1. Buch
1 (1) Mytilene auf Lesbos ist eine große und prächtige Stadt, von Kanälen durchzogen, durch die das Meer hereinströmt, und geschmückt mit Brücken aus glattem, weißem Stein. (2) Nicht eine [7] Stadt meinst du vor dir zu haben, sondern eine Insel. Etwa zwanzig Meilen von dort entfernt lag das Gut eines wohlhabenden Mannes, ein sehr schöner Besitz: wildnährende Berge, korntragendes Flachland, Rebenhügel und Weiden mit vielen Herden; und das Meer, das einen lang hingezogenen Strand bespült, erhöhte noch den Reiz.
2 (1) Auf dieser Flur sah eines Tages ein Hirt, Lamon mit Namen, während des Hütens, wie eine von seinen Ziegen einem Kinde ihr Euter gab. In einem Gehölz war ein von Efeu überwuchertes Dorngebüsch, unter dem lag im weichen Gras das Kleine. Die Ziege lief immer dorthin und ließ sich nicht mehr sehen, weil sie über dem Kinde ihr Junges vergaß. (2) Lamon beobachtet dies Hin und Her, und da er Mitleid mit den vernachlässigten Böcklein hat, folgt er dem Tier, als der Mittag am heißesten ist, und sieht nun, wie es behutsam einhergeht, um das Kleine nicht mit den Hufen zu verletzen, während dieses wie aus der Mutterbrust die zu strömende Milch trinkt. (3) Natürlich staunt er, tritt näher und entdeckt ein Knäblein, stattlich [8] und fein und in Windeln gehüllt, die prächtiger sind, als zum Lose eines ausgesetzten Kindes paßt. Ein purpurnes Mäntelchen war da, eine goldene Spange und ein kleines Schwert aus Elfenbein.
3 (1) Anfänglich gedachte der Mann, nur die Erkennungszeichen wegzuschaffen und sich um das Kind nicht zu kümmern. Dann aber schämt er sich, einer Ziege an menschlichem Empfinden nachzustehen, wartet die Nacht ab und bringt alles zu Myrtale, seinem Weibe: die Erkennungszeichen, das Kleine und obendrein auch das Tier. (2) Die Frau entsetzt sich, dass Ziegen auch Kinder zur Welt bringen; da berichtet er, wie er das Ausgesetzte gefunden, und daß er selbst gesehen, wie es genährt worden und sich gescheut habe, es dem Tode preiszugeben. Die Frau billigt sein Tun, sie verstecken die Zeichen, geben das Kind als das ihre aus, lassen aber das Tier weiterhin die Amme sein. Doch der Name des Knaben soll nach einem Hirten klingen, und so beschließen sie, ihn Daphnis zu heißen.
4 (1) Zwei Jahre sind vergangen, da gelangt ein [9] Schäfer von der benachbarten Flur, Dryas mit Namen, beim Hüten zu einem ähnlichen Fund und Anblick. Es war da eine Grotte, den Nymphen heilig, ein mächtiger Felsen, innen hohl und außen gerundet. (2) In dieser Grotte standen, in Stein gemeißelt, die Götterbilder der Nymphen: die Füße unbeschuht, die Arme bloß bis an die Schultern, das Haar lose über dem Nacken, das Gewand um die Hüften gegürtet, ein Lächeln um die Augen. Die ganze Gruppe war wie zum Reigen geordnet. (3) Am Eingang zur Grotte, mitten vor dem Felsen, sprudelte ein Quell und wurde rasch zu einem kleinen Bach, der speiste mit seiner Feuchte das dichte, weiche Gras einer blühenden Wiese. Da hingen Milchgefäße und Querpfeifen, Schalmeien und Rohre, Weihgaben älterer Hirten.
5 (1) In dieses Nymphenheiligtum verzog sich immer wieder ein Schaf, das vor kurzem geworfen hatte, und Dryas glaubte zuweilen, es sei verloren. Da er es züchtigen und zum früheren guten Verhalten zurückbringen wollte, bog er eine junge Weidenrute zu einer Schlinge, um das Tier zu greifen. (2) Doch als er in die Grotte [10] trat, sah er etwas, das er wahrhaftig nicht er wartet hatte. Das Schaf bot sein strotzendes Euter ganz auf menschliche Art einem Kinde, und das sog gierig und unbekümmert bald an der einen, bald an der andern Zitze. Sein Mündchen glänzte rein, weil das Tier ihm immer, wenn es sich satt getrunken hatte, das Gesicht ableckte. (3) Es war ein Mädchen, und auch bei ihm lagen Windeln und Erkennungszeichen, und zwar ein goldenes Haarband, golddurchwirkte Schuhe und goldene Spangen.
6 (1) Dryas sieht in seinem Funde einen göttlichen Wink, und da das Tier ihn Mitleid und Liebe gelehrt hat, nimmt er das Kleine auf den Arm, verwahrt die Beigaben in seiner Hirtentasche und bittet die Nymphen um ein glückliches Gelingen der Erziehung ihres Schützlings. (2) Und als es Zeit ist, die Herden wegzutreiben, kehrt er heim, berichtet seiner Frau, was er gesehen, zeigt, was er gefunden, und ermahnt sie, das Kind als ihr Töchterchen anzusehen und es heimlich als ihr eigenes aufzuziehen. (3) Nape, so hieß sie, wurde dem Mädchen sogleich Mutter und liebte es sehr, weil sie nicht wollte, daß [11] ein Schaf es ihr zuvortat. Dann gibt sie ihm, damit die Sache ein richtiges Ansehen bekomme, gleichfalls einen Hirtennamen und nennt es Chloe.
