3. Buch

Ornament

Übersetzung

1 Als wir drey Tage geschifft waren, verfinsterte den hellen Himmel eine plötzliche Dunkelheit, die das Licht des Tages verlöschte. Vom Meere aus erhob sich der Wind, stieß gerade gegen das Schiff, und der Steuermann befahl, die Segelstange umzudrehen. Eilig thaten es die Schiffer. Auf der einen Seite faßten sie mit Gewalt das Segeltuch und zogen es auf die Segelstange herauf; auf der andern aber mußten sie es in der vorigen Lage lassen: denn vor dem immer heftiger andringenden Winde vermochten sie nicht, sie umzudrehen. Auf der Seite, wo die Segelstange nach dem Winde herumgedreht war, neigte sich schwankend der untere hohle Theil des Schiffes, und auf der andern Seite stieg es empor, und lag ganz schräg, so daß die meisten von uns befürchteten, das Schiff möchte sich bey einfallendem Winde mit einem Mahl umkehren. Wir wanderten mit unsern Sachen auf den emporgehobenen Theil des Schiffes, um es auf der einen Seite, wo es niedergesenkt war, wieder emporzurichten, und auf der andern durch unsere Schwere niederzudrücken, und so wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Dieß war jedoch umsonst; denn der aufgerichtete Boden des Schiffes hob uns, anstatt sich niederzusenken, vielmehr empor. Indeß versuchten wir noch einige Zeit, das schwankende Schiff ins Gleichgewicht niederzudrücken. Plötzlich aber wendete sich der Wind nach dem andern Theile des Schiffes hin, und tauchte es beynahe unter. Der eine Theil, der sich bisher in die Fluthen geneigt hatte, sprang mit einem heftigen Stoß in die Höhe, und der andere stürzte, so wie jener emporsprang, in die Fluthen nieder. Dadurch entstand ein großes Wehklagen im Schiffe. Man verließ seinen Sitz und lief mit Geschrey zu dem vorigen. So wurden wir über drey-, viermahl, wie das Schiff, unstät umhergetrieben; und ehe wir die erste Wanderschaft vollendet hatten, nöthigte uns ein plötzlicher Fall zu einer zweyten.

2 Den ganzen Tag trugen wir uns so mit unsern Sachen im Schiff herum, und giengen wohl doppelt denselben Gang unter unsäglichen Mühen, immer den Tod vor Augen, der uns, wie leicht einzusehen ist, sehr nahe bedrohete. Zu Mittag verschwand die Sonne ganz und gar, und nur wie im Mondenscheine konnten wir einander sehen. Vom Himmel flog Feuer herab, donnernd brüllte der Himmel, die Luft erfüllte ein dumpfes Geprassel, und von unten tönte ihm der Aufruhr der Fluthen gräßlich entgegen. Zwischen dem Himmel und dem Meere sauste und rauschte der Wind, mit sich selbst kämpfend; die Luft hatte den Schall der Salpinx, die Taue fielen um das Segeltuch, und schlugen zischend an einander. Schon war das Breterwerk zertrümmert, und wir waren in Furcht, der Bauch des Schiffes möchte sich öffnen, so bald sich die Nägel ablösten. Es überströmte uns auch noch ein starker Regen; wir breiteten daher eine Decke über das ganze Schiff aus, begaben uns unter die Bedeckung und verweilten da, wie in einer Höhle, ganz dem Schicksale hingegeben; denn schon schien uns alle Hoffnung verschwunden. Dreyfach anstürzende Wogen schlugen von allen Seiten, am Schnabel und am Hintertheil des Schiffes, an einander. Das Schiff stieg immer gegen das aufgethürmte Meer empor, und senkte sich gegen die abfließenden, niedrigen Ströme. Einige glichen den Bergen, andere den Schlünden. Noch furchtbarer waren die von beyden Seiten andringenden schrägen Wogen; denn das Meer stieg gegen das Schiff empor, wälzte sich durch das Obdach, und überströmte es ganz. Die zu den Wolken emporgehobene Fluth, erschien uns von der Ferne so groß, wie das Schiff; betrachtete man sie aber in der Nähe, so glaubte man, sie würde das Schiff verschlingen. Wind und Fluthen kämpften mit einander, und wir konnten nicht auf der Stelle bleiben: so sehr erschütterten sie das Schiff. Alles schrie durch einander; die Fluth brauste, der Wind rauschte; das Wehklagen der Weiber, das laute Schreyen der Männer; der Zuruf der Schiffer, überall nur Geheul und Geseufze. Der Steuermann befahl, die Ladung abzuwerfen; da sonderten wir nicht erst Silber und Gold vom Geringern ab, sondern warfen alles ohne Unterschied aus dem Schiffe. Viele Kaufleute nahmen sogar ihre Schätze, noch ihre einzige Hoffnung, und stießen sie eilig fort. Schon war das Schiff der Ladung entblößt, der Sturm aber noch nicht versöhnt.

3 Endlich warf der Steuermann aus Verzweifelung das Steuerruder aus der Hand, überließ das Schiff der Gewalt des Meeres, rüstete schon das Boot aus, befahl den Schiffern hineinzusteigen, und stieg zuerst von der Leiter herunter; jene aber sprangen gerade herab. Hier entstand nun ein neues Uebel; denn man wurde bald handgemein. Die herabgestiegen waren, schnitten das Tau ab, durch welches das Boot mit dem Schiffe verbunden war, und ein jeder von den Schiffern eilte, dem Steuermanne, wohin er das Tau zog, nachzuspringen. Die sich aber auf dem Boote befanden, ließen sie nicht hineinsteigen; ja sie drohten denen, die herabsteigen würden, mit Beilen und Messern. Die meisten auf dem Schiffe rüsteten sich, womit sie konnten; der eine ergriff ein Stück von dem alten Ruder, der andere von einer Ruderbank, und vertheidigte sich damit: denn das Meer machte die Gewalt zum Gesetze. Es war eine neue Art von Seeschlacht: die auf dem Boote schlugen, weil sie besorgten, es möchte durch den Haufen der Hineinsteigenden untersinken, mit Beilen und Schwerdtern nach den Herabspringenden; und diese hieben zugleich im Herabspringen mit Keulen und Rudern auf sie. Einige berührten kaum den Rand des Schiffs, und gleiteten heraus; andere kämpften, auch da sie noch in das Boot stiegen, mit denen, die sich schon darin befanden; denn es band sie keine Freundschaft, keine Achtung mehr, sondern ein jeder war nur auf seine eigene Sicherheit bedacht; und auf Menschlichkeit nahm man keine Rücksicht. So lösten große Gefahren auch die Banden der Freundschaft.

