinken den Bescher mit ihren Lippen berührt hatte, setzte ihn an die Lippen, trank und küßte dabey den Becher, wie wenn ein von ihr mir zugesandter Kuß an ihm haftete. Hieraus merkte das Mädchen, daß ich auch den Schatten ihrer Lippen küßte. Satyros verwechselte die Becher wieder; da sah ich nun, daß es das Mädchen so, wie ich, machte und eben so trank. Dieß vergrößerte meine Freude. So machten wir es drey- bis viermahl, und tranken uns auch den übrigen Theil des Tages Küsse zu.
10 Nach der Mahlzeit kam Satyros zu mir und sagte: „jetzt ist es Zeit, Muth zu fassen. Die Mutter des Mädchens, wie du weißt, ist kränklich und schläft allein, und das Mädchen pflegt, ehe sie sich ins Schlafgemach begiebt, bloß von der Kleio begleitet, spatzieren zu gehen. Um auch Kleio’n zu entfernen, will ich mich in ein Gespräch mit ihr einlassen. –“ In dieser Absicht paßten wir ihnen auf; ich Leukippen und Satyros Kleio’n, und es geschah, wie wir wünschten. Kleio wurde bey Seite geführt und das Mädchen blieb auf dem Spatziergang allein zurück. Ich wartete nun, bis das Sonnenlicht matter wurde, und gieng, durch den ersten Angriff auf sie kühner gemacht, zu ihr, wie ein Krieger, der schon gesiegt hat, und den Krieg nicht mehr fürchtet; denn alles rüstete mich mit Muth: Wein, Liebe, Hoffnung und Einsamkeit; und ohne etwas zu sagen, wie wenn wir es verabredet hätten, umarmt’ und küßt’ ich sie. Da ich noch mehr wagen wollte, entstand hinter uns ein Geräusch. Erschreckt sprangen wir auf; sie begab sich sogleich in ihre Wohnung, und ich gieng, sehr bekümmert darüber, daß ich um einen so schönen Genuß gekommen war, einen andern Weg, und verwünschte das Geräusch. Unterdessen kam mir Satyros mit einem freundlichen Gesicht entgegen; er schien uns beobachtet zu haben; denn er hatte unter einem Baume gelauert, damit uns niemand überraschen möchte. Er hatte selbst das Geräusch gemacht, weil er jemanden hatte kommen sehen.
11 Nach einigen Tagen machte mein Vater Anstalten zur Hochzeit, und früher, als er es Willens gewesen war. Es hatten ihn mehrere Träume in Unruhe gesetzt. Es träumte ihn nehmlich, er feyere unsere Hochzeit, und wie er die Fackel angezündet habe, sey das Feuer verlöscht; dieß bewog ihn, unsere Verbindung zu beschleunigen. Er bestimmte dazu den folgenden Tag, und kaufte dem Mädchen den nöthigen Hochzeitschmuck: ein Halsband mit bunten Steinen geschmückt, und ein Kleid, das ganz purpurn; doch da, wo andere Kleider purpurn sind, mit Gold geziert war. Die Steine wetteiferten mit einander; der Hyacinth glich einer Rose, der Amethyst strahlte purpurn, dem Golde ähnlich. In der Mitte waren drey Steine, die so auf einander lagen, daß sich ihre Farbe gegenseitig abspiegelte. Der Grundstein war schwarz; der mittlere weiß, so daß der schwarze durchschimmerte, und der obere Stein nach dem weißen lief spitz zu und war röthlich. Der Stein war mit Gold bekränzt und glich einem goldenen Auge. Das Gewand war nicht mit gemeinem Purpur gefärbt, sondern mit dem, dessen Entdeckung die Tyrier dem Hunde eines Hirten zuschreiben, und mit welchem sie auch noch jetzt das Gewand der Aphrodite50 färben. Es war eine Zeit, wo der Scharlach des Purpurs den Menschen noch unbekannt war; eine kleine Muschel in einer ringelförmigen Kluft hielt ihn verborgen. Ein Hirt fieng diese Muschel, und suchte einen Fisch in ihr. Da er aber sah, daß die Muschel so hart war, wurde er unwillig über seinen Fang, und warf sie als einen Auswurf des Meeres weg. Der Hund fand durch einen glücklichen Zufall die Muschel, zerbiß sie, und das Blut des Purpurs floß um seinen Mund, färbte sein Kinn, und überzog seinen Rachen mit Scharlach. Der Hirt sah den mit Blut gefärbten Rachen des Hundes, hielt ihn für verwundet, trat näher zu ihm, und wusch ihn am Meere ab; hierdurch gewann das Blut noch mehr an Glanz; und als er es mit der Hand berührte, wurde auch seine Hand purpurn gefärbt. Der Hirt sah nun ein, daß die Muschel von Natur ein Verschönerungsmittel in sich enthalte. Er nahm etwas Wolle, tauchte sie in die Höhle des Muschel, um ihr Geheimniß zu untersuchen; und die Wolle wurde, wie das Kinn des Hundes, mit Purpur gefärbt. So lernte er den Purpur kennen. Er nahm dann einige Steine, zerschlug das Gehäus des Purpurs, öffnete sein Inneres, und fand so den Schatz der Farbe.
12 Mein Vater brachte nun das vor der Hochzeit gewöhnliche Opfer51. Ich war des Todes, da ich dieß hörte, und sann auf ein Mittel, die Hochzeit wenigstens noch aufzuschieben. Während ich darauf dachte, entstand auf folgende Veranlassung im Speisesaal ein plötzliches Geräusch. Mein Vater wollte eben opfern; und schon lag das Opfer auf dem Altar, als ein Adler aus der Höhe herabgeflogen kam, und das Opferthier raubte. Sie scheuchten ihn hinweg; aber dieß half ihnen nichts; denn der Vogel flog eilig mit dem Raube davon. Dieß hielt man nun für keine gute Vorbedeutung; und so schob man für diesen Tag die Hochzeit auf. Der Vater ließ Wahrsager zu sich kommen, und erzählte ihnen, was vorgefallen war. Die Wunderdeuter riethen ihm, dem Zeus, dem Beschützer der Fremden, zur Mitternacht am Meere ein Opfer zu bringen; denn dorthin, sagten sie, ist der Vogel geflogen; der Vogel war auch nach dem Meere zu geflogen, und völlig verschwunden. Sogleich wurde dieß bewerkstelligt. Ich aber pries den Adler, und erkannte ihn für den rechtmäßigen König der Vögel. Nicht lange darauf gieng das Wunder auch in Erfüllung.
13 Es lebte damahls in Byzanz ein Jüngling, Nahmens Kallisthenes, der verwaist und reich war, aber sehr üppig lebte und großen Aufwand machte. Dieser hatte gehört, daß die Tochter des Sostratos schön sey, und wünschte, sie zur Frau zu haben, ob er sie gleich noch nicht gesehen hatte. Denn so weit geht bey Zügellosen die Begierde zur Wollust, daß sie selbst durch das, was sie hören, in Gluth versetzt werden, und daß Reden eben das bey ihnen bewirken, was der Seele verwundete Augen verursachen. Er gieng demnach, ehe noch die Byzantier mit Krieg überfallen wurden, zum Sostratos, und bath ihn um das Mädchen. Dieser aber schlug es ihm aus Abscheu vor seinem unzüchtigen Lebenswandel ab. Zorn ergriff nun den Kallisthenes, theils, weil er sich vom Sostratos für verachtet hielt, theils auch, weil er seinen Endzweck verfehlen sollte. Denn er liebte das Mädchen wirklich; er bildete sich selbst ihre Schönheit ab, stellte sich das, was er bloß vom Hörensagen kannte, im Geiste vor, und wurde auf diese Art unvermerkt heftig in sie verliebt. Er beschloß demnach, sich am Sostratos, wegen der übermüthigen Behandlung zu rächen und seine Begierde zu befriedigen. Da aber die Byzantier ein Gesetz haben, daß, wenn jemand ein Mädchen raubt und sie vor der Verheyrathung zur Frau macht, die Gewaltthätigkeit, die er an ihr verübt, die Kraft der Hochzeit hat: so dachte er auf schickliche Gelegenheit, seinen Plan dadurch auszuführen.