7 (1) Die Kinder wuchsen schnell heran und waren bald lieblicher anzuschauen, als man ihrem Stande nach erwarten konnte. Schon zählte Daphnis fünfzehn Jahre und Chloe dreizehn, da hatten Lamon und Dryas in der gleichen Nacht den gleichen Traum. (2) Sie sahen, wie die Nymphen – die in der Grotte, wo die Quelle war – Daphnis und Chloe einem schönen und flinken Knaben zuführten, der hatte Flügel an den Schultern und trug ganz kleine Pfeile und einen winzigen Bogen. Er berührte die beiden mit demselben Geschoß und befahl ihnen, fortan zu weiden, und zwar sollte der Knabe Ziegen hüten und das Mädchen Schafe.
8 (1) Nach diesem Traum waren sie traurig, daß die Kinder Hirten werden sollten, während die Beigaben doch ein besseres Los verhießen, weshalb sie ihnen auch eine feinere Kost gegeben und sie die Schrift hatten erlernen lassen und was ihnen sonst an Gutem bei ihrer bäuerischen [12] Art möglich gewesen war. Und doch wollten sie den Göttern gehorchen, weil durch göttliche Vorsehung die beiden am Leben geblieben waren. (2) Sie erzählen sich ihren Traum, opfern dem geflügelten Knaben bei den Nymphen, denn seinen Namen wissen sie nicht, und schicken die Kinder als Hüter der Herden hinaus, nicht ohne sie vorher über alles zu belehren: wie man vor der Mittagshitze zu weiden hat und wie bei nachlassender Glut, (3) wann man zur Tränke führt und wann zu den Hürden, bei welchem Anlaß der Hirtenstab nötig ist und bei welchem ein Zuruf genügt. Die beiden freuten sich, als würden sie die Herren über ein großes Reich, und liebten ihre Ziegen und Schafe mehr, als Hirten meistens tun; und das war nicht zu verwundern, denn Chloe schrieb ja einem Schaf die Ursache ihrer Rettung zu, und Daphnis vergaß nicht, daß eine Ziege ihn als ausgesetztes Knäblein genährt hatte.
9 (1) Es war die Zeit des ersten Frühlings, und in den Wäldern, auf den Wiesen und auf den Hügeln blühten die Blumen. Schon summten auch die Bienen, Vogelgesang schallte, und die [13] Kleinsten der Herden sprangen umher. Die Lämmer hüpften auf den Halden, die Bienen summten im Gras und die Vögel sangen im Hain. (2) Überall herrschte Freude, und die beiden, zart und jung wie sie waren, wußten nur nachzuahmen, was sie hörten und sahen. Die Vögel sangen, also sangen auch sie; die Lämmer hüpften, also tollten auch sie umher; und selbst den Bienen suchten sie es gleichzutun, pflückten Blumen und steckten sie an die Brust oder flochten Kränze, die sie den Nymphen darbrachten.
10 (1) Da sie nahe beieinander hüteten, taten sie alles gemeinsam. Oft trieb Daphnis die Schafe zusammen, die sich verlaufen hatten, oder Chloe holte allzu dreiste Ziegen von den Abhängen herunter. Einer wachte wohl auch über beide Herden, wenn der andere sein Spiel nicht aufgeben wollte. Von ländlicher oder kindlicher Art waren diese Spiele. (2) Das Mädchen suchte sich Halme, verfertigte eine Grillenfalle und vergaß vor Eifer seine Herde. Der Knabe schnitt zarte Rohre, bohrte kleine Löcher an den Knoten, fügte die Rohre mit weichem [14] Wachs zusammen und übte sich bis zur Dunkelheit im Flöten. (3) Sie teilten Milch und Wein und das mitgebrachte Essen, und eher hätte man die Schafe und Ziegen getrennt gesehen als Chloe und Daphnis.