4 Unterdessen ergriff ein starker Jüngling auf dem Schiffe das Tau, und zog das Boot herbey. Es war dem Schiffe schon nahe, und ein jeder machte sich bereit, so bald es sich ganz nähern würde, darauf zu springen. Zwey oder drey erreichten es auch glücklich, ohne verwundet zu werden; viele aber, die es versuchten, herabzuspringen, stürzten ins Meer herab. Eilig schnitten die Schiffer das Tau ab, befreyten so das Boot, und fuhren, wohin sie der Wind trieb. Die auf dem Schiffe versuchten das Boot zu versenken; das Schiff stürzte aber vorwärts, und warf sich in den Fluthen umher. Unvermerkt wurde es an eine Meeresklippe getrieben und ganz zertrümmert. Indem das Schiff daran stieß, fiel der Mastbaum auf die andere Seite, und einiges vom Schiffe wurde zerschlagen, anderes versenkt. Die in der Meersfluth gleich umkamen, hatten ein weit erträglicheres Loos, da sie die Furcht des Todes nicht so lange quälte. Der langsame Tod auf dem Meere tödtet vorher, ehe man selbst stirbt. Das Auge, von der Unermeßlichkeit des Meeres erfüllt, dehnt die Furcht ins Gränzenlose aus, und macht so den Tod zu einem doppelten Unglück; so groß der Umfang des Meeres ist, so groß ist auch die Furcht vor dem Tode. Einige versuchten zu schwimmen, wurden aber von der Fluth an dem Felsen zerschmettert, und kamen um; viele warfen sich auf losgerissene Balken, und schwammen, wie die Fische; andere wurden schon halbtodt herumgetrieben.

5 Als das Schiff scheiterte, waren wir so glücklich, ein Stück vom Vordertheile zu retten. Ich und Leukippe setzten uns darauf, und wurden nach dem Strome des Meeres zu fortgeführt. Menelaos und Satyros mit den andern auf dem Schiffe trafen auf den Mastbaum, warfen sich darauf, und schifften so fort. Nahe neben uns sahen wir den Kleinias um die Segelstange herumschwimmen, und hörten ihn uns zurufen: „fasse das Holz, Kleitophon!“ Kaum hatte er aber dieses gesagt, so überdeckte ihn von hinten eine Woge, und wir weinten laut. Auch zu uns strömte die Woge herbey; aber durch einen glücklichen Zufall lief sie, als sie sich uns näherte, unterhalb vorbey, so daß bloß das Holz in die Höhe gehoben wurde und über den Nacken der Wolke emporstieg. Jetzt sahen wir auch den Kleinias wieder. Seufzend sagte ich dann: „Erbarme dich unsrer, o Gebiether Poseidon77; hemme deine Gewalt gegen die Ueberbleibsel aus dem Schiffbruche; wir haben schon oft den Tod durch die Furcht bestanden; aber willst du uns tödten, so laß uns vereint sterben; eine Woge mag uns überdecken; und, wenn es das Schicksal so beschlossen hat, daß wir ein Raub der Thiere werden sollen, so mag uns ein Fisch verzehren, ein Magen uns aufnehmen, um auch in den Fischen ein gemeinschaftliches Begräbniß zu finden.“ Bald nach diesem Gebethe ließ das Ungestüm des Windes nach, und die Wildheit der Fluth legte sich. Das Meer war mit todten Körpern angefüllt. Den Menelaos mit seinen Gefährten hatte die Woge schneller an das Land geführt, und zwar an die Küste Aegyptens, wo damahls die ganze Gegend umher von Räubern bewohnt war. Gegen Abend gelangten wir zufälliger Weise nach Pelusion78, und erreichten so unter frohen Danksagungen an die Götter das Land. Darauf bejammerten wir den Kleinias und Satyros; denn wir glaubten, sie wären umgekommen.

6 In Pelusion befindet sich ein heiliges Bildniß des Kasischen Zeus79. Zeus ist als Jüngling abgebildet und gleicht dem Apollon; so jugendlich blühend ist er dargestellt. Er streckt die Hand aus, in welcher er einen Granatapfel hält; dieß hat einen mystischen Sinn. Wir giengen im Tempel herum, flehten zu dem Gott und bathen uns ein Zeichen über den Kleinias und Satyros aus; denn man hatte uns gesagt, der Gott weißage. Im Hintertheile des Tempels sahen wir ein doppeltes Bild vom Mahler Euanthes. Das eine stellte die Andromeda80 und das andere den Prometheus81, beyde gefesselt, dar; daher, vermuthe ich, hat sie auch der Mahler in einer Gruppe zusammengestellt. Die Gemählde waren auch in Rücksicht auf das übrige verschwistert: beyden dienten Felsen zum Gefängnisse, beyden wilde Thiere zu Peinigern; der einen jedoch ein Meerthier, und dem andern ein Vogel. Zwey verwandte Argaier standen bey ihnen als Helfer; beym Prometheus Herakles, und bey der Andromeda Perseus. Jener schoß Pfeile auf Zeus Vogel, und dieser kämpfte mit dem Ungeheuer des Poseidaon; aber der eine stand mit dem Bogen auf der Erde, und der andere hieng mit den Flügeln in der Luft.