14 Während der Krieg ausbrach, und das Mädchen sich bey uns befand, erfuhr er alles, was in unserm Hause vorgegangen war. Nichts desto weniger aber ließ er von seiner Nachstellung ab. Auch ereignete sich für ihn folgender günstige Umstand. Die Byzantier bekamen dieses Orakel:
Dort auf dem Lande, das, sonst noch Insel, vom Volk mit dem Baume
Gleiches Nahmens bewohnt, Erdengen und Hafen zugleich hat,
Wo sich Hephaistos52 erfreuet der drohendblickenden Gattin
Pallas, befehl’ ich dir jetzt dem Herakles ein Opfer zu bringen.
Man wußte nun nicht, welche Insel das Orakel meine; aber Sostratos, der, wie ich schon erwähnt habe, Anführer im Kriege war, sagte: „wir müssen nach Tyros dem Herakles ein Opfer schicken; das Orakel deutet ganz dahin; denn eine Insel gleiches Nahmens mit dem Baume nannte der Gott, und dieß ist die Insel der Phöniker, die mit der Palme53 gleichen Nahmen führt. Auch streitet die Erde und das Meer um sie; die Erde zieht sie an sich, und das Meer umströmt sie von beyden Seiten; denn sie liegt im Meere, und läßt die Erde nicht von sich. Eine enge Zunge verbindet sie mit dem Lande, und ist gleichsam der Nacken der Insel. Sie steht nicht fest auf dem Grunde des Meeres, sondern das Wasser fließt unter ihr weg. Unterhalb der Erdzunge liegt ein Hafen, und es gewährt ein seltenes Schauspiel: eine Insel auf dem Lande und eine Stadt auf dem Meere. Die Vermählung des Hephaistos mit der Pallas deutet auf den Oelbaum und das Feuer, die man bey uns mit einander vebunden antrifft. In dem ganzen Umkreise der heiligen Gegend blühen die Zweige des Oelbaums sehr üppig, und es entsteht zugleich mit ihnen Feuer, das die Zweige in Flammen setzt; und die Asche dieses Feuers befruchtet den Baum. Dieß ist die Verbindung des Feuers und des Baumes; und so verschmäht Athene den Hephaistos nicht.“ Darauf pries Chairephon, der mit dem Sostratos das Commando führte, und als ein gebohrner Tyrier einen höhern Rang behauptete, den Sostratos und sagte: „du hast das ganze Orakel vortrefflich ausgelegt; aber wundere dich nicht allein über die Beschaffenheit des Feuers, sondern hör’ auch, wie es eine ähnliche Beschaffenheit mit dem Wasser hat; ich selbst habe die bewundernswürdige Eigenschaft, von der ich dir jetzt erzählen will, gesehen. Das Wasser der Sikelischen Quelle enthält Feuer in sich, und man sieht die Flamme von unten aus ihr hervorspringen. Berührt man das Wasser, so ist es kalt, wie Schnee, und weder das Feuer wird vom Wasser verlöscht, noch das Wasser vom Feuer verzehrt, sondern zwischen beyden findet gleichsam ein Vertrag statt. Ferner ist auch der Iberische Fluß54 merkwürdig; beym ersten Anblick ist er nicht größer, als jeder andere Fluß; bleibt man aber etwas aufmerksam bey ihm stehen, um ihn rauschen zu hören, so wird sein Wasser, wie eine Saite, geschlagen – der Wind ist das Plektron55 des Wassers, – und der Fluß tönt, wie eine Githarre. Aber auch der Libysche See ist von der Beschaffenheit des Indischen Landes. Die Libyschen Mädchen kennen seine verborgenen Schätze. Sein Reichthum wir auf dem Boden bewahrt, und ist im Schlamme versteckt; und hier ist die Quelle des Goldes. Man wirft eine mit Pech bestrichene Stange in das Wasser, und öffnet seine verborgenen Schätze. Vermittelst der Stange fängt man das Gold, wie den Fisch mit der Angel. Das Pech ist gleichsam die Lockpfeife des Fanges; denn das Gold, das sie berührt, hängt sich an, und das Pech zieht den Fang mit sich hinauf. So fischt man das Gold aus dem Libyschen Flusse.
15 Darauf schickte Sostratos mit Genehmigung der Stadt das Opfer nach Tyros. Kallisthenes warf sich zur Gesandtschaft mit auf, schiffte eilig nach Tyros, und stellte, nachdem er das Haus meines Vaters ausgekundschaftet hatte, seine Netze aus. Die Frauen giengen hinaus, um das Opfer zu sehen; es war sehr prächtig und mit einer großen Menge Räucherwerk und vielen Blumen geziert. Das Räucherwerk bestand aus Kassia56, Weyhrauch und Krokos. Die Blumen waren Narkissen, Rosen und Myrrhen; der Duft der Blumen wetteiferte mit dem Geruche des Räucherwerks; ihr Hauch stieg in die Lüfte, vermischte den Geruch der Blumen, und erregte ein lieblich-duftendes Wehen. Unter den vielen und bunten Opferthieren zeichneten sich die Stiere des Nils aus; denn der Aegyptische Stier behauptet sowohl durch seine Größe, als durch seine Farbe einen vorzüglichen Rang. Sein Körper ist überall gleich stark und groß, sein Nacken dick, der Rücken breit; er hat einen starken Leib, und seine Hörner sind nicht, wie bey den Sikelischen, niedrig, noch, wie die des Kyprischen Ochsen, unförmig, sondern sie erheben sich von den Schläfen gerade empor, krümmen sich etwas an beyden Seiten, und nähern sich mit den Spitzen so weit, als sie am untern Theile von einander abstehen, so daß sie das Bild des gekrümmten Mondes darstellen. Sie haben die Farbe, wie sie Homer an den Pferden des Thrakiers preist57. Der Stier geht mit erhabenem Nacken einher, um gleichsam zu zeigen, daß er der König der übrigen Stiere ist; und wenn die Fabel von der Europa wahr ist, so verwandelte sich Zeus in einen Aegyptischen Stier.
16 Es traf sich damahls, daß meine Mutter krank war; auch Leukippe wendete Kränklichkeit vor, und blieb zu Hause; denn dieß hatten wir son unter uns verabredet, damit, wenn die übrigen ausgehen würden, wie es auch geschah, meine Schwester die Mutter der Leukippe begleiten sollte. Kallisthenes hatte Leukippen noch nie gesehen, und glaubte, da er Kalligonen sah, sie wäre Leukippe – denn er kannte Sostratos Gemahlin – und so zeigte er, ohne sich weiter zu erkundigen, ob sie wirklich Leukippe wäre – so sehr hatte ihn ihr Anblick verstrickt – einem seiner treuesten Sklaven das Mädchen, befahl ihm, Räuber zusammen zu bringen, und gab ihm an, wie sie geraubt werden sollte; denn es stand eine Feyerlichkeit bevor, bey welcher sich, wie er gehört hatte, alle Mädchen am Meere versammeln würden. Darauf begab er sich zum Scheine mit der Gesandtschaft hinweg.