11 (1) Doch inmitten ihrer kindlichen Spiele fachte Eros einen anderen Geist an. Eine Wölfin, die Junge hatte, räuberte oft in der Nachbarschaft bei den andern Herden, denn sie brauchte viel Nahrung zum Aufziehen ihrer Brut. (2) Daraufhin kamen die Landleute zusammen und gruben Fanglöcher, eine Klafter breit und vier Klaftern tief. Die ausgehobene Erde schafften sie zum größten Teil fort und streuten sie aus, legten dann langes, trockenes Reisig über die Löcher und schütteten wieder Erde darauf, so daß es aussah wie vorher. Es hätte nur ein Hase zu kommen brauchen, und die Decke, die mürber war als Stroh, wäre gebrochen, und dann würde sich gezeigt haben, daß da kein wirklicher Boden war, sondern nur ein vorgetäuschter. (3) Eine ganze Reihe solcher Fallen stellten sie her, auf den Bergen und im Flachland, hatten aber kein Glück mit dem Fangen [15] der Wölfin. Sie schien immer zu merken, wenn der Boden sie betrügen wollte. Statt ihrer kamen viele Ziegen und Schafe ums Leben und beinahe auch Daphnis, und zwar auf folgende Weise:
12 (1) Zwei Böcke gerieten in Streit und fielen übereinander her. Bei einem heftigeren Zusammenprall wurde dem einen ein Horn zerschmettert. Klagend sprang er auf und lief davon. Dann setzte der Sieger ihm nach und ließ ihm keine Ruhe, doch Daphnis tat es um das Horn leid, er ärgerte sich auch über die Frechheit, nahm also seinen Hirtenstock und verfolgte den Verfolger. (2) Bei dieser Flucht und der Wut des Nachstellenden achtete keiner auf das, was vor ihm war, und beide stürzten in eine Grube, der Bock zuerst und Daphnis hinterdrein. Doch eben das rettete ihn, daß er auf dem Tier wie auf einem Fahrzeug hinabglitt. (3) Unter Tränen wartet er, daß einer komme und ihn heraushole, und schon eilt auch Chloe, die alles mitangesehen hat, herbei. Sie erscheint oben an dem Fangloch, überzeugt sich, daß er am Leben ist, und ruft einen Rinderhirten von [16] der Nachbarflur zu Hilfe. (4) Der kommt, sieht sich aber zunächst nach einem Seil um, mit dem er den Knaben in die Höhe ziehen und herausbringen will. Es findet sich jedoch keines, und so löst Chloe schließlich ihre Kopfbinde und gibt sie dem Hirten, und da stehen sie nun am Rande der Grube und zerren, und Daphnis packt die Binde, hilft selbst nach und kommt wirklich nach oben. (5) Auch den armen Bock befreien sie. Arg ist die Rache des besiegten Tieres über ihn gekommen, seine beiden Hörner sind zerschmettert. Die Kinder schenken ihn dem Rinderhirten zur Belohnung und zugleich als Opfergabe; sollte aber jemand das Tier vermissen, wollen sie einen Wolfsüberfall vorgeben. Darauf kehrten sie zurück und musterten ihre Herden, und als sie sahen, daß Ziegen und Schafe weideten, wie es sich gehört, setzten sie sich an den Stamm einer Eiche und untersuchten, ob sich Daphnis beim Fallen etwa verletzt habe. (6) Doch es war kein Schaden und kein Blut zu entdecken, nur mit Erde und Schmutz waren Haare und Leib bespritzt; und deshalb schien es ihm gut, [17] zu baden, weil ja Lamon und Myrtale von dem Vorfalle nichts erfahren sollten.
13 (1) Er ging mit Chloe zur Nymphengrotte, gab ihr Rock und Hirtentasche zum Aufbewahren, trat an den Quell und wusch das Haar und den ganzen Körper. (2) Das Haar war schwarz und dicht, und der Leib von der Sonne gebräunt. Man hätte glauben können, vom Schatten des Haares habe er seine Farbe. Chloe betrachtete Daphnis und fand ihn schön, und weil sie ihn früher nicht so gesehen hatte, meinte sie, das Bad habe die Veränderung bewirkt. Und als sie ihm dann den Rücken wusch und fühlte, wie weich sein Fleisch war, berührte sie mehrmals heimlich sich selbst, um zu erproben, ob sie ebenso zart sei. (3) Die Sonne war im Untergehen, für diesmal trieben sie ihre Herden heim, und Chloe widerfuhr nichts Besonderes mehr, nur daß sie den Wunsch hatte, Daphnis wieder baden zu sehen. (4) Doch als sie am folgenden Tage auf die Weide kamen und Daphnis unter ihrer Eiche saß und blies, wobei er auf die Ziegen achtgab, die sich gelagert hatten und seinen Weisen zu lauschen schienen, setzte sie [18] sich zu ihm und blickte wohl auch auf die Schafherde, viel häufiger aber auf ihn. Diesmal meinte sie, er sei schön, weil er flöte, glaubte also, die Musik bewirke die Schönheit, und nahm ihm die Flöte weg, um zu versuchen, ob mit ihr das gleiche geschehe. (5) Dann beredete sie ihn, noch einmal zu baden, und sah ihn an und berührte ihn und als sie fortging, pries sie ihn, und dieses Preisen war der Beginn der Liebe. Was mit ihr vorging, wußte sie allerdings nicht, weil sie ein junges Ding war und im bäuerischen Verstande aufgewachsen und aus keines Menschen Munde je das Wort Liebe vernommen hatte. Ihr Herz war betrübt, ihre Augen wanderten unruhig hin und her, und oft sagte sie Daphnis’ Namen vor sich hin. (6) Vom Essen wollte sie nichts wissen, sie fand nachts keinen Schlaf und kümmerte sich nicht um ihre Herde. Sie lachte und weinte abwechselnd, nickte ein und fuhr gleich darauf wieder in die Höhe. Ihr Gesicht, eben noch bleich, stand im nächsten Augenblick in Flammen. Ein Rind, das von einer Bremse gestochen wird, leidet nicht solche Not. Und einmal, [19] als sie allein war, sprach sie so zu sich selbst:
14 (1) »Sicher bin ich krank, aber woran ich kranke, weiß ich nicht. Schmerzen habe ich und bin doch nicht verwundet, traurig bin ich, dabei leben alle meine Schafe, ich brenne wie Feuer und sitze doch im dichten Schatten. (2) Oft hat ein Dorn mich verletzt, und ich weinte nicht; Bienen haben mich gestochen, und der Hunger fehlte nicht. Was jetzt mein Herz bedrückt, ist schlimmer als alles Frühere. Schön ist Daphnis, aber sind es nicht auch die Blumen? Lieblich klingt seine Hirtenflöte, aber lieblich singt auch die Nachtigall, und doch tut sie mir nicht weh. Wäre ich doch seine Flöte, daß er auf mir bliese, oder eine Ziege, daß ich von ihm gehütet würde! Du böses Wasser! Nur ihn hast du schön gemacht, mein Baden war vergeblich. Ich bin dahin, ihr lieben Nymphen, und selbst ihr rettet das Mädchen nicht, das unter eurem Schutze heranwuchs. Wer wird euch nach mir bekränzen, (3) wer die armen Lämmer aufziehen, wer wird sich der geschwätzigen Grille annehmen, die ich mit [20] vieler Mühe erjagt habe, weil sie mich vor der Grotte mit ihrem Zirpen einschläfern sollte? Jetzt hat mir Daphnis den Schlaf geraubt, und sie plaudert umsonst.«
15 (1) So litt sie und so redete sie und wußte doch nicht, wovon sie sprach. Dorkon aber, der Rinderhirt, der Daphnis und den Bock aus der Grube gezogen hatte, ein Bursche, dem der erste Flaum wuchs, und der nicht nur des Eros Namen, sondern auch seine Kraft kannte, hatte sich gleich an jenem Tage in Chloe verliebt und entbrannte bald darauf noch heftiger, und da er Daphnis, der ja ein Knabe war, gering achtete, hoffte er, sich durch Geschenke oder mit Gewalt durchzusetzen. (2) Zunächst brachte er Gaben, ihm eine Hirtenflöte mit neun Rohren, nicht durch Wachs verbunden, sondern durch Erz, ihr ein Hirschkalbfell, wie es die Bacchantinnen tragen, mit Farben, als sei es bemalt worden. (3) Er galt nun für einen Freund und begann sich um Daphnis immer weniger zu kümmern, Chloe jedoch täglich etwas zuzutragen, einen zarten Käse oder einen Blütenkranz oder einen schönen Apfel. [21] Einmal kam er sogar mit einem Wildkalb aus den Bergen, dann mit einem vergoldeten Becher und ein drittes Mal mit jungen Waldvögeln. Da sie von der Kunst der Liebeswerbung nichts wußte, nahm sie die Gaben gern an, aber noch mehr freute sie sich, daß sie ihrem Daphnis nun etwas schenken konnte. (4) Eines Tages jedoch, denn auch er mußte ja des Eros Macht erfahren, entstand zwischen ihm und Dorkon ein Streit, wer der Schönere sei. Chloe sollte Schiedsrichterin sein und der Sieger sie küssen dürfen. Zuerst sprach Dorkon:
16 (1) »Ich, mein Mädchen, bin größer als Daphnis, und ich bin Rinderhirt, während er Ziegen hütet; und wie das Rind mehr ist als die Geiß, so bin ich ihm überlegen. Ferner bin ich weiß wie Milch und blond wie das Korn zur Erntezeit, und eine Mutter zog mich auf, nicht ein Tier. (2) Der da ist klein und bartlos wie ein Weib und schwarz wie ein Wolf. Er wacht über Böcke, deshalb riecht er auch schlecht; außerdem ist er so arm, daß er keinen Hund ernähren kann. Und wenn es wahr ist, was man sich [22] erzählt, daß eine Ziege ihm Milch gab, so unterscheidet er sich in nichts von einem dieser vielen Böcklein.« (3) So und ähnlich Dorkon, und darauf Daphnis:
»Eine Ziege nährte mich, doch so begann auch Zeus. Böcke hüte ich, aber ich werde sie größer machen als Rinder; und ich rieche so wenig nach ihnen wie Pan, der sogar zum größten Teil ihre Gestalt hat. (4) Satt werde ich von Käse, von Brot, das am Spieß gebacken wird, und von Weißwein, lauter Dingen, die ein wohlhabender Landmann beansprucht. Ohne Bart bin ich, das ist auch Dionysos; dunkel, so ist auch die Hyazinthe. Aber Dionysos ist mehr als die Satyrn, und die Hyazinthe mehr als die Lilien. (5) Der da ist gelb wie ein Fuchs, behaart wie ein Bock und bleich wie ein Weib aus der Stadt; und wenn du deinen Kuß geben sollst, wirst du bei mir die Lippen berühren und bei ihm die Wolle am Kinn. Denke ferner daran, liebes Mädchen, daß dir ein Schaf Nahrung gab, und daß du trotzdem schön bist.«
