7. Buch

Ornament

Übersetzung

1 [277] Diese Worte Leukippens machten in Thersandern alle Empfindungen rege. Aerger, Zorn und Entschlüsse durchkreuzten sich in seiner Seele. Er zürnte über die erlittene Schmach; es schmerzte ihn, daß er seinen Zweck verfehlt hatte, und die Liebe ließ ihn Entschlüsse fassen. In diesem Widerstreite seiner Seele sprang er, ohne Leukippen ein Wort zu erwiedern, auf, eilte zornig hinweg, und sammelte sich etwas, [278] um den Sturm seines Gemüths zu besänftigen. Er zog nun den Sosthenes zu Rathe, gieng zum Kerkermeister und bat ihn, mich durch Gift zu vergeben. Er konnte ihn aber nicht dazu bringen. Denn sein Vorgänger war bey einer ähnlichen Giftmischerey ergriffen und mit dem Tode bestraft worden; sonach befürchtete er ein gleiches Schicksal Thersander that ihm nun den Vorschlag, einen andern zu mir ins Gefängniß zu bringen, als wenn er einer von den Gefangenen wäre, unter dem Vorwande, er wollte durch ihn meine Geschichte zu erfahren suchen. Dieß war der Kerkermeister zufrieden, und nahm den Menschen auf. Von Thersandern unterrichtet sollte er auf eine schlaue Weise das Gespräch auf Leukippen bringen und erzählen, daß sie auf Melittens Veranstaltung ermordet worden wäre. Diesen Kunstgriff hatte Thersander deshalb ersonnen, damit mich die Nachricht vom Tode meiner Geliebten, auch dann, wenn ich etwa [279] frey gesprochen werden sollte, von aller weiteren Nachforschung abziehen sollte. Melitten aber hatte er diesen Mord beygelegt, damit ich nicht etwa, wenn ich Leukippen für todt hielt, Melitten als meine Geliebte heyrathete und ihn durch meine Gegenwart in Leukippens ruhigem Besitze störte, sondern sie vielmehr als die Mörderin meiner Geliebten, wie billig, hassen und mich ganz aus der Stadt entfernen möchte.

2 Dieser Mensch kam nun in meine Nähe und fing seine Rolle damit an, daß er auf eine äußerst verschmitzte Weise wehklagte. „Was soll man nur in aller Welt, rief er aus, noch für einen Lebenswandel führen! Wie soll man sein Leben noch vor Gefahren schützen! Mit Rechtschaffenheit allein kömmt man nicht durch. Ein Ungefähr bricht herein und stürzt uns zu Boden. – Es mußte mir ahnden, wer der Mensch war, der mit mir geing, und was er verübt hatte.“ [280] Diese und ähnliche Reden sprach er für sich, um zu seiner erdichteten Erzählung einen Eingang zu finden. Er glaubte, ich sollte ihn fragen, was ihm begegnet wäre. Ich war aber nur damit beschäftigt, was in meiner Seele vorgieng. Eine Weile noch seufzte er fort. Endlich sagte einer von den Mitgefangenen – denn Unglückliche forschen nur allzu gern nach dem Unglücke des andern, und mit einem andern gemeinschaftlich zu leiden, ist gewissermaßen ein Linderungsmittel für seinen eigenen Kummer: – „Was ist dir vom Schicksale wiederfahren? Du bist ganz unschuldig, wie es scheint, einem bösen Dämon in die Hände gefallen; ich kann dieß aus meiner eigenen Erfahrung schließen.“ Und zugleich erzählte er seine Geschichte, warum er ins Gefängniß gekommen wäre. Ich gab jedoch auf nichts Achtung.