17 Er hatte ein eigenes Fahrzeug, das er sich zu Hause zugerüstet hatte, wenn etwa sein Unternehmen glücklich von statten gehen sollte. Die andern von der Gesandtschaft schifften fort; er aber fuhr vom Lande etwas abwärts, damit es theils scheinen möchte, als sey er mit der Menge abgeschifft, theils auch, um nicht nach dem Raube ertappt zu werden, wenn sein Schiff nahe vor Tyros verweilte. Als er nach Sarepta, einem Tyrischen Ort am Meere, kam, verschaffte er sich noch ein kleines Fahrzeug, und gab es dem Zenon; so hieß nehmlich der Sklave, den er zum Raube ausgestellt hatte. Dieser Mann, der außerdem, daß er einen sehr starken Körper hatte, von Natur zum Räuber gemacht war, brachte bald aus dem Dorfe Räuberey treibende Fischer zusammen, und schiffte von da nach Tyros. Das Fahrzeug lauerte an einem Ankerplatz, einer kleinen Insel der Tyrier, die nicht weit von Tyros entfernt ist, und von den Tyriern das Grabmahl der Rhodope gennent wird.
18 Vor der Versammlung der Mädchen, welche auch Kallisthenes erwartete, ereignete sich das Wunder mit dem Adler, weshalb mein Vater die Wahrsager befragt hatte; und wir bereiteten uns eben zum Opfer vor, das wir den folgenden Tag des Nachts dem Gotte bringen wollten. Dem Zenon blieb nichts davon verborgen. Spät des Abends begaben wir uns ans Meer, und er folgte uns nach. Eben wuschen wir und am Rande des Meers, als er das verabredete Zeichen gab; und sogleich kam das kleine Fahrzeug herbey, auf dem sich zehn Jünglinge befanden. Acht andere in weiblicher Kleidung und mit geschornem Kinn hatte man auf dem Land in Hinterhalt gestellt. Ein jeder trug unter dem Busen ein Schwerdt; sie hatten sich, um desto weniger Verdacht zu erregen, ebenfalls mit einem Opfer versehen; und wir hielten sie auch für Weiber. Als wir den Scheiterhaufen zusammen legten, liefen sie plötzlich herbey, und löschten unsere Fackeln aus. Vor Bestürzung flohen wir ohne Ordnung aus einander. Sie aber entblößten ihre Schwerdter, raubten meine Schwester, bestiegen schnell das Fahrzeug, setzten sie darauf, und flohen vogelschnell davon. Einige von uns ergriffen die Flucht, ohne etwas davon gesehen zu haben, noch aufzuschreyen; andere sahen es und schrieen: Kalligone ist geraubt! Das Fahrzeug war aber schon in der Mitte des Meeres. Als die Räuber nach Sarepta kamen, schiffte ihnen Kallisthenes, der von der Ferne das Zeichen erkannte, entgegen, nahm das Mädchen, und fuhr sogleich weiter ins Meer. So zerschlug sich unverhofft die Heyrath, und ich athmete wieder freyer; doch betrübte es mich, daß meiner Schwester ein solcher Unfall begegnet war.
19 Wenige Tage darauf sagte ich zu Leukippen: wie lange, o Geliebte, wollen wir uns bloß mit Küssen begnügen? Schön ist der Anfang, wohlan! laß uns weiter gehen, und uns wechselseitig zur Treue verpflichten; denn hat uns Aphrodite in ihre Mysterien eingeweiht, so muß jeder andere Gott ihrer Macht weichen. Durch diese Worte, die ich öfters wiederholte, überredete ich das Mädchen, mich des Nachts unter dem Beystande der Kleio, die ihr Kammermädchen war, in ihr Schlafgemach zu nehmen. Dieses war so eingerichtet. Ein großer Platz faßte vier Wohnungen, zwey zur rechten und zwey zur andern Seite. In der Mitte trennte sie ein enger Gangm der zu den Wohnungen führte. Am Eingange desselben war eine Thür verschlossen; dieß war die Wohnung der Weiber. Die innern Zimmer bewohnten das Mädchen und ihre Mutter, und beyder Wohnungen standen einander gegenüber. Von den äußeren Zimmern nach dem Eingange zu bewohnte Kleio das eine, welches an das Zimmer des Mädchens stieß, und das andere war die Vorrathskammer. Die Mutter pflegte Leukippen immer zu Bett zu begleiten, und von innen die Thür des engen Ganges zu verschließen. Sie warf dann die Schlüssel durch eine Oeffnung hinaus, und ließ sie auch von außen verschließen; dann nahm sie die Schlüssel wieder in Verwahrung. Des Morgens rief sie einen dazu bestellten Diener, und warf die Schlüssel wieder durch die Thür, um sie von ihm öffnen zu lassen. Satyros ließ sich die Schlüssel nachmachen und versuchte, die Thür zu öffnen. Er fand auch wirklich, daß er sie öffnen konnte; und nun überredete er Kleio’n, unsern Plan nicht zu verhindern, da das Mädchen selbst darum wüßte. So wurde alles verabredet.
20 Unter den Sklaven war ein neugieriger, immer geschäftiger und geschwätziger Mensch, Nahmens Konops, ein Schlemmer und alles, wofür man nur Benennungen haben mag. Dieser schien alle unsere Handlungen von Ferne zu beobachten; vorzüglich wachte er bis spät in die Nacht, weil er argwöhnte, daß wir des Nachts etwas vornehmen möchten; und zwar öffnete er die Thüren des Zimmers, so daß es schwer war, vor ihm verborgen zu bleiben. Satyros suchte ihn zu gewinnen, scherzte öfters mit ihm und spottete lächelnd über seinen Nahmen58. Er sah aber die List des Satyros wohl ein, und stellte sich, als erwiedere er den Scherz; aber in seinem Scherze legte er seine feindselige Gesinnung an den Tag. So sagte er zum Satyros: da du über meinen Nahmen spottest, so will ich dir eine Fabel von der Mücke erzählen.
21 Der Löwe schalt öfters auf den Prometheus59, daß er ihn zwar groß und schön gebildet, seine Kinnladen mit Zähnen versehen, die Füße mit Klauen bewaffnet, und ihn mächtiger, als die übrigen Thiere, gemacht habe; aber, sagte er, ich, ein solches Thier, fürchte mich vor einem Hahne? Prometheus stand bey ihm und sagte: „Warum beschuldigst du mich so vergeblich? Von mir hast du alles empfangen, was ich bilden konnte, nur deine Seele ist hierin allein schwach.“ Der Löwe beweinte sich selbst, schalt auf seine Feigheit, und wollte endlich sterben. Als er damit umgieng, begegnete er dem Elephanten, blieb stehen und sprach mit ihm. Er bemerkte an ihm, daß sich seine Ohren immer bewegten. „Was fehlt dir?“ sagte er dann zu ihm. „Warum sind deine Ohren nicht einen Augenblick ruhig?“ Der Elephante erwiederte, da eben eine Mücke vorbey flog: „ich scheue dieses kleine summende Thierchen; fliegt es mir ins Ohr, so bin ich verlohren. –“ Wie sollte es mir noch einfallen, zu sterben, versetzte darauf der Löwe, da ich so stark bin, und um so sehr den Elephanten übertreffe, als der Hahn die Mücke übertrifft? „Du siehst nun, was die Mücke für eine Macht hat, daß sie der Elephant sogar fürchtet.“ Satyros verstand seine listvolle Rede, lächelte etwas und sagte: höre auch von mir eine Fabel vom Löwen und der Mücke, die mir ein Philosoph erzählt hat; für den Elephanten aber in deiner Fabel dank’ ich dir.