7 Der Felsen war nach Verhältniß der Größe des Mädchens ausgehöhlt, und zwar so natürlich, daß ihn niemand für gemahlt halten würde; denn der Mahler hatte die Höhlung des Steines so rauh gemacht, wie ihn die Erde bildet. Das Mädchen war in die Mauer gestellt, und das Bild both, wenn man auf seine Schönheit sah, einen ungewöhnlichen Anblick dar; betrachtete man aber die Fesseln und das Thier, so glich es einem nur obenhin und roh gemachten Begräbnisse. Auf ihrem Gesichte war Schönheit mit Furcht gemischt. Die Furcht saß auf den Wangen, und die Schönheit blickte aus ihren Augen hervor. Aber die Bleichheit der Wangen war nicht ganz ohne Purpur, sondern tauchte sich allmählig in Röthe. Auch die Blüthe des Auges war noch ohne Trauer und Gram, und glich dem eben verwelkenden Veilchen. So hatte sie der Mahler mit einer schönen Furcht geschmückt. Ihre Arme waren auf den Felsen gespannt, die Fessel hielt sie an dem Felsen gebunden empor, und die Hand hieng, wie die Traube am Weinstock, herab. Ihre Arme waren ganz weiß und giengen in das Blauliche über; ihre Finger schienen abzusterben. Gefesselt erwartete sie den Tod und stand da, wie eine Braut gekleidet, mit einem langen Gewande, welches weiß und von so zartem Gewebe war, daß es dem Gewebe der Spinnen glich. Es war nicht, wie das Gewebe von Wolle der Thiere, sondern wie es die Indischen Weiber bereiten, aus der Wolle der Schmetterlinge, die sie von den Bäumen winden. Das Thier stieg, gegen das Mädchen gekehrt, von unten herauf, und öffnete das Meer. Der größte Theil seines Körpers war von den Fluthen überströmt, und nur mit dem Kopf erhob es sich aus dem Meer. Unterhalb der Fluth schimmerte der Schatten hervor; man sah die Erhebung der Schatten hervor; man sah die Erhebung der Schuppen, die Krümmungen des Nackens, die hervorstehenden Stacheln, die Windungen des Schwanzes, und den großen, breiten Kinnbacken. Sein Rachen war bis zu den Schultern geöffnet, und stieß unmittelbar an den Magen. Perseus war zwischen dem Thier und dem Mädchen gemahlt, als wenn er aus der Luft herabstieg. Er ließ sich zu dem Thier herab ganz unbewaffnet; bloß seine Schultern umgab ein Gewand, und an seinen Füßen waren Schuhe befestigt, die den Flügeln glichen. Ein Hut, gleich dem Helme des Aides82, bedeckte seinen Kopf; in der Linken hielt er das Haupt der Gorgo83, das er, wie ein Schild, vor sich hielt. Die Gorgo war furchtbar dargestellt; sie breitete ihre Augen aus, sträubte das Haar der Schläfen empor, und regte die Schlangen auf: so drohte sie selbst im Gemählde. Seine Rechte war mit einem dreyfachen Eisen gerüstet, das sich in eine Sichel und in ein Schwerdt theilte. Beyde liefen unten von eine Spitze aus, und das Schwerdt gieng bis zur Hälfte des Eisens; von da aber brach es sich in zwey Theile; der eine spitzte sich, und der andere war gekrümmt. Der zugespitzte Theil blieb Schwerdt, wie an dem ersten Ende; der gekrümmte aber formte sich zur Sichel, so daß es auf einen Hieb mit dem einem Theile die Wunde eindrückte, mit dem andern sie festhielt.

8 Auf die Andromeda folgte das Gemählde des Prometheus. Er war durch Eisen am Felsen gefesselt, und Herakles mit Bogen und Speer bewaffnet. Der Vogel verzehrte begierig seinen Magen, riß ihn auf, und sein Schnabel wühlte in den schon geöffneten Theilen. Er schien die Wunde aufzugraben und die Leber zu suchen; diese war so weit sichtbar, so weit der Mahler die Höhlung der Wunde geöffnet hatte. Der Vogel stützte die Spitzen seiner Klauen in die Hüfte des Prometheus; dieser krümmte sich vor Schmerz, zog seine Seite zusammen und hob die Hüfte zu seinem eigenen Schaden empor: denn dadurch zog er den Vogel näher zur Leber hin. Die andere Hüfte lieft mit den Füßen nach unten zu gerade aus, und war bis zu den Zähen ausgedehnt. Seine übrige Stellung deutete auf seinen Schmerz. Er runzelte die Augenbrauen, biß die Lippen zusammen und zeigte die Zähne, so daß das Gemählde durch den Kampf des Schmerzes Mitleiden einflößte. Herakles kömmt dem Verlassenen zu Hülfe. Er steht und schießt auf den Henker des Prometheus; auf seinem Bogen liegt ein Pfeil bereit; mit der linken Hand streckt er den Bogen aus, und stößt ihn von sich; die Rechte zieht er nach der Brust zu, und krümmt im Anziehen der Sehne hinten seinen Arm. Alles geschieht in einem Momente; er krümmt den Bogen, die Sehne und die Rechte: den Bogen durch die Sehne, die Sehne durch die Hand, und die Hand neigt sich an die Brust. Prometheus ist zugleich mit Hoffnung und Furcht erfüllt, und blickt bald auf die Wunde, bald auf den Herakles; er bestrebt sich, ihn gerade anzusehen; aber der Schmerz zieht die Hälfte des Blicks zurück.

9 Nachdem wir uns hier zwey Tage aufgehalten und von unsern Leiden erhohlt hatten, mietheten wir von dem Gelde, das wir noch im Gürtel hatten, ein Aegyptisches Schiff, und nahmen unsere Fahrt auf dem Nil nach Alexandrien; hier beschlossen wir vorzüglich deswegen zu verweilen, weil wir glaubten, unsere Freunde, wenn sie etwa das Land erreicht hätten, dort am ersten wieder zu finden. In der Nähe einer Stadt hörten wir plötzlich ein starkes Geschrey, und der Schiffer drehte mit dem Ausruf: der Hirt!84 das Schiff um, um wieder zurückzufahren; aber sogleich war das Land mit furchtbaren, wilden Menschen angefüllt. Sie waren alle groß und schwarz von Farbe; nicht ganz, wie die Inder, sondern wie unächte Aethiopier; ihr Kopf war kahl, ihre Füße dünn und klein, der Körper dick, und alle redeten eine fremde Sprache. Der Steuermann hielt mit den Worten: wir sind verlohren! das Schiff an; denn der Fluß war hier sehr schmal. Vier Räuber stiegen in das Schiff, und nahmen alles auf dem Schiffe mit, auch unser Geld. Uns selbst banden sie, schlossen uns in eine Wohnung ein, und giengen fort, nachdem sie unser Wächter zurückgelassen hatten, um uns den folgenden Tag zum Könige zu führen; so nannten sie den ersten unter den Räubern; bis dorthin war, wie wir von unser Mitgefangenen hörten, ein Weg von zwey Tagen.