3 Jetzt hatte er geendigt und bat den andern um die Gegenerzählung seines Schicksals. [281] Ich gieng gestern, fieng dieser an zu erzählen, aus der Stadt nach Smyrna119 zu. Vier Stadien von der Stadt kam ein junger Mensch vom Lande zu mir, grüßte mich und gieng ein Stück mit mir.
Er. Wo gehst du hin?
Ich. Nach Smyrna.
Er. Das trifft ja herrlich.
Ich gehe denselben Weg. Von da an giengen wir zusammen und sprachen, wie es auf der Reise geht, von diesem und jenem. Wir kehrten dann in einem Wirthshause ein und frühstückten mit einander. Vier andere setzten sich zu uns, als wenn sie auch frühstücken wollten. Sie sahen uns starr an und nickten einander zu. Ich argwöhnte, sie müßten etwas gegen uns im Sinne haben, konnte aber nicht einsehen, was ihr Winken bedeuten sollte. Mein Reisegefährte wurde nach einiger Zeit blaß, aß langsamer und zitterte schon an allen Gliedern. So wie sie dieß bemerkten, sprangen sie auf, ergriffen [281] uns beyde und banden uns sogleich mit Stricken. Einer von ihnen schlug meinen Gefährten ins Gesicht und, wie von tausendfachen Foltern gemartert, gestand dieser, ohne daß ihn jemand fragte, das Verbrechen ein. „Ja, sagte er, ich habe das Mädchen umgebracht und von Melitten, Thersanders Frau, hundert Goldstücke dafür empfangen; sie hat mich zu dem Morde gedungen. – Aber seht, ich gebe euch die hundert Goldstücke. Warum wollt ihr mich also unglücklich machen und euch um diesen Gewinn bringen?“ Ich hatte auf die ganze Erzählung nicht gemerkt; bey dem Nahmen: Thersander und Melitte aber fuhr ich, wie vom Donner gerührt, auf, wendete mich zu ihm und sagte: Wer ist die Melitte! „Melitte, antwortete er, ist hier in Ephesus eine der ersten Frauen. Sie liebt einen jungen Menschen, welchen man, wenn ich nicht irre, für einen Tyrier hält. Dieser hatte eine Geliebte, die er in Melittens Hause als Sclavin antraf. Von Eifersucht entbrannt ließ Melitte dieß Weib, welches ihr im Wege stand, ergreifen, [282] übergab sie dem Menschen, der unglücklicher Weise, wie ich eben erzählt habe, auf dem Wege zu mir kam, mit dem Auftrag, sie zu tödten. Diese schändliche That nun hat er vollbracht, und ich unglücklicher, der ich ihn nie gesehen, nie, weder in Worten noch in der That, mit ihm in Gemeinschaft gestanden habe, wurde als Theilnehmer seines Verbrechens mit ihm gebunden fortgeführt. – Das Schlimmste dabey ist: Nicht weit von dem Wirthshause empfiengen sie die hundert Goldstücke von ihm und ließen ihn entfliehen; mich aber führten sie zum Oberrichter.“

4 Ich hörte diese Schreckensnachricht, und konnte weder seufzen noch weinen. Ich hatte keine Stimme und keine Thränen. Ein fieberhaftes Zittern überlief meinen ganzen Körper, mein Herz wurde gelößt und ich war fast ohne Besinnung. Bald aber erwachte ich aus dieser Betäubung und sagte: Wie hat der Meuchelmörder das Mädchen getödtet? was hat er mit ihrem Leichnam gemacht? [284] Er antwortete mir nichts und schwieg. Er hatte mir einmal den Dolch ins Herz gestoßen, und sein Werk, weswegen er da war, vollbracht. Auf meine wiederholte Frage gab er mir zur Antwort: „Glaubst du denn, ich hätte an dem Morde Theil genommen? Ich hörte von dem Mörder weiter nichts, als daß er das Mädchen umgebracht habe. Wo und auf welche Weise? hat er mir nicht gesagt.“ Da flossen mir die Thränen und der Schmerz wurde in meinen Augen sichtbar. So entsteht bey den Schlägen des Körpers nicht sogleich eine Beule; nicht unmittelbar nach dem Schlage zeigt sich die Strieme, sondern erst nach einiger Zeit bricht sie hervor. So sucht der, welchen der Zahn des Ebers trifft, augenblicklich die Wunde und kann sie nicht finden; sie liegt noch tief im Innern und verbirgt, langsam reifend, den Einschnitt des Zahns. Dann entsteht mit Einem Mahle ein weißer Streif, der Vorläufer der Wunde, und bald darauf öffnet er sich und fließt von Blut über. Eben so wird die Seele, sobald sie der Pfeil des Schmerzes trifft, zwar [285] verwundet und durch das Geschoß der Rede geritzt, aber die Schnelligkeit des Pfeils öffnet die Wunde nicht sogleich, sondern die Thränen – denn die Thränen sind das Blut der Seelenwunden – treten erst dann in die Augen, wenn der Zahn des Schmerzes schon etwas am Herzen genagt hat. Dann bricht die Wunde der Seele hervor, und das Auge öffnet den Thränen den Ausgang, durch welchen sie sogleich hervor springen. So gieng es auch mir. Zuerst drang mir diese Rede, gleich einem Geschoß, in die Seele, machte mich stumm und verschloß die Quelle der Thränen. So bald ich mich aber etwas erholt hatte, flossen sie hervor.