22 Einst sagte die Mücke prahlend zum Löwen: „Glaubst du etwa auch mich, wie die übrigen Thiere, zu beherrschen? Du bist nicht schöner, als ich, nicht stärker, noch auch größer. Sage, worin besteht dein Vorzug? Etwa in der Stärke? Ja, du verwundest mit den Krallen, und beißest mit den Zähnen; aber thut dieß nicht auch ein Weib, wenn es kämpft? Oder bist du etwa mit Größe und Schönheit ausgeschmückt? Deine Brust ist breit, deine Schultern stark und dein Nacken dicht behaart; aber siehst du nicht, wie häßlich du von hinten bist? Meine Größe hingegen ist die ganze Luft, so weit nur meine Flügel sie erreichen; meine Schönheit ist die blühende Wiese; denn ihre Blüthen sind wie Kleider, in die ich mich hülle, wenn ich vom Fliegen ausruhen will. Und mein Muth, wär’ es nicht lächerlich, noch davon zu reden? Ich bin ganz das Werkzeug des Krieges; ich stelle mich unter dem Schalle der Salpinx60 dem Feinde entgegen; die Salpinx, die zugleich auch mein Geschoß ist, ist der Mund; und so bin ich Schlachtverkünder und Krieger zugleich. Auch bin ich mir Pfeil und Bogen zugleich. Mein Flügel schießt durch die Luft, wie von einem Bogen geworfen; und fall’ ich an, so verwund’ ich, wie ein Pfeil. Der gestochene schreit plötzlich und sucht den Feind; ich aber bin zugegen und auch nicht; ich flieh’ und bleibe zugleich; ich schwinge mich eilig mit meinem Flügel um den Menschen, und lache, wenn ich sehe, daß er vor Schmerz wüthend herumspringt – Aber was nützt das Sprechen? Laß uns den Kampf beginnen.“ Sogleich fiel sie den Löwen an, sprang ihm in die Augen, und umflog mit summendem Schalle sien Gesicht, wo es nur von Haaren entblößt war. Der Löwe wurde wild, wendete sich nach allen Seiten hin, und verschlang die Luft. Um so mehr trieb die Mücke mit seinem Zorn ihr Spiel, und berührte auch zuweilen seine Lippen. Der Löwe neigte sich nach dem schmerzenden Theile des Körpers hin, und bog sich nach der Wunde zu; die Mücke aber krümmte nach Art der Fechter ihren Körper, schlüpfte in den Rachen des Löwen, indem sie mitten durch die geschlossenen Zähne flog; und die Zähne schlugen, den Fang verfehlend, an einander. Endlich war der Löwe müde, mit den Zähnen gegen die leere Luft zu kämpfen, und stand da, vom Zorn ermattet. Die Mücke umflog seine Mähnen und sang das Siegslied. Sie nahm einen größern Umkreis im Fliegen, und verstrickte sich aus zu großem Uebermuth unvermerkt in die Netze einer Spinne. Hier konnte sie nun nicht mehr entfliehen; und voll Verwünschung rief sie aus: „Oh! über meine Unbesonnenheit! einen Löwen forderte ich zum Zweykampfe auf, und das kleine Gewebe einer Spinne fängt mich!“ Bedenke nur, setzte Satyros lächelnd hinzu, daß auch du die Spinnen fürchten mußt.
23 Einige Tage darauf kaufte er, da er wußte, daß sich Konops gern gütlich that, einen starkwirkenden Schlaftrunk, und lud ihn zum Essen ein. Konops argwöhnte die List, und wollte anfangs nicht; doch sein leckerer Magen bewegte ihn, und er folgte. Er kam zum Satyros, und wollte, nachdem er gegessen hatte, wieder fortgehen. Satyros goß ihm aber in den letzten Becher das Schlafmitte, und Konops trank es auch. Er erreichte kaum noch sein Zimmer, als er hinfiel und durch das Getränk in Schlaf versank. Nun kam Satyros zu mir gelaufen, und sagte: „Konops liegt und schläft wohlan, sey ein zweyter Odysseus61 –“ Wir giengen nun sogleich an die Thür der Geliebten; er blieb zurück; ich aber gieng hinein, wo mich Kleio ohne Geräusch empfieng. Ich zitterte vor Furcht und Freude. Die Furcht vor der Gefahr beunruhigte die Hoffnungen meiner Seele, und die Hoffnung, meinen Endzweck zu erreichen, hüllte die Furcht in Vergnügen; so war ich in Besorgniß, indem ich hoffte, und freute mich, indem ich Angst empfand. Eben war ich in das Schlafgemach des Mädchens getreten, so wurde ihre Mutter durch einen Traum beunruhigt, der sie plötzlich in Angst setzte. Es kam ihr nehmlich vor, ein Räuber hab’ ihre Tochter mit entblößtem Schwerdte geraubt; er lege sie rücklings nieder, und schneide ihr von unten herauf den Leib mitten von einander. Von Furcht aufgeschreckt sprang sie auf, wie sie war, und lief, als ich mich eben niedergelegt hatte, in das Gemach ihrer Tochter, das nahe angränzte. Ich hörte das Geräusch der geöffneten Thüren, und sprang sogleich in die Höhe; sie stand aber schon am Bette; ich ahndete die Gefahr, sprang heraus, und lief durch die Thüren. Zitternd und bestürzt wurde ich vom Satyros empfangen; dann ergriffen wir in der Dunkelheit die Flucht, und gelangten so in unsere Wohnung.
24 Ihre Mutter gerieth anfangs so in Betäubung, daß sie niederfiel. Da sie sich wieder aufgerichtet hatte, schlug sie Kleio’n aus allen Kräften ins Gesicht, faßte sie bey den Haaren, und sagte seufzend zu ihrer Tochter: „du hast meine Hoffnungen vernichtet, o Leukippe; wehe dir, Sostratos! du streitest in Byzanz für fremde Ehen, und in Tyros wirst du bekriegt; hier hat man dir die Hochzeit deiner Tochter geraubt. Ach! ich Unglückliche! nie vermuthete ich, dich in einem solchen Brautbette zu finden. Wärest du doch in Byzanz geblieben! Hättest du doch lieber die kriegsrechtliche Gewaltthätigkeit erduldet! Hätte dich doch lieber ein siegender Thrakier geschändet! Das Unglück würde wegen des Zwanges und der Unvermeidlichkeit mit keinem Schimpfe verbunden seyn; so aber, du Unglückliche, folgt dir in deinem Unglück auch noch Schande nach. Ja, es täuschten mich selbst die Traumbilder; das Wahre des Traums sah ich nicht. Da ist nur dein Leib – o es ist kläglich! – zerschnitten; dieser Schnitt ist unglücklicher, als der des Messers; und den, der dich geschändet hat, sah ich nicht; noch auch kenne ich den eigentlichen Unfall. Es war doch kein Sklave?“
25 Da ich entkommen war, schöpfte das Mädchen Muth und sagte: „Mutter, schmähe nicht auf meine jungfräuliche Unschuld; es ist nichts von der Art unter uns vorgegangen; und ich weis selbst nicht, wer es war, ob ein Gott, ob ein Heros62 oder ein Räuber; ich lag voll Furcht da, und konnte vor Furcht nicht aufschreyen, denn die Furcht ist die Fessel der Zunge. Nur dieß weis ich gewiß, daß niemand meine Ehre geschändet hat.“ Panthia sank wieder zurück und seufzte. Wir aber überlegten, da wir allein waren, was zu machen sey; und wir hielten für das Beste, vor Anbruch des Morgens die Flucht zu ergreifen, ehe Kleio auf der Folter alles entdecken müßte. Dieß wurde nun auch so ausgeführt.