10 Die Nacht, als die Wächter schliefen und wir gefesselt da lagen, bracht’ ich mit Klagen über Leukippens Schicksal zu. Ich bedachte bey mir, wie viel Unglück ich ihr schon zubereitet habe, seufzte tief in meiner Brust, und sagte, nur leise wehklagend: „O ihr Götter und Dämonen! wenn ihr irgend wo seyd und mich hört, was haben wir so sehr verschuldet, daß sich in wenig Tagen ein solcher Strom von Unglück über uns wälzt? Und jetzt gebt ihr uns noch Aegyptischen Räubern in die Hände, damit sich niemand unserer erbarme. Einen Griechischen Räuber kann doch noch die Stimme erschüttern und das Bitten erweichen; denn die Rede erweckt oft Mitleiden; die Zunge, welche dem Schmerze der Seele zu Hülfe kömmt, um das Gemüth der Hörenden zu erweichen, besänftigt den Zorn. Aber welcher Stimme sollen wir uns jetzt bedienen? Welche Eyde sollen wir schwören? Und besäße jemand mehr Ueberredungskraft, als selbst die Sirenen, der Mörder würde ihn doch nicht hören. Und so bleibt mir nichts übrig, als durch Winke sie anzuflehen, ihnen durch die Bewegung der Hände mein Anliegen, mein Flehen sichtbar zu machen. So will ich nun mein Spiel des Wehklagens85 beginnen. Meine Zufälle, und wären sie auch ein Uebermaas von Unglück, schmerzen mich weniger, als die deinen, Leukippe. Mit welchen Worten soll ich diese beklagen? Mit welchen Thränen sie beweinen? Du, die du dich selbst in den Leiden der Liebe treu, und gegen deinen unglücklichen Liebhaber edel bezeugst – Wie schön sind die Zurüstungen und Ausschmückungen deiner Hochzeit? Dein Brautgemach ist das Gefängniß; dein Bett die Erde, deine Armbänder und Ringe sind Taue und Stricke, und neben dir sitzt als Brautführer – ein Räuber. Wer wird dir anstatt des Hochzeitgesanges die Trauermelodie anstimmen? – Ja, vergeblich war die gemeinschaftliche Danksagung, die wir dir, Meer, darbrachten; ich mache dir für deine Menschenliebe Vorwürfe; du warst gütiger gegen die, welche du getödtet hast; denn uns, die du errettetest, machtest du weit unglücklicher. Du warst so unbillig, uns nicht sterben zu lassen, bevor du uns den Händen der Räuber überliefertest.“

11 So klagte ich stillschweigend: weinen konnte ich aber nicht; dieß ist uns bey großen Unglücksfällen eigen. Bey mäßigem Unglücke fließen die Thränen reichlich herab; hier dienen sie den Leidenen dazu, die Züchtigenden um Schonung zu flehen, und sie erleichtern die Schmerzen der Unglücklichen, wie bey einer schwellenden Wunde. Aber bey übermäßigem Unglücke fliehen auch die Thränen und verlassen die Augen. Die Traurigkeit hemmt den Ausbruch der aufsteigenden Thränen, und führt sie mit sich hinab; so kehren sie von den Augen zurück, fließen in die Seele hinab, und machen ihre Wunde noch heftiger. Dann sagt’ ich zu Leukippen, die beständig schwieg: „warum schweigst du, Geliebteste? und sagst gar nichts zu mir? –“ „Ach!“ antwortete sie, „was könnt’ ich sprechen, Kleitophon, da mir vor der Seele die Stimme entwichen ist?“

12 Während wir so mit einander sprachen, überraschte uns der Morgen, und es kam ein Räuber zu Pferde, mit dickem, wildem Haare; auch sein Pferd hatte starke Mähnen; es war übrigens ohne Bedeckung und ohne allen Schmuck; so sind die Pferde der Räuber. „Ich komme vom Räuberanführer,“ sagte er; „wenn sich ein Mädchen unter den Gefangenen befindet, soll ich sie als Reinigungsopfer des Heeres wegführen.“ Sogleich wendete er sich zu Leukippen. Diese faßte mich an und hieng schreyend an mir. Die Räuber rissen sie von mir los, und schlugen auf mich; sie hoben sie in die Höhe und rissen sie weg; und aber führten sie dann in Fesseln langsam fort.

13 Zwey Stadien86 von jener Ortschaft hörten wir ein starkes Kriegsgeschrey und den Schall der Salpinx. Darauf erschien ein Kriegsheer von lauter Schwerbewaffneten. Sobald es die Räuber erblickten, nahmen sie uns in die Mitte und erwarteten die Anrückenden, um sich gegen sie zu vertheidigen; und nicht lange darauf standen funfzig Schwergerüstete vor uns, von denen einige lange Schilde hatten, andere mit kleinern Schilden bewaffnet waren. Die Räuber, die ihnen an Mannschaft überlegen waren, ergriffen Erdschollen und warfen die Krieger damit. Eine Aegyptische Erscholle ist gefährlicher, als jede andere; denn sie ist schwer, rauh und von spitzigen Steinen scharf, so daß sie an demselben Orte eine doppelte Wunde macht, einen Geschwulst, wie von einem Steine, und einen Ritz, wie von einem Pfeile. Die Soldaten fiengen die Steine mit den Schilden auf, und achteten die werfenden Feinde wenig. Als die Räuber des Werfens müde waren, öffneten die Krieger ihren Haufen, und leichtgerüstete Männer, von denen jeder eine Lanze und ein Schwerdt führte, sprangen aus den Schwergerüsteten hervor. Sie warfen zugleich mit Wurfspießen und keiner von ihnen fehlte. Darauf stürzten die Schwergerüsteten hinzu. Es entstand ein hartes Gefecht; von beyden Seiten wurde gehauen, verwundet und getödtet. Die Geschicklichkeit und Uebung ersetzte bey den Kriegern, was ihnen an Mannschaft abgieng. Wir Gefangene aber beobachteten sämmtlich den unterliegenden Theil der Räuber, schlugen uns mit vereinigter Macht durch ihren Trupp, und liefen zu den Feinden über. Die Krieger wollten uns anfangs aus Unwissenheit tödten; da sie uns aber ohne Rüstung und gefesselt sahen, vermutheten sie, wie es sich mit uns verhalten möchte, nahmen uns in die Ordnung der Schwergerüsteten auf, stellten uns in die hintern Glieder, und ließen uns in Ruhe. Unterdessen kamen auch die Reuter herbey, dehnten ihren Haufen nach den beyden Flügeln des Räubertrupps aus, umritten ihn rings, trieben ihn eng’ in einen Kreis zusammen, und hieben sie beynahe alle nieder; einige von ihnen lagen todt auf der Erde, andere kämpften noch halbtodt; die übrigen wurden gefangen genommen.