5 Welcher Dämon täuschte mich mit einer so kurzen Freude? rief ich dann aus. Ach, nur zu neuem Unglücke wurde mir Leukippe gezeigt! Nicht einmahl meine Augen, die mich allein glücklich machten, hab’ ich gesättigt, vielweniger meine Wünsche befriedigt! Nichts, als ein Traum, [286] war mein Vergnügen! – O Leukippe! wie oft bist du mir schon gestorben! Soll ich nie aufhören, dich zu beweinen? nie aufhören, dich zu beklagen? Eine Todesnachricht folgt der andern. Bisher hat zwar das Schicksal immer nur seinen Scherz mit mir getrieben; doch jetzt ist es kein Scherz mehr. – Und wie bist du mir jetzt entrissen, Leukippe? Mußte ich dich ehedem auch für todt halten, so blieb mir doch noch einiger Trost übrig. Das erste Mahl hatte ich doch wenigstens deinen Körper ganz, und das zweyte Mahl, wenn auch nicht den Kopf, doch den übrigen Körper zum Begräbniß. Jetzt aber bist du mir eines doppelten Todes gestorben, Seele und Körper ist mir entrissen! – Zweymahl bist du den Räubern entflohen und Melittens Räuberbande hat dich ermordet! Ach, wie oft küßte ich heilloser Frevler deine Mörderin! Wie oft lag ich in ihren mit Blut befleckten Armen! Selbst Aphroditens Gunst bewies ich ihr eher, als dir!

6 Während ich so klagte, kam Kleinias zu mir. Ich erzählte ihm dieß alles und sagte ihm, [287] ich wäre fest entschlossen, zu sterben. Kleinias redete zu mir. „Wer weiß, ob sie nicht wieder auflebt? sagte er. Ist sie dir nicht schon oft gestorben? und ist sie dir nicht schon oft wieder aufgelebt? Was willst du so voreilig sterben? Dazu hast du noch immer Zeit, wenn du von ihrem Tode gewiß überzeugt bist.“ Du sprichst sonderbar! sagte ich; wie willst du wohl gewissere Nachricht erfahren, als diese? – Ich glaube jetzt gerade die schönste Todesart gefunden zu haben, bey welcher auch die heillose Melitte nicht ohne Strafe davon kommen wird. Laß dir es erzählen. Du weißt, ich hatte mich, wenn das Gerücht dahin entscheiden sollte, auf eine Vertheidigung gegen den Ehebruch gefaßt gemacht. Jetzt hab’ ich gerade das Gegentheil bey mir beschlossen. Ich bin Willens, mich des Ehebruchs für schuldig zu erklären und zugleich vorzugeben, ich und Melitte hätten einander geliebt und deshalb Leukippen gemeinschaftlich aus dem Wege geräumt. Auf diese Weise wird sie ihre Strafe leiden und auch meinem, mir höchst verhaßten, Leben ein Ende gemacht. [288] Mache nicht solche Dinge! sagte KLeinias. Du wolltest eines solchen entehrenden Todes sterben? wolltest für einen Mörder, und was noch mehr ist, für Leukippens Mörder gehalten seyn? „Was den Feind kränkt, kann nicht entehren, und dieß ist jetzt der Fall bey uns.“ Bald darauf wurde der Mensch, der diesen angeblichen Mord erzählt hatte, von seinen Fesseln gelößt, unter dem Vorwande, der Richter habe befohlen, ihn vorzuführen, um wegen des Verbrechens, dessen man ihn beschuldigt hätte, Red’ und Antwort zu geben. Kleinias und Satyros sprachen mir Trost zu und suchten mich auf alle mögliche Weise zu überreden, daß ich nichts von dem, was ich Willens war, vor Gericht sagen sollte. Doch ihre Bemühung war vergeblich. Noch denselben Tag mietheten sie sich eine Wohnung und bezogen sie, um bey Melittens Jugendfreunde nicht länger zu wohnen.