26 Wir stellten uns gegen den Thürhüter, als wollten wir zur Geliebten gehen, und giengen zum Kleinias. Es war schon Mitternacht, und nur mit Mühe wurde uns die Thür geöffnet. Kleinias, dessen Schlafgemach im obern Stockwerke war, hörte uns sprechen, und eilte bestürzt herunter. Unterdessen sahen wir auch Kleio’n eilig herbeygelaufen kommen; denn sie hatte sich ebenfalls zur Flucht entschlossen. Kleinias hörte von unserm Vorfall; zugleich entdeckte uns Kleio, daß sie entfliehen wollte; und von uns hörte sie unser Vorhaben. Dem Kleinias erzählten wir nun beym Eintritt in sein Haus unser Geschick, und daß wir uns zur Flucht entschlossen hätten. „Und ich mit euch,“ versetzte Kleio; „denn bleibe ich bis zum Morgen noch da, so steht mir ein Tod bevor, der süßer ist, als die Folter.“
27 Kleinias faßte mich bey der Hand, führte mich von Kleio’n weg und sagte: „ich glaube, den besten Entschluß gefaßt zu haben; wir führen diese hinweg, bleiben noch einige Tage hier, und rüsten uns dann, wenn es uns gefällt, zur gemeinschaftlichen Abreise. Denn die Mutter des Mädchens, wie ihr sagt, weis noch nicht, wer der Thäter ist, und ist Kleio aus dem Wege geschafft, so wird ihn niemand ihr anzeigen können. Vielleicht könntet ihr auch das Mädchen überreden, mit uns zu entfliehen.“ Er versprach uns überdieß, selbst auf unserer Flucht Gesellschaft zu leisten. Sein Rath fand Beyfall, und Kleio’n übergaben wir einem Sklaven mit dem Befehl, sie auf ein Fahrzeug zu setzen. Wir selbst blieben beym Kleinias und überlegten das Weitere. Endlich wurde beschlossen, einen Versuch beym Mädchen zu machen, und, wenn sie einwilligte, mit ihr zu entfliehen; wo nicht, hier zu bleiben und uns dem Schicksale zu überlassen. Den übrigen Theil der Nacht ruhten wir noch, und mit dem Anbruch des Morgens giengen wir in unsere Wohnung zurück.
28 So bald Panthia aufgestanden war, beschloß sie mit Kleio’n Untersuchung anzustellen, und ließ sie rufen. Da diese aber nirgends sichtbar war, gieng sie wieder zu ihrer Tochter und sagte: „Willst du mir nicht den ganzen Verfolg dieses Vorfalls entdecken? Sieh, auch Kleio ist entflohen! –“ Durch diese Nachricht aber bekam das Mädchen noch mehr Muth und sagte: „Was soll ich dir mehr sagen? Kann ich dir einen bessern Bürgen stellen, als die Wahrheit selbst? Wenn man die jungfräuliche Unschuld prüfen kann, wohlan, so prüfe! –“ „Ja, dieß fehlt noch,“ sagte Panthia, „daß wir auch Zeugen unseres Unglücks haben! –“ Mit diesen Worten sprang sie auf, und entfernte sich.
29 In Leukippen, die sich nun allein überlassen war, hatten die Reden ihrer Mutter mannigfache Empfindungen erweckt. Unwille, Schaam und Zorn durchkreuzten sich in ihr; sie war unwillig darüber, daß sie ertappt worden war, schämte sich, daß ihre Mutter sie geschmäht hatte, und war erzürnt, daß sie ihr nicht glauben wollte. Schaam, Traurigkeit und Zorn sind drey Leidenschaften, die das Gemüth, gleich den Fluthen, in Bewegung setzen; denn die Schaam ergießt sich in die Augen und tödtet die Freyheit des Blicks; die Traurigkeit verweilt in der Brust und läßt das Leben der Seele hinschwinden, und der Zorn umbellt, gleich einem Hunde, das Gemüth und umsprudelt die Vernunft mit dem Schaume der Raserey. Und von allen diesen Leidenschaften ist die Rede der Urheber. Diese scheint zielend ihre Pfeile und ihr vielfältiges Geschoß in die Seele zu schießen und das Ziel zu erreichen; das eine Geschoß ist das der Lästerung, und seine Wunde ist der Zorn; das andere ist der Vorwurf wegen unglücklicher Vorfälle, und daraus entsteht die Traurigkeit; und noch ein anderes ist der Schimpf wegen Vergehungen; seine Wunde nennt man Schaam. Alle diese Geschosse haben das eigene, daß sie tief eindringen und Wunden ohne Blut verursachen. Das einzige Gegenmittel für alle ist, sich gegen den, der uns angreift, mit denselben Geschossen zu vertheidigen. Die Rede ist nehmlich das Geschoß der Zunge, und ihre Wunde wird durch das Geschoß einer andern Zunge geheilt; diese hemmt den Zorn des Gemüths, und schwächt die Traurigkeit der Seele. Vertheidigt man sich nicht gegen den Stärkeren, und schweigt man, so werden die Wunden durch das Stillschweigen heftiger; denn die Schmerzen, die durch die Rede in uns erzeugt werden, schwellen um sich selbst an, wenn sie nicht den Schaum, den die Fluth der Leidenschaft erregt hat, auswerfen. In dieser Gemüthsverfassung nun und von so vielen Unglücksfällen bedrängt, konnte Leukippe ihren Anfall nicht aushalten.
30 Unterdessen schickte ich den Satyros zum Mädchen, um einen Versuch zu machen, ob er sie zur Flucht überreden könnte. Ehe sie aber noch sein Anliegen vernahm, sagte sie zu ihm: „ich flehe euch bey den fremden und einheimischen Göttern! entreißt mich den Augen meiner Mutter, wohin ihr wollt; wahrlich, wenn ihr fortgeht und mich zurücklaßt, so mache ich mir eine Schlinge, um mir das Leben zu nehmen.“ Diese Worte befreyten mich von einer Sorge, die mich noch am meisten gequält hatte. Nach zwey Tagen, da mein Vater eben verreist war, rüsteten wir uns zur Flucht.