14 Es war schon Abend, als der Anführer einen jeden von uns einzeln vornahm, und fragte, wer er sey, und wie man ihn gefangen habe. Ein jeder erzählte seine Geschichte, auch ich sagte ihm die meinige. Darauf befahl er uns, ihm zu folgen, und er selbst versprach, uns Rüstung zu geben; denn er hatte beschlossen, auf das Heer zu warten, und die große Räuberbande, die aus 10,000 Mann bestehen sollte, anzugreifen. Ich bat mir ein Pferd aus, weil ich reiten gelernt hatte. Als ich es erhielt, ritt ich im Kreise herum, und zeigte in taktmäßiger Bewegung die Schwenkungen der Krieger so geschickt, daß selbst der Anführer meine Fertigkeit pries. Er zog mich diesen Tag zu Tische, erkundigte sich hier nach meinen Schicksalen, und nahm Antheil an meinen Leiden. Der Mensch ist, wenn er die Unglücksfälle anderer hört, aus einem gewissen Mitgefühle zum Mitleiden geneigt; und öfters bewirkt dieses Mitleiden Freundschaft. Die Seele wird erweicht, und, durch die Erzählung des Unglücks beynahe in dieselbe traurige Stimmung versetzt, ruft sie die Trauer zum Mitleiden und das Mitleiden zur Freundschaft auf. In eine solche Stimmung versetzte auch ich den Anführer, so daß er selbst weinte; aber weiter konnten wir nichts thun, denn Leukippe befand sich in den Händen der Räuber. Er gab mir auch einen Aegyptischen Sklaven, der meine Sachen besorgen sollte.

15 Den folgenden Tag rüstete er sich zum Aufbruche, und ließ einen Graben, der ihm hinderlich war, zuschütten. Auch die Räuber standen jenseits des Grabens mit einer sehr großen Macht gerüstet. Man sah einen Altar, den sie aus Lehm ganz roh hingeworfen hatten; neben ihm war ein Begräbniß; zwey führten ein Mädchen herbey, dem sie hinten die Hände gebunden hatten; wer sie selbst waren, konnte ich nicht sehen, denn die Rüstung bedeckte sie; in dem Mädchen aber erkannt’ ich Leukippen. Darauf gossen sie Trankopfer über ihr Haupt aus, und führten sie im Kreise um den Altar. Einer von ihnen blies dazu, und der Priester sang, wie es schien, ein Aegyptischens Lied; dieß konnten wir aus der verzogenen Gestalt seines Mundes und Gesichts schließen. Darauf entfernten sich alle nach einem gegebenen Zeichen weit vom Altar; einer von den Jünglingen legte sie rücklings nieder und band sie an Pflöcke, die in die Erde geschlagen waren, so wie die Wachsbildner den Marsyas87 an einen Baum gebunden darstellen; dann nahm er das Schwerdt und stieß es in das Herz: er zog hierauf durch den Unterleib und riß ihn auf. Sogleich sprangen die Eingeweide hervor, die man mit den Händen heraus zog und auf den Altar legte; dann bratete man sie, schnitt sie in Theile und verzehrte sie. Alles dieß sahen wir; die Krieger schrieen mit ihrem Anführer bey jeder dieser Handlungen laut auf, und wendeten ihren Blick von diesem Schauspiele weg. Ich war ganz ruhig dabey, und sah ohne Besinnung zu: so groß war meine Bestürzung; denn das übermäßige Unglück hatte mich wie ein Donnerschlag betäubt; und vielleicht ist die Fabel von der Niobe88 nicht ungegründet; vielleicht war sie beym Hinsterben ihrer Kinder in einer ähnlichen Stimmung, und gab durch ihr Erstarrtseyn zu der Meinung Veranlassung, sie sey in einen Stein verwandelt worden. Da die Handlung vorüber war, wie es mir wenigstens vorkam, legten sie den Körper in das Begräbniß, deckten es zu und giengen fort. Dann warfen sie den Altar um und flohen, ohne sich umzusehen; dieß hatte ihnen der Priester nach dem Orakel befohlen.

16 Gegen Abend war der ganze Graben zugeschüttet. Die Soldaten schlugen etwas oberhalb des Grabens ihr Lager auf, und waren mit der Mahlzeit beschäftigt. Der Anführer bemerkte meine Betrübniß und suchte mich zu trösten. Um die erste Nachtwache aber gieng ich, da ich alle schlafen sah, mit einem Schwerdt in der Hand nach dem Begräbnisse zu, um mich selbst darauf zu ermorden. Als ich ihm nahe war, streckte ich das Schwerdt aus, und sagte: „Unglückliche Leukippe! Ja, unglücklichste unter allen Menschen! ich beklage nicht allein deinen Tod, nicht, daß du in einem fremden Lande gestorben bist, nicht, daß man dich gewaltthätig ermordet hat, nicht, daß du so ein Spiel deines Unglücks geworden bist, sondern daß man dich als ein Reinigungsopfer für unreine Körper brauchte, und dich lebendig zerschnitt, indem du der ganzen Handlung des Schlachtens selbst zusahst; daß sie das Innerste deines Magens zerstückelten, und deinen geschlachteten Körper auf diesen verwünschten Altar, in diesen Sarg legten. Deinen Körper legten sie hierher, aber wo sind die Eingeweide? Wenn sie das Feuer verzehrt hätte, so wäre das Unglück geringer; so aber dienten sie Räubern zur Speise. O über die verhaßte Fackelerleuchtung auf dem Altare! o über die unerhörten Gebräuche, das Opferfleisch zu essen! Und die Götter sahen herab auf dieses Opfer, und das Feuer verlöschte nicht, sondern es stieg in wüthenden Flammen empor, und führte den Göttern den Opferdampf zu? Empfange nun von mir, Leukippe, das dir geziemende Todtenopfer.“