17 (1) Nun besann Chloe sich nicht länger, so freute sie das Lob; außerdem hatte sie sich schon [23] lange nach einem Kuß gesehnt. Sie sprang also auf und küßte Daphnis, einfältig und natürlich, aber doch so, daß es ihn völlig entflammte. (2) Dorkon trollte sich beleidigt und sann auf einen anderen Ausweg für seine Liebe; Daphnis aber, als sei er nicht geküßt, sondern verwundet worden, fühlte sich nur bedrückt, Schauder liefen ihm über den Rücken, das schlagende Herz hätte er gern festgehalten, in einem fort wollte er Chloe ansehen, und erglühte, sobald er es tat. (3) Jetzt zum ersten Male wunderte er sich, wie blond ihre Haare, wie groß die Augen waren – wie die eines Rindes, meinte er–, und wie weiß ihr Antlitz, noch weißer als Ziegenmilch, als sei er die ganze Zeit blind gewesen und habe jetzt erst sehen gelernt. (4) Sein Essen rührte er nicht an, höchstens, daß er hin und wieder nippte; er trank auch nicht, netzte nur die Lippen, wenn man ihn nötigte. Sonst war er schwatzhafter gewesen als die Grille, jetzt schwieg er; und wenn er sich früher mehr getummelt hatte als seine Ziegen, jetzt war er träge. Die Herde wurde vernachlässigt, die Flöte lag unbenutzt, und seine Miene war [24] bleicher als das Gras zur Sommerszeit. Nur in Chloes Gegenwart wurde er gesprächig, aber auch, als er einmal allein war, redete er so zu sich selbst:
18 (1) »Was hat Chloes Kuß mir angetan? Rosen sind nicht so zart wie ihre Lippen, Honig ist nicht so süß wie ihr Mund, aber ihr Kuß tut mehr weh als der Stachel einer Biene. Oft habe ich kleine Böcklein in den Arm genommen und Hündchen, kaum geborene, geherzt oder das Kalb, das Dorkon geschenkt hat. Aber dieser Kuß ist etwas ganz anderes. Mein Atem geht rasch, schrecklich schlägt mein Herz, meine Seele will vergehen, und doch möchte ich sie wieder küssen. (2) Ein schlimmer Sieg und ein seltsames Übel, dem ich nicht einmal einen Namen zu geben weiß! Vielleicht nahm Chloe vor dem Kuß ein Gift, aber dann wäre sie doch wohl gestorben. Die Nachtigallen singen, und meine Flöte schweigt; die Böcklein hüpfen, und ich sitze untätig da; die Blumen blühen, und ich flechte keine Kränze. Die Veilchen blühen und die Hyazinthe blüht, aber Daphnis welkt dahin. Wird Dorkon nicht am Ende schöner anzuschauen sein als ich?«
19 (1) [25] Von solchen Leiden redete der gute Daphnis, der zum ersten Male ein Werkzeug und ein Mund des Eros geworden war. Dorkon, der Rinderhirt, der in Chloe verliebt war, paßte inzwischen dem Dryas auf, bis er ihn eines Tages beim Setzen seiner Rebenschößlinge traf. Mit ein paar wunderschönen Käsen in der Hand ging er auf ihn zu und überreichte ihm die Gabe. Sie seien doch schon lange Freunde, sagte er, von der Zeit her nämlich, da auch jener ein Hirt gewesen. So begann er, dann brachte er die Rede auf Chloes Heirat (2) und versprach für den Fall, daß er sie zur Frau bekomme, viele prächtige Geschenke, die zu geben ihm als einem Rinderhirten nicht schwer fallen würde: ein Joch Pflugstiere, vier Bienenstöcke, fünfzig junge Apfelstämme, eine Stierhaut zum Schuhe machen und jedes Jahr ein Kalb, das der Milch entwöhnt sei. (3) Dryas hätte sich beinahe betören lassen und den Vorschlag angenommen, doch dann überlegte er, daß das Mädchen einem würdigeren Gatten bestimmt sei, und aus Angst, er gerate am Ende in widerwärtige Händel, wenn die Sache an [26] den Tag komme, lehnte er mit der Bitte, ihm zu verzeihen, den Antrag ab und schlug auch die genannten Gaben aus.
20 (1) Dorkons zweite Hoffnung war nun fehlgeschlagen, außerdem hatte er umsonst seine guten Käse weggegeben. Da meinte er denn, es bleibe ihm nichts weiter übrig, als Hand an Chloe zu legen, wenn sie allein wäre. Er hatte bemerkt, daß die beiden die Herde abwechselnd zur Tränke führten, den einen Tag Daphnis und den nächsten das Mädchen, und erdachte eine List, die nur ein Hirt erdenken kann. (2) Er nahm das Fell eines großen Wolfes, den einmal ein Stier bei der Verteidigung seiner Herde erlegt hatte, und zog es über den Leib, so daß es ihn von oben bis unten bedeckte. Die Hände steckte er in die Vorderpfoten, die Beine bis zu den Fersen hinab in die Hinterpfoten, und der Rachen saß über dem Kopf wie der Helm über dem des schwerbewaffneten Kriegers. (3) So nach Möglichkeit in ein wildes Tier verwandelt, ging er zur Quelle, aus der die Ziegen und Schafe nach dem Weiden zu trinken pflegten. Die Quelle war ganz unten in einer Erdmulde, ringsherum [27] wucherten Dorn, Brombeeren, niedriger Wachholder und Disteln, (4) es konnte da also sehr wohl ein Wolf im Hinterhalt liegen. Dort lauerte Dorkon auf die Stunde der Tränke, voll Zuversicht, daß es ihm gelingen werde, Chloe durch die Maske zu erschrecken und alsdann zu ergreifen.