31 Satyros hatte noch etwas von dem Schlafmittel, das er gegen den Konops gebraucht hatte. Dieß goß er, als er uns aufwartete, unvermerkt in den letzten Becher, der er der Panthia reichte. Sie stand auf, gieng in ihr Schlafgemach, und schlief sogleich ein. Leukippe hatte jetzt ein anderes Kammermädchen. Ihr näherte sich Satyros mit demselben Getränk; er hatte sich auch in diese, seitdem sie die Aufsicht über das Schlafgemach bekommen hatte, verliebt gestellt; dann gieng er an die dritte Thür zum Thürwächter, den er durch dasselbe Getränkt betäubte. Ein reisefertiger Wagen, den Kleinias besorgt hatte, empfieng uns vor den Thoren, wo uns Kleinias erwartete. Dieß geschah um die erste Nachtwache, während alle schliefen, ohne alles Geräusch. Satyros führte Leukippen an der Hand. Zum Glücke war eben Konops, der uns immer aufgepaßt hatte, jenen Tag in Geschäften für seinen Herrn verreist. Satyros öffnete die Thüren, und wir giengen heraus. Am Thore bestiegen wir den Wagen. Es waren unserer sechs: wir, Kleinias und zwey von seinen Dienern. Wir fuhren nach Sidon, und um die zweyte Nachwache gelangten wir in die Stadt. Wir nahmen sogleich unsern Weg nach Borytos, weil wir hier glaubten ein Schiff in Anfuhrt zu finden, und täuschten uns auch nicht. Denn als wir in den Hafen von Borytos gelangten, fanden wir ein Schiff, das unter Segel gieng, und eben im Begriff war, die Taue zu lösen. Ohne weiter zu fragen, wohin es führe, nahmen wir alle unsere Sachen vom Lande mit uns auf das Schiff. Dieß geschah etwas vor Tages Anbruch. Das Schiff fuhr nach Alexandrien, jener großen Stadt am Nil.
32 Der Anblick des Meeres erfreute mich anfangs, als das Schiff noch im Hafen lag. Der Wind schien zur Anfuhrt günstig zu seyn, und es entstand ein großer Aufruhr im Schiffe. Die Schiffer liefen durch einander, und der Steuermann ertheilte seine Befehle. Die Taue wurden angezogen, die Segelstange umgedreht, das Segel herabgelassen, das Schiff lag im offenen Meere, man lichtete die Anker, und verließ den Hafen. Das Land schien sich nach und nach von dem Schiffe zu entfernen, als wenn es selbst mit fortschiffte. Ueberall hörte man Loblieder und Gebethe zu den Göttern; man rief die schützenden Götter an, und bat sie um glückliche Fahrt. Der Wind erhob sich heftiger, das Segel krümmte sich, und zog das Schiff mit sich fort.
33 Neben uns befand sich ein Jüngling in der Cajüte, der uns, als die Zeit zu frühstücken herbeykam, sehr liebreich aufforderte, gemeinschaftlich zu speisen. Satyros brachte uns zu essen herbey; wir thaten unsere Speisen zusammen, und bey gemeinschaftlicher Tafel wurde auch die Unterhaltung gemeinschaftlich. Ich fragte den Jüngling zuerst: „woher bist du, Jüngling? Wie soll ich dich nennen? –“ „Menelaos,“ antwortete er; „ich bin von Geburth ein Aegypter – und euer Nahme?“ fügte er hinzu. – „Ich bin Kleitophon,“ versetzte ich ihm; „dieß ist Kleinias; wir sind beyde Phöniker. –“ „Was bewog euch,“ fragte er dann, „euch zu entfernen? –“ „Erzähle uns,“ antwortete ich ihm, „deine Geschichte; dann sollst du auch die unsrige erfahren.“
34 „Die Hauptveranlassung zu meiner Entfernung,“ fieng Menelaos an zu erzählen, „gab der neidische Eros und eine unglückliche Jagd. Ich liebte einen schönen Jüngling, der ein Freund von der Jagd war. Ich suchte ihn öfters davon abzuhalten, aber vergebens! Da ich ihn nun nicht davon zurückbringen konnte, folgte ich ihm selbst auf die Jagd. Wir jagte beyde zu Pferde, und waren anfangs, als wir noch schwächere Thiere verfolgten, glücklich. Plötzlich aber sprang ein Eber aus dem Walde hervor. Der Jüngling verfolgt ihn; der Eber dreht sich aber um, und läuft mit zugekehrtem Rachen auf ihn los; und der Jüngling wich nicht zurück. Ich schrie laut auf und rief ihm zu: „halte die Zügel an, und ziehe das Pferd zurück; das Thier ist gefährlich!“ Aber der Eber lief schnell auf ihn zu, und beyde geriethen nun kämpfend an einander. Ich zitterte, da ich dieß sah, ergriff aus Furcht, das Wild möchte ihm zuvorkommen und das Pferd verwunden, meinen Wurfspieß, und schnellte ihn los, ohne genau zu zielen. Eben tritt aber der Jüngling vorbey, und fieng den Wurf auf. Wie glaubst du wohl, daß mir da zu Muthe gewesen sey? In welchem Zustande sich meine Seele befunden habe? – wenn anders derjenige, der gleichsam lebend stirbt, wirklich noch eine Seele haben kann. Und was das Schauspiel noch kläglicher machte: er streckte seine Hände nach mir aus, da er noch ein wenig athmete, warf sie um mich, und liebte mich, den Elenden, noch im Hinschwinden, da er doch von mir getödtet war, und von meiner mörderischen Rechten umschlungen hauchte er seinen Geist aus. Seine Eltern zogen mich vor Gericht; und ich duldete es gern; denn ich gieng vom Gerichte weg, ohne mich zu vertheidigen, und verurtheilte mich selbst zum Tode. Die Richter aber hatten Mitleid mit mir, und bestraften mich mit einer dreyjährigen Flucht; diese ist jetzt zu Ende, und ich kehre in mein Vaterland zurück.“ Kleinias weinte bey seiner Erzählung, wie die Troerinnen über den Patroklos63; denn er dachte dabey an den Charikles. „Meinst du über mich? oder hat dich ein gleicher Unfall zur Flucht genöthigt?“ fragte ihn dann Menelaos. Seufzend erzählte ihm nun Kleinias von seinem Charikles und dem Pferde, und ich darauf von mir.
35 Da ich sah, daß den Menelaos die Erinnerung an seine Unglücksfälle traurig gemacht hatte, und auch Kleinias beym Andenken an den Charikles weinte, leitete ich, um sie von der Traurigkeit abzuziehen und ihr Gemüth zu erheitern, ein Liebesgespräch ein. Leukippe war eben nicht zugegen; sie schlief in einem abgelegenen Gemache des Schiffes. Lächelnd sagte ich nun zu ihnen: „Wie sehr ist mir jetzt Kleinias überlegen! – er sollte, wie er gewöhnlich that, gegen die Weiber sprechen. – Jetzt hat er leicht reden, da er einen Gefährten seiner Liebe gefunden hat. Ich begreife aber nicht, wie jetzt die Liebe zum männlichen Geschlechte so sehr Eingang gefunden hat. –“ „Nun, ist sie nicht weit besser, als die andere Liebe?“ fragte Menelaos. „Denn die Jünglinge sind doch natürlicher und ungekünstelter, als die Weiber? und ihre Schönheit reizt mehr zum Vergnügen. –“ „Wie reizt sie mehr?“ fragte ich, „etwa dadurch, daß sie, wenn sie sich etwas blicken läßt, sogleich auch verschwindet, und sich dem Liebenden entzieht, wie das Getränk des Tantalos64? Denn es entflieht oft, und der Liebhaber geht hinweg, ohne genossen zu haben; eh’ er sich gesättigt hat, wird es ihm entrissen, und so kann er nicht vom Jünglinge weggehen, ohne Verdruß bey seinem Vergnügen zu empfinden, weil er ihn ohne Befriedigung verläßt.“
36 „Du weißt nicht, Kleitophon,“ erwiederte Menelaos, „worin das Vergnügen eigentlich besteht. Alles, was uns keine Befriedigung gewährt, erweckt Verlangen in uns; was uns einen längern Genuß verschafft, läßt durch Ueberdruß das Vergnügen schwinden; was aber schnell entflieht, ist immer neu, und blüht immer mehr: denn sein Vergnügen veraltet nie, und so viel bey andern Dingen durch die Zeit vermindert wird, um so mehr wächst es durch Sehnsucht; und daher ist auch die Rose unter allen Blumen die schönste, weil ihre Schönheit schnell entflieht.“ „Ich nehme an, daß sich zwey Schönheiten unter den Menschen finden: die himmlische, und die irdische; wir empfangen sie von den Göttern. Der himmlischen Schönheit ist die Verbindung mit der sterblichen lästig; sie sucht eilig zum Himmel zu fliehen; die gemeine aber liegt hier unten auf der Erde, und veraltet am Körper. Soll ich dir noch einen Dichter zur Bestätigung der himmlischen Schönheit anführen, so höre, was Homer sagt:
Ihn65 auch raubten die Götter, der Schönheit wegen, damit er
Unter ihnen verweil’ und den Zeus beym Trinken bediene.