17 Bey diesen Worten hielt ich das Schwerdt empor, um es mir in die Brust zu stoßen, als ich beym Mondenschein eilig zwey Männer herbeylaufen sah. Ich hielt inne, weil ich sie für Räuber hielt, um unter ihren Händen zu sterben. Unterdessen kamen sie mir näher, und schrieen mir beyde zu. Es war Menelaos und Satyros; sie waren meine Freunde: unerwartet sah ich sie noch am Leben: und doch umarmt’ ich sie nicht – wurde nicht einmahl von Freude ergriffen: so gefühllos hatte mich die Trauer über mein Unglück gemacht. Sie ergriffen meine Rechte, und bemühten sich, mir das Schwerdt zu entreißen. Ich aber rief: „O bey den Göttern! versagt mir nicht den mir erwünschten Tod, das Heilmittel für mein Unglück; ich kann nicht mehr leben, wenn ihr mich auch zwingen wolltet, da mir Leukippe entrissen ist; dieses Schwerdt werdet ihr mir zwar entwinden; aber in meiner Brust steckt das Schwerdt der Trauer, und tödtet mich nach und nach. Wollt ihr mich an einer immerquälenden Wunde sterben lassen? –“ „Wenn du deßwegen sterben willst,“ sagte Menelaos, „so kannst du füglich das Schwerdt zurückhalten; Leukippe wird wieder aufleben. –“ Ich sah ihn an: „Wie? du verspottest mich noch bey einem solchen Unglücke?“ sagte ich, „o fürchte den Zeus! er schützt die Fremden. –“ Darauf sagte er: „Da du mir nicht glauben willst, Kleitophon, so sey du, Leukippe, mein Zeuge, daß du noch lebst;“ und stieß bey diesen Worten ein paar Mahl an den Sarg, und ich hörte von unten herauf eine sehr schwache Stimme. Sogleich ergriff mich ein Zittern; ich sah den Menelaos an und hielt ihn für einen Zauberer. Er öffnete den Sarg, und Leukippe stieg heraus; bey den Göttern! ein fürchterlicher, schauderhafter Anblick! Ihr ganzer Leib war geöffnet und der Eingeweide beraubt. Sie warf sich auf mich, umarmte mich; wir umschlossen uns fest und sanken beyde zur Erde.

18 Nachdem ich kaum wieder zu Besinnung gekommen war, fragte ich den Menelaos: „Bey Gott! sage mir, was ist das? seh’ ich nicht Leukippen? halt’ ich sie nicht in meinen Armen? hör’ ich sie nicht lallen? Was war das, was ich gestern sah? Entweder ist jenes, oder dieses ein Traum. Auch der Kuß ist wahrhaftig und lebend, und süß, wie ihn Leukippe giebt. –“ „Jetzt,“ sagte Menelaos, „wird sie auch die Eingeweide wieder bekommen; ihre Brust wird zusammenwachsen, und du wirst sie ohne Wunde sehen. Aber verhülle dein Gesicht; denn ich rufe die Hekate89 zu Hülfe. –“ Ich glaubte ihm und verhüllte mich. Er fieng mit seiner Wunderhandlung an und sprach einige Worte; zugleich nahm er das Blendwerk von Leukippen hinweg und stellte sie wieder her. Darauf sagte er mir: „“enthülle dich.“ Ich zog, obgleich mit Mühe und in Furcht – denn ich glaubte wirklich, Hekate sey zugegen – die Hände vom Gesicht hinweg, und sah Leukippen ganz und ohne Fehl. Darüber noch mehr erstaunt, fleht’ ich den Menelaos an: „“O geliebter Menelaos, wenn du ein Diener irgend eines Gottes bist, so beschwör’ ich dich; wo bin ich? was seh’ ich hier in aller Welt?“ Darauf sagte Leukippe: „“hör’ auf, Menelaos, ihn in Furcht zu setzen, und erzähle, wie du die Räuber getäuscht hast.“

19 Menelaos erzählte nun: „“Du weißt, daß ich von Geburth ein Aegyptier bin; dieß hab’ ich dir schon vorher auf dem Schiffe gesagt. Die meisten Besitzungen dieser Ortschaft und ihre Herrscher sind mir bekannt. Nach dem Schiffbruche trieb mich eine Woge an die Küsten von Aegypten. Ich wurde mit Satyros von den Räubern, die diese Gegend behaupten, ergriffen und zu ihrem Hauptmanne geführt. Einige von ihnen erkannten mich sogleich, lößten mir die Banden, sprachen mir Muth ein und munterten mich auf, an ihrer Beschäftigung, wie einer aus ihrer Mitte, Antheil zu nehmen. Ich bath mit den Satyros zum Diener aus. „“Wohlan!“ sagten sie, „“du sollst uns die erste Probe deiner Kühnheit ablegen. –“ Sie hatten eben ein Orakel bekommen, ein Mädchen zu schlachten und die Räuberbande zu reinigen, von der Leber der Geopferten zu essen, den übrigen Körper in einen Sarg zu legen und hinwegzugehen: diese Art zu opfern sollte die Feinde in Erstaunen setzen. Erzähle nun das übrige, Satyros; denn hier beginnt deine Geschichte.„“

20 „Ich weinte, mein Gebiether,“ fuhr Satyros fort, „als man mich mit Gewalt ins Lager führte; ich wehklagte, da ich erfuhr, was mit Leukippen vorgehen sollte, und bath den Menelaos, wo möglich das Mädchen zu retten; ein guter Dämon stand uns hierin bey.“ „Den Tag vor dem Opfer saßen wir betrübt am Meer und dachten darüber nach. Einige von den Räubern erblickten ein Schiff, das aus Unkunde herumirrte, und fielen es an. Die auf dem Schiffe erkannten die Räuber und suchten wieder zurückzufahren. Die Räuber kamen ihnen aber zuvor, ergriffen es und nöthigten sie, sich zu vertheidigen. Unter denen auf dem Schiffe befand sich ein Rhapsode90. Dieser legte mit seinen Gefährten seine Theaterrüstung an; und so versuchten sie den Kampf. Den ersten, die auf sie eindrangen, leisteten sie sehr starken Widerstand; bald aber kamen noch mehrere Räuber herbey geschifft. Diese versenkten das Schiff und tödteten die Herausfallenden.“ „Unbemerkt fiel auch eine Kiste heraus. Die Fluth trieb sie zu uns; Menelaos hob sie auf, gieng etwas auf die Seite und öffnete sie in meiner Gegenwart: denn er glaubte, etwas von Bedeutung darin zu finden. Wir fanden ein Gewand und einen Dolch, dessen Griff vier Ellen lang war; die Klinge war sehr kurz, kaum drey Finger lang. Menelaos hob den Dolch empor und kehrte ihn unvermerkt um. Die kurze Klinge lief aus dem hohlen Griffe so weit heraus, als dieser lang war; und als er ihn wieder umwendete, gieng die Klinge wieder hinein. Wahrscheinlich bediente sich der Unglückliche dieses Dolches zu scheinbaren Ermordungen auf der Bühne.“