7 Den Tag darauf wurde ich vor Gericht geführt. Thersander hatte große Anstalten gegen mich getroffen. Nicht weniger, als zehen Redner, standen in Bereitschaft, und auch Melitte hatte sich ernstlich zu ihrer Verteidigung gerüstet. Als sie aufgehört hatten zu reden, bat ich mir das Wort aus. „Dieß alles, fieng ich an, ist leeres Geschwätz, so wohl was Thersanders Redner, als was Melittens Vertheidiger vorgebracht haben. Von mir sollt ihr die reine Wahrheit erfahren. Ich hatte ehedem eine Geliebte, Nahmens Leukippe, eine Byzantierin von Geburt. Sie wurde mir in Aegypten von Räubern geraubt, und ich hielt sie für todt. Dann lerne ich Melitten kennen, wir wohnen dort bey einander, kommen zusammen hierher, und finden Leukippen als Sclavin beym Sosthenes, einem Verwalter auf Thersanders Landgüter. Wie Sosthenes sie als eine Treugebohrne zur Sclavin bekam, und in welcher Verbindung er mit den Räubern steht, [290] überlasse ich euch zu untersuchen. Kurz, Melitte erfuhr, daß ich mein voriges Weib wieder gefunden hatte, daß ich mein voriges Weib wieder gefunden hatte, und aus Furcht, ich möchte ihr meine Zuneigung wieder schenken, faßte sie den Entschluß, sie zu tödten; und – warum sollte ich nicht die Wahrheit gestehen? – auch ich gabe meine Einwilligung dazu. Sie versprach, mich zum Herrn ihres ganzen Vermögens zu machen. Ich verschaffte mir also für hundert Goldstücke einen Meuchelmörder. Er vollbrachte die That und gieng davon; und seit dem ist er verschwunden. Die Liebe aber rächte sich sogleich an mir. Denn sobald ich hörte, daß sie nicht mehr am Leben wäre, bereute ich es und weinte; denn ich liebte sie und liebe sie noch jetzt. Deshalb klage ich mich nun selbst an, um zu meiner Geliebten hinabgeschickt zu werden. Ich vermag nicht länger zu leben; denn ich würde ein Mörder und liebe die, die ich gemordet habe.“

8 So sprach ich, und alle erstaunten über die unverhoffte Wendung dieser Geschichte, vorzüglich [291] aber Melitte. Thersanders Redner frohlockten über den erhaltenen Sieg, und Melittens Sachwalter forschten nach, was es mit meiner Aussage für eine Bewandniß haben möchte. Sie selbst war in Verwirrung; bald läugnete sie, bald erzählte sie, aber alles hastig und unverständlich. Leukippe, sagte sie, und alles, was ich von ihr gesagt habe, sey ihr bekannt; vom Mord aber wisse sie nichts. Und so schöpften ihre Sachwalter, da sie in vielen Stücken mit mir übereinstimmte, selbst Verdacht gegen sie und waren in Verlegenheit, was sie noch zu ihrer Vertheidigung sagen sollten.