Aber noch kein Weib – Zeus hatte ja auch mit Weibern Gemeinschaft – ist wegen ihrer Schönheit in den Himmel gestiegen; sondern Alkmenen66 wurde Trauer und Flucht zu Theil, Danaen67 eine Kiste und das Meer, und Semele68 wurde ein Raub des Feuers. Aber wenn er einen phrygischen Knaben liebt, so beschenkt er ihn mit dem Himmel, damit er bey ihm wohne und ihm Nektar einschenke; die69 aber, die zuerst diese Würde versah, wurde verstoßen; denn sie war, dünkt mich, ein Weib.“
37 „Aber ich glaube,“ versetzte ich, „daß die Schönheit der Weiber um so himmlischer ist, weil sie nicht so schnell vernichtet wird; denn das Unvergängliche ist mit dem Göttlichen verwandt; das aber, was sich verändert und verschwindet, hat eine sterbliche Natur, ist nicht himmlisch, sondern irdisch und gemein. Zeus liebte den Phrygischen Knaben, und nahm ihn in den Himmel auf; die Schönheit der Weiber aber hat ihn selbst vom Himmel herabgezogen. Eines Weibes wegen70 brüllte einst Zeus; eines Weibes wegen71 tanzte er als Satyr, und einem Weibe72 zu Gefallen verwandelte er sich in Gold. Ganymedes mag immer Weinschenk seyn, und unter den Göttern mag sich auch Hera73, ein Weib, von dem Knaben bedienen lassen; aber bedenke seine Entführung; ja ich bedaure ihn! ein wilder Vogel stieg zu ihm herab; der geraubte wurde gemißhandelt, und gleichsam tyrannisirt; es ist gewiß ein schmähliger Anblick, einen Knaben an Klauen hängen zu sehen. Semele hingegen wurde nicht durch einen Raubvogel, sondern durch Flammen in den Himmel geführt; und wundere dich nicht, daß man durch Feuer in den Himmel steigen kann; denn so stieg auch Herakles74 empor. Wenn du über die Kiste der Danae lachst, warum willst du Perseus75 verschweigen? Alkmene begnügte sich nur mit dem Geschenke, daß ihretwegen Zeus die Sonne drey ganze Tage76 verbarg. Soll ich von den Mythen schweigen, und vom Vergnügen selbst sprechen, das man beym Genuß empfindet, so bin ich zwar noch ein Neuling in der Frauenliebe, und habe hierin nur so viel Erfahrung gemacht, als man bey Freuden-Mädchen machen kann; ein anderer, der in den vollkommenen Liebesgenuß schon eingeweiht ist, würde vielleicht mehr sagen können; doch will ich mit meiner geringen Erfahrung auftreten. Die Weiber haben zur Umarmung einen weichen Körper, und zum Küssen zarte Lippen; und die Weichheit ihres Fleisches macht, daß sich ihr Körper ganz in die Arme fügt. Den Liebhaber umschließt die Lust; er drückt den Lippen Küsse, wie Siegel, auf. Sie küßt aber mit einer gewissen Kunst, und macht die Küsse süßer; denn sie will nicht allein mit den Lippen küssen, sondern auch ihre Zähne nehmen am Liebeskampf Antheil; denn mit ihnen bricht sie gleichsam die Küsse ab, und nährt sich vom Munde des Liebenden. Auch gewährt es ein besonderes Vergnügen, den Busen zu betasten. Im höchsten Liebesgenusse wüthet sie vor Entzücken, haucht mit offenem Mund unter Küssen, und ist außer sich. Die Zungen berühren sich wechselseitig und streben, sich nach Vermögen zu küssen: denn mit geöffnetem Munde zu küssen, ist eine süßere Lust. Im höchsten Rausche athmet das Weib vor heißer Lust; der Athem geht mit dem Liebeshauche bis zu den Lippen des Mundes hinauf, und trifft mit dem irrenden Kusse, der eben hinabzusteigen strebt, zusammen. Der Kuß vermischt sich mit dem Hauche, kehrt mit ihm zurück und trifft das Herz; dieses schlägt, durch den Kuß erschreckt, empor; und wenn es nicht mit den Eingeweiden verbunden wäre, so würde es von den Küssen angezogen ihnen folgen. Die Küsse der Jünglinge hingegen sind kunstlos, ihre Umarmungen ungeschickt, der Genuß ist bey ihnen roh und führt nichts von Lust bey sich.“
38 Darauf erwiederte Menelaos: „Nicht ein Neuling, sondern ein Greis scheinst du mir in der Liebe zu seyn: so viel hast du uns von den Künsteleyen der Weiber erzählt; nun höre auch mich auf meiner Seite von den Knaben sprechen. Bey den Weibern ist alles künstlich gebildet, ihre Reden und ihr Anstand; und wenn auch ein Weib schön zu seyn scheint, so ist es doch nur der kostspielige Aufwand von Salben, und ihre Schönheit liegt entweder in den Salben, oder in der Farbe der Haare, oder auch in Küssen. Entblößt man sie von diesen sinnreichen Verschönerungsmitteln, so gleichen sie der Krähe, der man nach der Fabel die Federn ausrupfte. Die Schönheit der Knaben aber ist nicht mit dem Dufte der Salben benetzt, noch mit künstlichen, fremden Wohlgerüchen angefüllt; schöner noch, als alle Salbung der Weiber, duftet der Schweiß der Knaben. Dazu kömmt, daß man sie auch auf dem Ringplatze umfassen und öffentlich umarmen kann, ohne daß man sich zu schämen braucht. Auch sind es nicht die weichlichen Umarmungen eines schlüpfrigen Körpers, sondern die Körper widerstehen einander und kämpfen um die Lust. Ihre Küsse haben nichts von der weiblichen Künsteley, und täuschen die Lippen nicht mit einem thörichten Betruge. Der Knabe küßt, wie er kann; und es sind nicht Küsse der Kunst, sondern der Natur. Wenn Nektar gerönne und zu einer Lippe würde, so würde er das Bild der Knabenküsse darstellen. Du kannst dich im Küssen nicht sättigen, sondern, so viel du ihm auch giebst, so fühlst du doch immer noch einen Durst, ihn zu küssen, und wirst den Mund nicht eher abziehen, bis du etwa aus übergroßer Lust die Küsse selbst fliehest.“
Anmerkungen
39 Homer, einer der ältesten griechischen Dichter, unter dessen Nahmen sich zwey epische Gedichte: die Iliade, von den Begebenheiten des Achilles vor Troja, und die Odyssee, von den Irrfahrten des Ulysses oder Odysseus, erhalten haben.
40 Dionysos, der Bacchus der Römer, der Erfinder des Weins, daher er auch den Nahmen Protrygaios führt, von τρυγᾶν, die Trauben lesen.