21 „Uns wird ein Gott beystehen, wenn du dich brav bezeugst, sagt’ ich dann zum Menelaos; wir können das Mädchen noch retten und die Räuber hintergehen; hör’, auf welche Weise. Wir nehmen ein Schaffell, so fein wir es bekommen können, und heften es, wie einen Beutel von der Größe eines Menschenbauchs zusammen; dann füllen wir ihn mit Thiereingeweiden und Blut, und nähen ihn zu, damit nicht die Eingeweide so leicht herausfallen. Diesen falschen Bauch legen wir Leukippen an, werfen das Gewand darüber, versehen sie mit Kopfschmuck und Gürtel und verbergen so die Zurüstung. Auch das Orakel und der Dolch sind uns zu diesem Betruge überaus günstig; jenes befiehlt ja, das Mädchen in dieser Kleidung mitten zu durchschneiden; und was den Dolch betrifft, so siehst du selbst, wie künstlich er ist. Denn stößt man damit auf einen Körper, so zieht er sich in den Griff, wie in eine Scheide, zurück, so daß die Zuschauer glauben, er dringe in den Körper ein; er springt aber in die Höhlung des Griffes zurück und läßt nur die Spitze übrig; so zerschneidet er den falschen Bauch, und der Griff steht auf der Haut dessen, der geschlachtet werden soll, auf. Zieht man dann den Dolch aus der Wunde hervor, so läuft er, je höher man den Griff hält, aus der Höhlung wieder heraus, und auf diese Art werden die Zuschauer getäuscht. So werden die Räuber die List nicht bemerken, weil das Fell verhüllt ist, und die Eingeweide durch den Stich hervorspringen. Wir nehmen sie heraus und legen sie auf den Altar; die Räuber werden sich dann entfernen, und wir den Körper ins Begräbniß legen. Du hast gehört, daß der Räuberhauptmann kurz vorher zu uns sagte, du müßtest ihnen Proben deiner Kühnheit ablegen. Gehe zu ihm und versprich ihm, dieses Probestück zu machen.“ Dabey beschwor ich ihn beym Zeus, dem Beschützer der Gastfreunde, und erinnerte ihn an den gemeinschaftlichen Tisch und Schiffbruch.

23 Darauf antwortete der edle Mann: „Es ist zwar ein gefährliches Unternehmen; jedoch wird mir, wenn ich auch meinem Freunde zu Gefallen mein Leben aufs Spiel setzen sollte, der Tod süß sein. –“ „Und ich glaube,“ sagte ich, „daß auch Kleitophon lebt; denn das Mädchen sagte mir, sie habe ihn unter den Gefangenen der Räuber gefesselt zurückgelassen; und diejenigen von den Räubern, die durch die Flucht entkommen waren, sagten zu ihrem Anführer, alle ihre Gefangenen seyen aus dem Schlachtgetümmel zu den Kriegern geflohen. Dadurch wirst du dir ihn verbindlich machen; zugleich wirst du dich eines unglücklichen Mädchens erbarmen, und sie aus einer so großen Gefahr erretten. Durch diese Worte überredete ich ihn, und der Zufall begünstigte uns. Ich beschäftigte mich nur mit der Zurüstung des täuschenden Opfers. Eben wollte Menelaos wegen des Opfers mit den Räubern sprechen, als ihm der Hauptmann zufällig zuvorkam, und ihm sagte: „es ist bey uns Sitte, daß die, welche zuerst eingeweiht werden sollen, die Weihe mit einem Opfer beginnen, vorzüglich mit einem Menschenopfer. Rüste dich also auf Morgen zum Opfer; dein Diener soll zugleich mit dir die Weihe empfangen.“ – „Wir werden uns sehr angelegen seyn lassen,“ versetzte dieser, „uns eurer würdig zu zeigen.“ – „Ihr sollt aber selbst,“ versetzte der Hauptmann, „das Mädchen zum Opfer gehörig anschicken.“ Demnach rüsteten wir das Mädchen auf die vorbesagte Weise zu, sprachen ihr Muth ein, setzten ihr unsern Plan aus einander, und befahlen ihr, wenn sie auch der Schlaf früher verlassen würde, den Tag über im Begräbnisse zu bleiben; und sollte etwa keiner von uns kommen, sich dann selbst in das Lager zu retten. Darauf führten wir sie zum Altare; das übrige ist dir bekannt.

24 Dieß versetzte mein Gemüth in mancherley Empfindungen, und ich wußte nicht, wie ich mich dem Menelaos dafür erkenntlich beweisen sollte. Was das gewöhnlichste ist: ich fiel vor ihm nieder, umarmte ihn, verehrte ihn, wie einen Gott, und das Entzücken der Freude über Leukippens Errettung überströmte meine Brust.“ – „Aber was ist mit dem Kleinias geworden?“ fragte ich ihn dann. – „Ich weiß es nicht,“ antwortete Menelaos. „Als unser Schiff zertrümmert war, sah ihn ihn an der Segelstange hängen; wo er aber hingekommen ist, kann ich nicht sagen.“ Durch diese Nachricht erschüttert, brach ich mitten in der Freude in Wehklagen aus: „Vielleicht hat mir ein Dämon ein ungetrübtes Glück nicht gönnen wollen; ihn, der durch meine Schuld nun verschwunden ist, der nach Leukippen mein Gebiether ist, ihn allein hält das Meer in seinen Banden gefesselt, und beraubt ihn nicht allein des Lebens, sondern auch der Beerdigung. O du grausames Meer! den vollständigen Beweis deiner Menschenliebe hast du uns nicht geben wollen!“ –

25 Gleich mit Anbruch des Tages führte ich den Menelaos zum Anführer, und erzählte ihm die Sache. Er freute sich mit mir, und machte mit dem Menelaos Freundschaft. Dann fragte er ihn, wie stark die Macht der Feinde sey. Menelaos benachrichtigte ihn, die ganze benachbarte Gegend sey mit Räubergesindel angefüllt: ihre Anzahl vermehrte sich stark, und schon belaufen sie sich auf Zehntausend. „O“ – versetzte der Anführer – „diese 5000 sind hinreichend, ein Heer von 2000 Räubern zu schlagen: nächstens werden noch 2000 Mann von der Armee, die in Delta91, und Heliopolis92 steht, zu ihnen stoßen.“ Kaum hatte er dieß gesagt, so kam ein Sklave zu ihm geeilt, mit der Nachricht, es sey in Kourier von der Armee in Delta angekommen, mit der Bothschaft, daß die 2000 Mann noch einige Tage dort verweilen würden; die Barbaren hätten zwar von ihren Streifereyen abgelassen; als aber die Armee hätte aufbrechen wollen, sey der heilige Vogel mit dem Leichname seines Vaters bey ihnen angekommen; deshalb hätten sie den Aufbruch verschieben müssen.