9 Hierüber entstand ein großer Lärm im Gerichtssaal und mitten in dem Getümmel trat Kleinias auf und sagte: „Erlaubt auch mir, ein Wort zu reden; der Prozeß betrifft ja das Leben eines Menschen!“ Es wurde ihm verstattet und er fieng an mit Thränen in den Augen: [292] Ihr Männer von Ephesus, sprecht nicht zu voreilig das Todesurtheil über einen Mann, der zu sterben wünscht. Der Tod ist ja das gewöhnliche Heilmittel für Unglückliche. Ohne Grund hat er die Schuld jener Verbrecher auf sich genommen, um die Strafe der Unglücklichen zu leiden. Sein Unglück will ich euch mit wenigen Worten schildern. Er hatte, wie er eben gesagt hat, eine Geliebte. Dieß hat er nicht erdichtet; eben so wenig dieses, daß sie von Räubern entführt und vom Sosthenes gekauft worden ist. Kurz, alles, was er vor dem Mord erzählt hat, trifft mit seiner Geschichte genau überein. Dieß Mädchen nun ist mit einem Mahle verschwunden; wie, ob sie jemand getödtet hat, oder ob sie im Verborgenen noch lebt, kann ich nicht sagen. Nur dieß weiß ich, daß Sosthenes sie liebte, daß er sie, weil er seinen Zweck nicht erreichen konnte, mit mancherley Martern quälte, und daß er mit Räubern in gutem Vernehmen steht. Kleitophon hier steht nun in der Meinung, das Mädchen sey ermordet, und will auch nicht länger leben. Deswegen hat er sich fälschlich als Mörder ausgegeben. Daß er zu sterben, aus Kummer über dieses Mädchen zu sterben wünscht, hat er selbst eingestanden. Bedenkt doch also, ob wohl irgend jemand, der einen [293] andern wirklich umgebracht hat, zugleich mit ihm zu sterben begehrt, und vor Kummer das Leben unerträglich findet. Wo ist wohl ein Mörder, der so zärtlich liebte? Wo wohnt wohl Haß mit solcher Liebe vereint? Nein, bey den Göttern! glaubt ihm nicht, sprecht nicht das Todesurtheil über einen Menschen, der mehr Mitleiden, als Strafe verdient. – Hat er indeß, wie er vorgiebt, den Mord wirklich veranstaltet, so mag er doch sagen, wer der Meuchelmörder war, er mag die Ermordete vorzeigen. Findet sich nun aber weder Mörder, noch Ermordete, wer hat wohl von einem solchen Morde gehört? – „Ich liebte, sagst du, Melitten, und deswegen brachte ich Leukippen um“. Wie kann er denn jetzt Melitten des Mordes anklagen, da er sie liebt? – Leukippens wegen wünscht er jetzt zu sterben, die er doch getödtet hat. Kann wohl jemand hassen, was er liebt, und lieben, was er haßt? Würde er nicht vielmehr auch dann, wenn er schon überführt wäre, den Mord geläugnet haben, um theils die Geliebte zu retten, theils der Geliebten wegen nicht vergebens zu sterben? – Warum sollte er aber Melitten anklagen, wenn nicht so etwas von ihr verübt worden wäre? – Auch dieß will ich euch erklären, und bey den Göttern! glaubt nicht, [294] daß ich diese Rede erdichtet habe, um diese Frau zu verläumden, sondern ich erzähle es euch, wie es geschehen ist. Melitte liebte ihn leidenschaftlich und sprach, ehe noch dieser aus dem Meere wieder auflebte, von der Heyrath. Kleitophon aber fühlte nicht dieselbe Neigung zu ihr und schlug ihren Antrag standhaft aus. Unterdessen fand er, wie er eben sagte, seine Geliebte, die er für todt gehalten hatte, beym Sosthenes noch am Leben, und seine Abneigung gegen Melitten wurde noch stärker. Melitte wußte anfangs nicht, daß die Sclavin des Sosthenes Kleitophons Geliebte war, und hatte Mitleiden mit ihr. Sie lößte ihr die Fesseln, mit denen sie Sosthenes gebunden hatte, nahm sie in ihr Haus auf, und bewirthete sie in allen Stücken, wie eine unglückliche Freygebohrne. Als sie es aber erfur, schickte sie das Mädchen eines Geschäftes wegen auf ihr Landgut, und seit dem ist sie, wie man sagt, verschwunden. – Daß ich jetzt die reine Wahrheit gesagt habe, wird Melitte eingestehen und zwey Dienerinnen, welche sie mit ihr auf das Landgut schickte. Schon dieses erregte in ihm einigen Verdacht, Melitte möchte sie aus Eifersucht aus dem Wege geräumt haben. Etwas anderes begegnete ihm im Gefängniß, was ihn in seinem Verdacht noch mehr [295] bestärkte, und ihn gegen sich und Melitten in Wuth brachte. Einer von den Gefangenen klagte über sein Schicksal und sagte, er sey auf dem Wege unbekannter Weise mit einem Meuchelmörder zusammen gekommen, der an einem Weibe einen Mord für Lohn begangen habe. Er nannte dabey Melitten als die, von der er gedungen worden wäre, und Leukippen als die Ermordete. Ob es wirklich an dem so ist, weiß ich nicht; euch steht es frey, die Wahrheit zu erforschen. Ihr habt den Gefangenen in eurer Gewalt, die Dienerinnen sind da, und auch Sosthenes ist hier. Er wird aussagen, woher er Leukippen zur Sclavin bekommen hat; die Mädchen, wie sie verschwunden ist; und der Gefangene wird über den Meuchelmörder Auskunft geben. – Bevor ihr aber alles sorgfältig erforscht habt, würde es gegen Recht und Gewissen seyn, einen ungücklichen Jüngling zu tödten, und einer Aussage, die in der Raserey gesprochen worden ist, Glauben beyzumessen. Denn bis zur Raserey hat ihn der Schmerz gebracht.

10 [296] So sprach Kleinias. Seine Rede hatte für die meisten sehr viel Wahrscheinlichkeit. Thersanders Redner aber und alle seine Freunde, die zugegen waren, schrieen, der Mörder, der nach dem Willen der Gottheit sich selbst angeklagt habe, müsse mit dem Tode bestraft werden. Melitte brachte die Dienerinnen herbey und vom Thersander verlangte man, daß er den Sosthenes stellen sollte; denn man hatte ihn wegen des Mordes in Verdacht. Daher drangen Melittens Sachwalter vorzüglich darauf. Thersander wurde besorgt, schickte heimlich einen seiner Begleiter zum Sosthenes auf das Landgut und ließ ihm sagen, sich so schnell, als möglich, aus dem Staube zu machen, ehe noch die Abgeordneten kämen, ihn abzuholen. In aller Eile setzte sich dieser zu Pferde, kam zum Sosthenes und meldete ihm seine Gefahr, wenn man ihn noch anträfe, zur Folter geführt zu werden. Sosthenes war eben in Leukippens Gemach und quälte sie nach seiner gewöhnlichen [297] Weise, als ihn Thersanders Abgeordneter mit Geschrey und großem Lärmen rief. Er gieng hinaus, hörte die Nachricht, zitterte und bebte vor Furcht, bestieg auf der Stelle, gleich als wenn die Gerichtsdiener schon hinter ihm wären, ein Pferd und eilte in vollem Trab nach Smyrna. Jener kehrte zum Thersander zurück. Wahr ist, wie mich dünkt, das Sprichwort: die Furcht betäubt das Gedächtniß! So hatte auch den Sosthenes die Furcht für sich selbst so betäubt, daß er alles um sich her vergaß, und nicht einmal die Thüre von Leukippens Gemach verschloß. Dieß ist besonders bey den Sclaven der Fall, welche selbst bey der geringsten Gefahr den Mut verlieren.