41 Cadmos, Agenors Sohn, ein Phönizier, erbaute Cadmea, nachher Theben genannt. Man schreibt ihm außer der Einführung der Buchstabenschrift in Griechenland noch mehrere Erfindungen zu.
42 Biblischer Weinstock von der Biblischen Gegend in Thrakien, in Griechenland. In eben dieser Landschaft am Meere wurde der Maronische Wein gebaut, einer der ältesten und besten, der vom Maron, dem Enkel des Bacchos, diesen Nahmen erhalten hatte.
43 Einer der vorzüglichsten Weine von der Insel Chios im Aegeischen Meere; Lakaine, oder Lakedaimon, eine Stadt auf der Insel Kypros, woselbst Chier Wein gebaut wurde.
44 Ikaros, ein Einwohner von Attika, bewirthete die benachbarten Hirten mit Wein, den er vom Bacchos empfangen hatte; diese wurden betrunken, glaubten, er habe ihnen Gift gegeben, und ermordeten ihn.
45 Krater, ein großes Gefäß zur Mischung des Weins mit Wasser.
46 Glaukos, einer der berühmtesten Künstler des Alterthums.
47 Eine Betheuerungsformel bey den Griechen; unser: bey Gott!
48 Herkules, ein Sohn des Zeus und der Alkmene, ward wegen des am Iphitus begangenen Mordes als Sklave an die Omphale, die Tochter des Königs Jardanus in Mäonien verkauft; und zwischen beyden entspann sich ein Liebesverhältniß.
49 Hermes, der Gott der Kaufleute, soll nach der Erzählung einiger Schriftsteller den Herkules an die Omphale wirklich verkauft haben. Kleitophon will sagen, der Liebesgott hab‘ ihn ihr zum Sklaven gemacht; Leukippe deutet dieses aber scherzhaft auf den Hermes.
50 Aphrodite (die aus dem Schaum Hervorgegangene), die Venus der Römer, und Göttin der Liebe.
51 Vor der Hochzeit wurde der Here Zygia, oder Teleia, Juno pronuba, der Vorsteherin der Ehe, ein Opfer gebracht.
52 Hephaistos, Vulkanus bey den Römern, der Gott des Feuers und der Schmiedekunst. – Pallas, Minvera der Römer, die Göttin des Kriegs, der Wissenschaften etc. Ihr war der Oelbaum, den sie selbst hervorgebracht haben soll, geheiligt.
53 Die Palme heißt griechisch: Phönix (φοῖνιξ).
54 In Spanien.
55 Plektron, das Stäbchen, womit man die Saiten der Githarre schlug.
56 Kassia, eine gewürzhafte Rinde, wie Zimmet.
57 Rhesos, der Anführer der Thrakier vor Troja, von dessen Pferden Dolon beym Homer sagt:
Dessen Pferde, die schönsten und größesten, hab’ ich gesehen;
Sie sind weißer, als Schnee, und im Laufen dem Wind zu vergleichen.
58 Konops heißt nach dem Griechischen die Mücke.
59 Prometheus, der Sohn des Japetos, eines Titanen, und der Klymene, bildete selbst Menschen aus Lehm und Wasser; brachte Feuer und viele Künste unter das Menschengeschlecht: Symbol der List, Klugheit und der Vorsicht.
60 Salpinx, ein gewundenes Instrument bey den Alten, ohngefähr unsere Trompete.
61 Odysseus, einer der Griechischen Helden vor Troja, der so wohl hier, als auch vorzüglich beym Polyphemos, und da er nach Hause gekehrt, seine Gattin Penelope von Freyern umringt sah, großen Muth, List und Kühnheit bezeugte.
62 Heroen, Halbgötter, die eine Gottheit zum Vater oder zur Mutter hatten.
63 Bezieht sich auf ein Griechisches Sprichwort: zum Vorwande den Patroklos beweinen, für: einer andern Ursache wegen weinen, irgend etwas zum Vorwande der Thränen brauchen. Die gefangenen Trojanerinnen mußten, der Sitte der Griechen gemäß, beym Leichenbegängnisse des Patroklos weinen und jammern; sie weinten aber nicht über ihn, sondern über ihr eignes Unglück.
64 Tantalos, Pelops Vater, verrieth die Geheimnisse der Götter, und wurde dafür damit bestraft, daß er immer im Wasser stand, und das Wasser, wenn er trinken wollte, entfloh.
65 Den Ganymedes, einen Troischen Prinzen aus Phrygien, den Zeus durch seinen Adler (nach andern verwandelte er sich selbst in einen Adler) rauben ließ.
66 Alkmene, die Gemahlin des Amphitruo, gebahr dem Zeus den Herakles. Zeus blieb drey Tage und drey Nächte bey ihr.
67 Danae wurde von ihrem Vater, Akrisios, Könige zu Argos, in einem Gefängnisse bewahrt, um sie von allem Umgange mit dem männlichen Geschlechte entfernt zu halten: denn nach dem Orakel sollte er von seinem Enkel getödtet werden. Zeus aber ließ sich in einem goldenen Regen zu ihr herab, und beschlief sie. Ihr Vater tödtete ihre Amme, und setzte sie mit ihrem Sohne, Perseus, in einem Kasten auf das Meer.
68 Cadmos Tochter, ward vom Jupiter schwanger, und ließ sich von Heren, Zeus Gemahlin, die sich ihr in der Gestalt eines alten Weibes nahte, bethören, sich zum Beweise, daß sie wirklich vom Höchsten der Götter beschwängert sey, vom Zeus auszubitten, daß er ihr so nahen möchte, wie er seiner Gattin zu nahen pflege. Zeus hatte ihr vorher durch einen Schwur versichert, ihre Bitte, worin sie auch bestehe, zu erfüllen, und trat daher mit Donner und Blitz in Semele’s Haus. Das ganze Haus gerieth in Flammen, und Semele, noch schwanger, wurde ein Raub derselben. Zeus rettete jedoch noch ihre Geburth, den Bakchos, und verbarg ihn in seiner Hüfte.
69 Hebe, die Göttin der Jugend, nachher Herakles Gemahlin.
70 Um Europen zu entführen, verwandelte er sich in einen Stier. S. Anm. 2) zu S. 2.
71 Zeus verwandelte sich in einen Satyr (die Satyre werden als leichtfertige und flüchtige Gottheiten dargestellt, die immer tanzen und springen) und nahte Antiopen, Nykteus Tochter.
72 Um Danaen zu beschlafen; s. S. 100. Not. 3).
73 Eine feine, spottende Bemerkung: Zeus hatte vielleicht deswegen den Ganymedes in den Olymp, die Wohnung der Götter gebracht, um seiner Gattin einen schönen Jüngling zuzuführen; denn die Königin mußte sich öfters gefallen lassen, daß Zeus vom Olymp herab zu den sterblichen Mädchen stieg.
74 Herakles, vom Gewande, das ihm die eifersüchtige Deianira geschickt hatte, vergiftet, ließ sich auf dem Berge Oeta in Griechenland verbrennen. Zeus bewirkte aber bey den andern Göttern, daß er dann in den Himmel aufgenommen werde.
75 Perseus, den Danae dem Zeus gebahr, wurde vom Akrisios mit seiner Mutter in einem Kasten auf die Wogen des Meeres gesetzt.
76 Zeus blieb drey Tage und drey Nächte bey Alkmenen; und um es nicht bemerkbar zu machen, ließ er dreymahl die Sonne nicht scheinen; aus diesem Beyschlafe gieng der kräftige Herakles (Herkules) hervor.