21 (1) Es dauerte denn auch nicht lange, da trieb sie die Herden zur Quelle, während Daphnis zurückgeblieben war, um frisches Zweigicht als Nachspeise für seine Böcklein zu schlagen. (2) Die Wachhunde für die Schafe und Ziegen folgten ihr, und da sie ihrer Gewohnheit nach geschäftig herumstöberten, spürten sie bald auch Dorkon auf, der sich eben anschickte, über das Mädchen herzufallen. Mit mächtigem Gebell stürzten sie sich auf den vermeintlichen Wolf, umringten ihn und verbissen sich in das Fell. (3) Solange ihn die Hülle noch schützte, wehrte er sich, weil er nicht entdeckt werden wollte, schweigend in seinem Versteck, doch als Chloe ihn erblickte und sich entsetzte und Daphnis herbeirief, und die Meute das Fell herunterzerrte und seinen Leib packte, schrie er laut [28] und bat das Mädchen und dann den Knaben, der auch schon zur Stelle war, ihm beizustehen. (4) Rasch beschwichtigte der gewohnte Zuruf die Hunde. Dann geleiteten die beiden den an Schenkeln und Schultern Verletzten zur Quelle und wuschen die Bißwunden aus, sammelten auch grüne Ulmenrinde, kauten sie hübsch weich und legten sie auf die schmerzenden Stellen. (5) Und so unerfahren waren sie in dem, was Liebe ist, daß sie die ganze Verkleidung für einen Hirtenscherz hielten und Dorkon gar nicht böse waren. Sie redeten ihm sogar noch gut zu und brachten ihn ein Stück Weges, bevor sie ihn entließen.
22 (1) Der war nun auf die Art der Gefahr entronnen, war nicht dem Wolfsrachen, wie es im Sprichwort heißt, wohl aber dem der Hunde entkommen, und durfte sich pflegen. Daphnis und Chloe dagegen hatten bis zur Nacht viel Arbeit mit dem Eintreiben der Ziegen und Schafe. (2) Das Wolfsfell hatte die Tiere erschreckt, das Hundegebell hatte sie verstört, sie hatten sich in die Felsen oder ans Meer verlaufen, und wenn sie auch so abgerichtet [29] waren, daß sie jedem Zuruf gehorchten, sich durch die Flöte beruhigen ließen und sich beim Händeklatschen sammelten, (3) so brachte die Furcht jetzt doch alle diese Lehren in Vergessenheit. Die beiden hatten ihre liebe Not und mußten sie schließlich einzeln, wie Hasen auf der Fährte, erjagen und in die Ställe treiben. In dieser einen Nacht erfreuten sie sich eines tiefen Schlafes, und die Ermattung war Arzenei für ihren Liebeskummer. (4) Doch schon bei Anbruch des nächsten Tages mußten sie wieder leiden. Es war schön, zusammen zu sein, und bitter, sich zu trennen. Sie sehnten sich nach irgend etwas und konnten doch nicht sagen, wonach. Nur eins wußten sie, daß für ihn der Kuß und für sie das Bad ein Unheil gewesen war. Außerdem entflammte sie die Jahreszeit.
23 (1) Der Frühling war zu Ende, der Sommer begann, und alles stand in der Reife. An den Bäumen reifte die Frucht, auf den Feldern das Korn. Lieblich zirpten die Grillen, süß dufteten die Früchte, reizend blökten die Lämmer. (2) Die Flüsse glitten sanft dahin, und es war, als [30] ob sie sängen; die Winde flöteten, wenn sie durch die Fichten gingen; die Äpfel fielen zur Erde, wie um zu lieben; und die Sonne, die allem Schönen hold ist, trieb die Menschen, sich zu entkleiden. Daphnis, durch alles, was um ihn her vorging, entbrannt, ging in den Fluß, badete oder jagte den sich tummelnden Fischen nach. Oft trank er auch, um das innere Feuer zu löschen. (3) Chloe molk inzwischen die Schafe und dazu noch einen Teil der Ziegen und hatte viel Mühe mit dem Gerinnen der Milch, denn die Mücken waren eine Plage, und wenn man sie verscheuchen wollte, stachen sie. Nach dem Melken wusch sie ihr Gesicht, schmückte sich mit Fichtenzweigen, legte das Hirschkalbfell um, füllte einen Krug mit Wein und Milch und hielt einen gemeinsamen Trunk mit Daphnis.
24 (1) Zur Mittagstunde ließen sie einander erst recht nicht aus den Augen. Wenn sie ihn unbekleidet sah, unterlag sie seiner blühenden Schönheit und verzehrte sich, weil sie nichts an ihm auszusetzen fand; und wenn sie das Fell und den Fichtenkranz trug und ihm die Schale reichte, [31] war ihm, als habe er eine von den Nymphen aus der Grotte vor sich. (2) Er nahm ihr den Kranz vom Kopf und setzte ihn sich selber auf, aber vorher küßte er ihn; und wenn Daphnis nackt war, weil er badete, schlüpfte sie in sein Gewand, bedeckte es vorher aber auch erst mit Küssen. (3) Zuweilen warfen sie sich mit Äpfeln oder ordneten und schmückten gegenseitig ihr Haar. Sein schwarzes verglich sie mit Myrten, und von ihrem hellen, rosigen Gesicht sagte er, es sei wie die Äpfel. (4) Er unterwies sie auch im Flöte spielen. Doch wenn sie zu blasen nur angefangen hatte, entriß er ihr schon die Schalmei und durchlief die Rohre mit den eigenen Lippen, und unter dem Vorwande, daß er sie verbessern müsse, schenkte er ihr mittels der Flöte zärtliche Küsse.