11 Indessen übergieng Thersander die erste Auffoderung, welche Melitte an ihn gethan hatte, und sagte: „Dieser Mensch, wer er auch sey, hat uns nun des thörichten Geschwätzes genug [298] vorgeplaudert. Ich wundere mich nur, daß ihr so unempfindlich dabey bleiben könnt, und einen Mörder, der auf der That selbst ertappt worden ist, ja, was noch mehr ist, der sich selbst dafür erkannt hat, nicht sogleich dem Henker übergebt, sondern da sitzt und diesem Gauner Gehör gebt, der solche überredende Worte, solche überredende Thränen erheuchelt. Er hat vielleicht selbst an dem Mord Antheil genommen, und ist nun auch für sich selbst besorgt. Ich sehe gar nicht ein, wozu man noch die Folter nöthig hat; da die That so klar am Tage liegt. Ja, ich vermuthe, er hat noch einen andern Mord verübt. Denn Sosthenes, welchen sie vorfodern, ist schon seit drey Tagen unsichtbar geworden, und der Verdacht, daß auch dieses ein Werk ihrer Nachstellung sey, scheint mir nicht ganz ungegründet. Er war es, der mir den Ehebruch verrieth, und dieß war, wie mich dünkt, Grund genug für sie, ihn umzubringen. Nun wissen sie, daß ich ihn nicht stellen kann, und machen die äußerst listige Foderung, ihn vorzuführen. Wenn er nun erscheinen könnte! Wenn er nur nicht aus dem Wege geräumt ist! – Gesetzt aber auch, er wäre da, was wollte man von ihm erfahren? Ob er ein Mädchen gekauft hat? Nun gut, er mag sie gekauft haben! – Ob sie Melitte in [299] ihrer Gewalt hatte? Auch dieß will ich für ihn eingestehen. Sosthenes ist also nach diesem Geständnisse frey gesprochen, und ich richte nun meine Rede gegen Melitten und Kleitophon. –Was habt ihr mit meiner Sclavin angefangen? Sie war meine Sclavin, Sosthenes hatte sie gekauft, und wenn sie noch lebte, wenn sie dieser Mensch nicht ermordet hätte, so wäre sie auf alle Fälle in meinem Dienste.“ Diese Worte streute Thersander sehr boshaft mit ein, damit er Leukippen, wenn sie in der Folge noch am Leben gefunden würde, zu seiner Sclavin machen könnte. „Kleitophon selbst, fuhr er dann fort, hat eingestanden, daß er sie getödtet hat, und mithin ist sein Urtheil entschieden. Melitte aber läugnet; für sie ist die Folter der Dienerinnen. Sagen sie aus, daß sie das Mädchen in Empfang genommen, aber nicht wieder zurückgebracht haben, was ist dann mit ihr vorgegangen? Warum wurde sie überhaupt weggeschickt? und zu wem? Liegt die Sache nicht ganz offenbar am Tage, daß sie Leute abgerichtet hatten, sie umzubringen? Die Dienerinnen kannten diese natürlich [300] nicht; denn hätten mehrere Zeugen darum gewußt, so wäre die That mit größerer Gefahr verbunden gewesen. Da, wo die Räuber im Hinterhalt lagen, verließen sie das Mädchen, und so kann es leicht sey, daß sie von allen dem, was vorgefallen ist, nichts gesehen haben. – Er plauderte auch von einem Gefangenen, der von dem Morde gesprochen haben soll. Aber wer ist denn dieser Gefangene? Sollte er wohl dem Richter nichts, diesem aber allein die Geheimnisse des Mordes entdeckt haben, wenn er ihn nicht als Theilnehmer des Mordes gekannt hätte? Wollt ihr nicht endlich aufhören, dieß leere Geschwätz zu ertragen, und aus so wichtigen Dingen ein Possenspiel zu machen? Glaubt ihr, daß er ohne den Willen der Götter sich selbst angeklagt hat?“