24 „Was ist das für ein Vogel, der eine so große Auszeichnung genießt?“ sagte ich. – „Was trägt er für einen Leichnam?“ „Phönix ist sein Name“ – antwortete er mir; „er stammt aus Aethiopien, und hat die Größe eines Pfauen; aber an Schönheit der Farbe steht ihm der Pfau nach; denn auf seinem Flügel strahlt Gold und Purpur vermischt. Stolz nennt er die Sonne seine Gebietherin, und sein Kopf bezeugt es; denn ein schöner Kreis umkränzt ihn, und der Kranz ist das Bild der Sonne. Er ist dunkelfarbig, den Rosen ähnlich und schön von Ansehen. Prachtvoll strahlen seine Federn, wie die Sonne im Aufgang. Die Aethiopier und Aegyptier theilen sich in seinen Tod und seine Geburth; denn wenn er stirbt – und dieß ist im hohern Alter93 – trägt ihn sein Sohn zum Nil, und beerdigt ihn auf folgende Weise. Er gräbt ein Stück der wohlriechendsten Myrrhe so groß, als zum Begräbnisse eines Vogels hinreicht, mit seinem Schnabel auf, und höhlt es in der Mitte aus: dieß ist der Sarg des Todten. Den Vogel fügt er in ein Behältniß, fliegt zum Nil, und trägt ihn in die mit Erde aufgeworfene Gruft. Ein Chor von andern Vögeln folgt ihm gleichsam zur Bedeckung; der Vogel gleicht einem auswandernden Könige, und kömmt richtig in Heliopolis an; dieß ist der Leichenzug des Todten. Der Vogel stellt sich dann auf einen erhabenen Ort und erwartet die Priester des Gottes. Es kömmt ein Priester mit einem Buche aus dem Heiligthum, und prüft ihn nach der Schrift. Der Vogel weiß, daß man ihm nicht glaubt, enthüllt den Leichnam, zeigt ihn vor, und wird sein Leichenredner. Die Söhne der Priester empfangen den todten Vogel der Sonne und begraben ihn. So lebt er in Aethiopien, und wird in Aegypten begraben.“

Anmerkungen

77 Poseidon ist der Gott des Meeres, Bruder des Zeus, Neptunus der Römer.

78 Eine Stadt an der östlichen Küste von Aegypten.

79 Vom Berge Kasios, nicht weit von Pelusion, so benennt.

80 Andromeda, des Königs Cepheus Tochter, wurde auf Anrathen des Zeus Ammon (der in Libyen ein berühmtes Orakel hatte) an einen Felsen geschmiedet und einem Seeungeheuer Preis gegeben, um den Poseidaon zu versöhnen, der Aethiopien zu überschwemmen drohte. Die Mutter der Andromeda, Calliope, hatte sich nehmlich durch ihren Stolz und das Prahlen auf ihre Schönheit den Haß der Nereiden (Meernymphen) zugezogen. Diese bewegten den Poseidaon, sie an dem übermüthigen Weibe zu rächen; deshalb bedrohte er das Land mit einer Ueberschwemmung.

81 Prometheus, der Sohn des Japetos und der Klymene, überlistete den Zeus bey einem Gastmahle der Götter, raubte das Feuer vom Himmel etc. Dafür ließ ihn Zeus an den Kaukasos schmieden, und seine Leber vom Adler verzehren; Herakles befreyte ihn wieder.

82 Perseus machte sich mit dem Helme des Aides, oder Pluto, des Königs der Unterwelt, unsichtbar, um vor den Verfolgungen der Gorgonen gesichert zu seyn.

83 Der Medusa, Phorkys Tochter, die allein von ihren Schwestern: Euryale und Stheno, sterblich war. Auf Befehl des Polydektes, des Königs von Seriphos, hieb Perseus, der Sohn des Zeus und der Danae, der Medusa das Haupt ab. Diese war ein Schreckbild des Alterthums: mit Schlangen umwunden, und von so schrecklichem Blicke, daß sie alles, was sie ansah, zu Stein verwandelte.

84 Die Hirten trieben zu der Zeit mit den Räubern gemeinschaftliche Sache.

85 Gleichsam pantomimisch, wo durch die Mienen, die Stellung des Körpers und Bewegung der Hände die Empfindungen etc. ausgedrückt wurden.

86 Eine Stadie beträgt 125 Schritte.

87 Marsyas, ein Phrygier, Sohn des Hyagnides, fand die Flöte, welche Athene (Minerva) mit einem Fluche über denjenigen weggeworfen hatte, der sie aufheben würde; denn das Blasen hatte das schöne Gesicht der Göttin entstellt. Marsyas brachte es auf der Flöte zu einer solchen Fertigkeit, daß er es wagen konnte, den Apollon selbst, den Gott der Musik, zum Zweikampf aufzufordern. Apollon siegte aber, ließ den Marsyas an einen Baum nageln und die Haut abziehen: so gieng der Fluch der Athene in Erfüllung.

88 Niobe, des Tantalos Tochter und Amphions Gemahlin, des Königs von Thebae, war stolz über die Anzahl ihrer blühenden Kinder, und erhob sich deshalb über Latonen, Apollons und der Artemis Mutter; zur Rache dafür wurden alle ihre Söhne und Töchter vom Apollon und von der Artemis mit Pfeilen erschossen. Die arme Mutter setzte dieß außer sich, und sie wurde in einen Felsen verwandelt. In Lydien soll sie stehen, und aus nie versiegender Quelle rastlose Thränen weinen.

89 Die Göttin der Unterwelt und Vorsteherin der Zauberey; man rief sie bey magischen Handlungen an.

90 Rhapsoden wurden diejenigen genannt, welche die Gedichte Homers deklamirten und absangen; hier wirkliche Schauspieler in der Tracht der Homerischen Helden.

91 Der untere Theil Aegyptens, der vom Nil als eine Insel dreyeckig (Δ, wie das griechische D oder Delta), gebildet wird.

92 Sonnenstadt, dem Sonnengotte geweiht, lag nicht weit von Memphis, dem heutigen Cairo oder Alcain.

93 Er soll über 500 Jahre leben, sich dann verbrennen oder auch im Neste sterben, worauf aus seinem Neste ein junger Phönix hervorwachsen soll. Alles, was man von ihm bey den Altern erzählt findet, ist fabelhaft, mag in Aegypten entstanden seyn, und hier eine symbolische Beziehung auf die Sonne, welcher der Phönix geheiligt war, (daher er auch in Heliopolis, der Sonnenstadt, beerdigt wird) gehabt haben.