25 (1) Als er einmal zur Mittagszeit spielte, während die Herden im Schatten lagen, schlummerte Chloe unversehens ein. Daphnis sah es und legte die Flöte beiseite, und da er jetzt keine Furcht zu haben brauchte, betrachtete er ihre Gestalt mit unersättlichen Blicken. Gleichzeitig sagte er leise vor sich hin: (2) »Lieblich ist der [32] Schlaf ihrer Augen, und süß der Hauch ihres Mundes! Die Früchte duften nicht so und nicht die Blütenbäume. Doch scheue ich mich, ihn zu küssen, denn der Kuß sticht ins Herz und macht rasend wie frischer Honig. Auch wecke ich sie am Ende, wenn ich sie küsse. (3) Die schwatzhaften Grillen! Sie lassen sie nicht schlafen, so laut zirpen sie. Und wie die Böcke beim Kämpfen mit den Hörnern klappern! Feiger als Wölfe sind die Füchse, daß sie die lauten nicht geraubt haben.«
26 (1) Während dieses Selbstgesprächs fiel eine Grille, die einer nachjagenden Schwalbe zu entkommen suchte, in den Busen des Mädchens. Der Vogel konnte sie nun nicht fangen, kam ihr bei der Verfolgung aber so nahe, daß seine Schwingen Chloes Wangen streiften. (2) Die begriff den Hergang nicht und fuhr mit einem lauten Schrei aus dem Schlummer. Als sie dann aber die Schwalbe sah, die noch in der Nähe flatterte, und Daphnis, der über ihren Schreck lachte, war es mit ihrer Angst vorbei, und sie rieb sich die schlaftrunkenen Augen. (3) Da ließ sich die Zikade im Busen vernehmen, einer [33] Schutzbedürftigen gleich, die ihren Dank für die Errettung ausspricht. Wieder schrie Chloe laut auf, und wieder lachte Daphnis. Dann benutzte er den Vorwand, schob seine Hand in den Busen und holte die gute Grille heraus, die auch in seiner Rechten nicht aufhörte zu zirpen. Das Mädchen freute sich über den Anblick, nahm das Tier, küßte es und tat das geschwätzige wieder in sein Versteck.
27 (1) Ein andermal ergötzte sie eine Wildtaube, deren einfacher Vers aus dem Walde herübertonte. Chloe wollte wissen, was sie sagte, da belehrte Daphnis sie, und erzählte, was darüber im Umlauf ist. (2) »Einmal, liebes Mädchen, war auch sie ein Mädchen, so schön wie du und Hüterin vieler Rinder in den Wäldern. Sie war sangeskundig, und die Tiere freuten sich ihrer Kunst so, daß sie sie niemals mit dem Stock zu schlagen oder mit dem Stachel zu berühren brauchte. Immer saß sie unter einer Fichte, mit Fichtenzweigen bekränzt, und sang vom Pan und von der Pitys, und die Tiere blieben der Stimme treu. (3) Nicht weit von ihr war ein Knabe, der hütete gleichfalls Rinder [34] und war ebenso schön und sangeskundig wie sie. Er wollte mit ihr wetteifern, und so ließ er sich auch hören, und da seine Stimme stärker und männlicher war und doch süß, denn er war ja ein Knabe, gelang es ihm, sie um ihre acht schönsten Rinder zu kränken und diese in seine Herde herüberzulocken. (4) Tief betrübt über den Verlust und ihre Niederlage fleht sie die Götter an, sie, noch bevor sie heimkommt, in einen Vogel zu verwandeln. Die Götter erhören sie und machen sie zu dem, der jetzt in den Bergen lebt und gesangliebend ist wie sie. Und noch heute verkündet sie im Lied ihr Mißgeschick und ruft nach den verlorenen Tieren.«
28,2 unsicher
28 (1) Solcherlei Freuden bereitete ihnen der Sommer. Doch als der Herbst da war und die Zeit der reifen Trauben, kamen tyrische Seeräuber, und zwar, um nicht als Barbaren zu gelten, auf einem karischen Kaperschiff. Mit Schwertern und Brustpanzern ausgerüstet, gingen sie an Land und schleppten alles weg, was ihnen in die Hände fiel: duftenden Wein, sehr viel Korn und Wabenhonig. Rinder aus Dorkons Herde trieben sie fort und (2) ergriffen auch Daphnis, der [35] am Strande herumlief, da das Mädchen aus Furcht vor dem Ungestüm der Hirten Dryas’ Schafe erst später auf die Weide brachte. Die Männer hatten den schönen und stattlichen Burschen, der mehr wert war als aller Raub auf den Feldern, kaum erblickt, da dachten sie an nichts mehr, nicht an die Ziegen und nicht an den Schatz der Nachbarfluren, sondern zerrten ihn aufs Schiff, wie sehr er auch weinte und in seiner Ratlosigkeit nach Chloe rief. (3) Sie lösten auch sofort das Tau, nahmen die Ruder zur Hand und fuhren aufs Meer hinaus. Inzwischen kam Chloe mit den Schafen und mit einer neuen Hirtenflöte, die sie Daphnis schenken wollte. Da sieht sie die aufgebrachten Ziegen und hört Daphnis’ immer lauteres Schreien. Auf der Stelle verläßt sie ihre Herde, wirft die Flöte weg und rennt zu Dorkon, um seinen Beistand zu erflehen.