12 Nach geendigter Rede schwur Thersander, daß er von Sosthenes Verschwinden nichts wüßte, und der Vorsitzer im Gericht fällte das Urtheil. Dieser war aus königlichem Geschlecht, und hatte die Gewalt, über Leben und [301] Tod zu richten. Doch waren ihm nach dem Gesetz aus den Aeltesten des Volks Beysitzer gegeben, die er bey seinem Urtheile zu Rathe zog. Er nahm also die Sache mit seinen Besitzern in Ueberlegung, und sprach dem Gesetze zufolge, welches den, der sich selbst des Mordes anklagte, zum Tode verdammte, das Todesurtheil über mich. Wegen Melitten aber sollte durch die Folter der Dienerinnen eine zweyte Untersuchung angestellt werden. Thersander sollte uns den Schwur, daß er von dem, was mit dem Sosthenes vorgefallen wäre, nichts wüßte, schriftlich ablegen, und ich sollte, da ich schon verurtheilt war, durch die Folter ausgeforscht werden, ob auch Melitte um den Mord wüßte. Schon wurde ich gebunden und der Kleider entblößt, schon schwebte ich an den Stricken zwischen Himmel und Erde, schon brachte man Geiseln, Feuer und Rad herbey, während Kleinias seufzte und die Götter anrief: als man einen Priester der Artemis, mit Lorbeern umkränzt, herannahen sah. Dieß ist das Zeichen der Ankunft einer heiligen Gesandtschaft. In diesem Falle muß jede Exekution so lange aufgeschoben werden, bis die Gesandten das Opfer vollendet haben. So wurde auch ich von meinen Fesseln befreyt. [302] Der Anführer der heiligen Gesandtschaft war Leukippens Vater, Sostratos. Die Byzantier hatten, da ihnen Artemis im Kriege gegen die Thraker sichtbare Hülfe geleistet hatte, nach erhaltenem Siege beschlossen, ihr für den geleisteten Beystand ein Siegsopfer zu bringen. Dem Sostratos war die Göttin auch noch besonders im Traum erschienen, und hatte ihm verkündet, daß er seine Tochter und den Sohn seines Bruders in Ephesus wieder finden würde.

13 Um eben diese Zeit war es, als Leukippe die Thüre ihres Gemachs offen und den Sosthenes verschunden sah. Sie schaute umher, ob er nicht etwa vor der Thüre wäre, und, da sie ihn auch hier nicht fand, faßte sie Muth und die alte Hoffnung belebte sie wieder. Denn die Erinnerung, daß sie so oft wider Erwarten errettet worden war, ließ sie auch in der gegenwärtigen Gefahr Hoffnung schöpfen. Sie benutzte also diesen günstigen Augenblick und entfloh in den Tempel [303] der Artemis, welcher nahe am Langute gelegen war. Von alten Zeiten her durften freygebohrne Weiber diesen Tempel nicht betreten; nur Männern und Jungfrauen war es erlaubt. Kam ein Weib hinein, so mußte sie mit dem Tode dafür büßen, außer wenn es eine Sclavin war, die ihren Herrn anklagen wollte. Dieser war gestattet, zu der Göttin ihre Zuflucht zu nehmen, und die Vorsteher richteten dann zwischen ihr und dem Gebieter. Hatte ihr der letzte keine Unrecht zugefügt, so nahm er sie wieder in seinen Dienst auf, und schwur, ihre Flucht nicht zu ahnden. Wurde aber dahin entschieden, daß die Sclavin gerechte Sache habe, so blieb sie dort im Dienste der Göttin. Eben holte Sostratos den Priester ab und gieng mit ihm an den Gerichtsplatz, um die Prozesse zu hemmen, als Leukippe in den Tempel kam, und beynahe wäre sie ihrem Vater in die Hände gelaufen.

14 [304] Ich war nun von der Folter befreyt und das Gericht gieng aus einander. Es entstand ein Zusammenlauf und ein Getümmel um mich herum. Einige bedauerten mich, andere riefen die Götter an, andere fragten mich. Auch Sostratos stand dabey, sah und erkannte mich. Er war nehmlich, wie ich zu Anfang meiner Erzählung gesagt habe, an einem Feste des Herakles schon in Tyros gewesen und hatte sich, noch lange vor unsrer Flucht, einige Zeit dort aufgehalten. Er konnte also aus meiner Gestalt leicht auf mich schließen, da er uns ohnedem nach dem Traumgesichte hier zu finden vermuthete. Er kam auf mich zu und sagte: „Kleitophon hier? Aber wo ist Leukippe?“ Ich erkannte ihn und blickte zur Erde. Die Anwesenden erzählten ihm, was ich gegen mich ausgesagt hatte. Er seufzte laut auf, schlug sich vor den Kopf, sprang auf mein Gesicht zu, und hätte mir beynahe die Augen aus dem Kopfe gerissen. Ich vermochte nicht, ihn abzuhalten, und [305] gab mein Gesicht seiner Mißhandlung Preis. Kleinias aber sprang herbey, hielt ihn zurück und redete ihm zu. „Was machst du hier? sagte er zu ihm. Warum wüthest du so ohne Grund gegen einen Menschen, der Leukippen mehr liebt als du? Weil er sie für todt hielt, unterwarf er sich freywillig dem Tode.“ Er sagte noch mancherley, um ihn zu beruhigen; Sostratos aber weinte lauf und rief zur Artemis: O Gebieterin? Deswegen führtest du mich hieher? Dieß waren deine Weissagungen im Traume? Ich glaubte deiner Verheißung, hoffte meine Tochter bey dir zu finden; aber du hast mir ein schönes Geschenk verliehen: ihren Mörder hab’ ich bey dir gefunden! Als Kleinias von dem Traume der Artemis hörte, war er vor Freude ganz außer sich. „Sey guten Muthes, Vater! rief er aus; Artemis täuscht nicht. Deine Leukippe lebt, traue meiner Weissagung. Sieh, auch diesen, der eben auf der Folter schwebte, hat sie gerettet.“

15 [306] In dem Augenblicke kam einer von den Dienern des Tempels in größter Eile zu dem Priester gelaufen, und meldete ihm – so daß es alle hören konnten: Ein fremdes Mädchen habe sich zur Artemis geflüchtet. Diese Nachricht gab mir neue Hoffnung, ich richtete meine Augen empor und fieng an wieder aufzuleben. Meine Wahrsagung geht in Erfüllung, Vater! sagte Kleinias zum Sostratos. Ist sie nicht schön? fragte er zugleich den Boten. „Nächst der Artemis hab’ ich nie eine schönere gesehen,“ antwortete dieser. Bey diesen Worten sprang ich auf. Als Leukippe meinst du? schrie ich. Ganz recht, antwortete er; Leukippe nannte sie sich; ihr Vaterland, sagte sie, sey Byzantion, und ihr Vater heiße Sostratos. [307] Kleinias schlug triumphirend in die Hände. Sostratos sank vor Freude zu Boden. Ich hingegen sprang mit meinen Fesseln in die Höhe, und flog, wie von einer Maschine fortgetrieben, nach dem Tempel zu. Die Wächter glaubten, ich wollte entfliehen, verfolgten mich, und riefen denen, die mir entgegen kamen, zu, mich zu ergreifen. Aber meine Füße hatten jetzt Flügel. Nur mit Mühe fiengen mich einige auf; denn, wie ein Rasender, lief ich fort. Die Wächter waren sogleich da und wollten mich schlagen. Jetzt hatte ich aber Muth und wehrte mich. Darauf schleppten sie mich wieder ins Gefängniß.

16 Unterdessen waren auch Kleinias und Sostratos herbey gekommen. Wo führt ihr den Menschen hin? schrie Kleinias. Er ist kein Mörder, man hat ihn mit Unrecht verurtheilt! Sostratos sagte seiner Seits dasselbe, und daß er der Vater des Mädchens sey, das man für ermordet halte. Als die Umstehenden dieß hörten, priesen sie die Artemis, stellten sich um mich herum und ließen nicht zu, mich ins Gefängniß zu führen. Die Wächter aber sagten, es stehe nicht in ihrer Macht, einen zum Tode Verurtheilten frey zu lassen; bis endlich der Priester auf Sostratos Bitten für mich Bürgschaft leistete, mich bey sich zu behalten und, wenn es verlangt würde, vor dem Volke zu stellen versprach. So wurden mir meine Fesseln gelößt und ich eilte nun so schnell, als möglich, zum Tempel. Sostratos folgte mir auf dem Fuße nach, ob aus gleicher Freude? weiß ich nicht. Aber kein Mensch läuft so schnell, daß ihm der Flug des Gerüchts nicht zuvor käme. Auch von uns hatte es sich schon bis zu Leukippen verbreitet und ihr alles vom Sostratos und von mir verkündet. Als sie uns erblickte, sprang sie aus dem Tempel und fiel ihrem Vater in die Arme; ihre [309] Augen aber hatte sie auf mich gerichtet. Aus Scheu vor dem Sostratos blieb ich stehen und wagte es nicht, mich ihr in die Arme zu werfen; immer aber ruhte mein Blick auf ihrem Gesichte. So begrüßten wir uns wechselseitig mit den Augen.

Anmerkungen

119 Eine ahnsehnliche Stadt in Ionien.