29 (1) Der lag am Boden, denn die Räuber hatten ihn übel zugerichtet. Er ließ viel Blut und atmete kaum noch, doch als er das Mädchen erblickte, regte sich ein Fünkchen der alten Liebe, und er sagte: »Bald werde ich sterben, Chloe, denn [36] wie ein Tier haben die gottlosen Räuber mich, da ich für meine Tiere kämpfte, erschlagen. (2) Doch du sollst deinen Daphnis retten, für mich Rache nehmen und den Schurken ein böses Ende bereiten. Meine Rinder sind gewohnt, auf den Ton dieser Flöte zu hören und ihrem Klang zu folgen, auch wenn sie noch so fern sind. Nimm also die Flöte und spiel auf ihr die Weise, die ich Daphnis einmal gezeigt habe, und die du dann von ihm gelernt hast. Das weitere überlaß ihr und den Tieren! Die Flöte schenke ich dir; durch sie habe ich manchen Wettstreit mit Rinder- und Ziegenhirten gewonnen. (3) Dafür küsse mich, solange ich noch lebe, und weine ein paar Tränen, wenn ich tot bin. Und denke an mich, wenn du einen andern meine Rinder hüten siehst!«
30 (1) Nach diesen Worten küßte Dorkon seinen letzten Kuß, denn mit dem Kuß und den Worten schwand auch sein Leben. Chloe nahm die Flöte, setzte sie an die Lippen und blies so laut wie sie nur konnte. Die Rinder horchen auf, erkennen den Ton und springen mit einem einzigen Satz laut brüllend in die Flut. (2) Bei dem [37] mächtigen Druck legt sich das Schiff ganz auf die eine Seite, durch den Sturz der Tiere wird die Flut verdrängt, sie kehrt jedoch zurück und begräbt das Fahrzeug im Wogenschwall. Die Insassen können sich nicht halten, haben aber nicht alle die gleiche Aussicht auf Rettung. (3) Die Räuber trugen Schwerter und schuppige Brustpanzer, außerdem staken die halben Unterschenkel in Beinschienen, während Daphnis als ein Hirt des Flachlandes ohne Schuhwerk und bei der immer noch großen Hitze außerdem nur halb bekleidet ging. (4) So wurden jene nach kurzen Versuchen in die Tiefe gezogen, während er sein Gewand ohne Mühe abstreifte. Trotzdem ermüdete auch er, weil er vorher nur in Flüssen geschwommen hatte. (5) Doch die Not lehrte ihn bald, wie er sich helfen könne. Er warf sich mitten unter die Tiere, ergriff von zwei Rindern je ein Horn und ließ sich sorglos und gemächlich tragen, als sei er ein Wagenlenker. (6) Ein Rind schwimmt nämlich besser als irgendein Mensch, einzig den Wasservögeln steht es nach und den Fischen selbst, und geht nur dann unter, wenn die Hufe [38] durch die Nässe weich werden und sich ablösen. Daß dies wahr ist, bezeugen noch heute viele Stellen des Meeres, die Rinderfurt heißen.
31 (1) So wird Daphnis gerettet und entgeht wider alles Erwarten zwei Gefahren, dem Raub und dem Schiffbruch. Als er auf sicherem Boden war und die weinende und zugleich lachende Chloe wiedersah, sank er ihr an die Brust und fragte, was sie eigentlich mit dem lauten Blasen gemeint habe. (2) Da erzählt sie ihm alles: daß sie zu Dorkon gelaufen sei, wie der seine Rinder abgerichtet, und wie sie habe flöten müssen, und daß er tot sei. Nur, daß sie ihn geküßt hatte, schämte sie sich zu sagen. Sie beschlossen nun, ihren Wohltäter zu ehren und machten sich mit den Verwandten auf, um den armen Dorkon zu begraben. (3) Über dem Leichnam schütteten sie einen kleinen Hügel auf, setzten eine Reihe edler Bäume und befestigten daran die Erstlinge ihres Fleißes. Dann spendeten sie Milch und Traubensaft und zerbrachen über dem Grabe mehrere Flöten. (4) Die Rinder brüllten kläglich, und einige liefen dabei, wie irre [39] geworden, hin und her. Die Hirten meinten, das sei die Klage der Tiere um ihren toten Hüter.
32 (1) Nach Dorkons Bestattung führte Chloe ihren Daphnis in die Nymphengrotte und wusch ihn. Dann badete sie selbst zum ersten Male vor seinen Augen, und ihr Leib war so weiß und rein, daß er, um schön zu werden, des Bades nicht bedurfte. (2) Darauf pflückten sie an Blumen, was es in dieser Jahreszeit noch gab, schmückten die Götterbilder, hängten Dorkons Hirtenflöte als Weihgeschenk am Felsen auf und gingen dann und sahen nach ihren Ziegen und Schafen. (3) Das lag alles und weidete nicht und blökte nicht, nur weil es sich nach dem verschwundenen Hirten sehnte. Denn als die beiden erschienen und wie immer die Namen riefen und flöteten, standen die Schafe auf und grasten, und die Ziegen sprangen ausgelassen umher, als freuten sie sich der Errettung ihres lieben Hüters. (4) Nur Daphnis konnte nicht froh werden, seitdem er Chloe unbekleidet gesehen und die sonst verborgene Schönheit sich enthüllt hatte. Sein Herz war krank und wie [40] vergiftet. Sein Atem ging rasch, als sei ihm einer auf den Fersen, und stockte dann wieder, als habe er sich bei all der Hast erschöpft. Seine Seele, meinte er, sei bei den Räubern geblieben, denn seine Jugend und Unerfahrenheit wußten nicht, daß Eros der Räuber war.
