2. Buch
1 (1) [41] Da nun der Herbst auf seiner Höhe stand und die Weinlese vorbereitet wurde, arbeitete jedermann auf der Flur. Die einen richteten die Keltern her, andere wuschen die Fässer aus und wieder andere flochten Kiepen. (2) Der holte eine Traubenschere, jener einen Stein zum Auspressen des Saftes, und ein Dritter suchte trockene Gerten und klopfte sie zurecht, denn sie sollten beim nächtlichen Wegschaffen des Mostes als Fackeln dienen. (3) Auch Daphnis und Chloe mußten ihre Schafe und Ziegen im Stich lassen und die Kraft ihrer Hände zur Verfügung stellen. Er brachte Trauben in Kiepen, schüttete sie in Keltern, zertrat sie und goß dann den Wein in Fässer, während sie für die Winzer das Essen bereitete und als Trunk älteren Wein einschenkte oder auch beim Lesen der niedrigen [42] Trauben half. (4) Übrigens steht der Wein fast auf ganz Lesbos niedrig. Er wird weder an aufrechten Stöcken noch an Bäumen gezogen, sondern streckt seine Ranken über den Boden hin aus und greift wie Efeu um sich. Ein Kind, dem man kaum die Hände aus den Windeln befreit hat, vermöchte die Trauben zu greifen.
2 (1) Nun warfen die Weiber, die der Gepflogenheit nach beim Fest des Dionysos und bei der Herstellung des Weines zum Helfen herangeholt werden, ihre Augen auf Daphnis und priesen ihn, der dem Dionysos an Schönheit gleichkomme. Es küßte ihn wohl auch eine Dreistere, was ihm behagte, Chloe jedoch betrübte. (2) Anderseits riefen die Männer, die mit Keltern beschäftigt waren, dem Mädchen hübsche Worte zu, sprangen wie toll um sie herum, nicht anders als Satyrn um eine Bacchantin, und erklärten, sie möchten Schafe sein, um von ihr gehütet zu werden. Und das machte ihr Freude, während es Daphnis traurig stimmte. (3) Schließlich sehnten beide das Ende der Weinlese herbei. Sie wollten gern an die vertrauten Plätze zurückkehren [43] und lieber den Ton der Flöte und das Blöken der Lämmer hören als den häßlichen Lärm. (4) Und als nach einigen Tagen die Weinstöcke abgeerntet waren und die Fässer den Most aufgenommen hatten und es nicht mehr so vieler Hände bedurfte, trieben sie ihre Herden wirklich wieder auf die Flur. Ihre Freude war so groß, daß sie vor den Nymphen niederknieten und ihnen Reben mit den Trauben daran als Erstlinge der Weinlese darbrachten. (5) Freilich waren sie auch früher nie gleichgültig vorübergezogen, hatten sich stets beim Austreiben aufgehalten und bei der Heimkehr gebetet und jedesmal etwas gespendet: eine Blume, eine Frucht, einen belaubten Zweig oder eine Schale Milch. (6) Dafür sollten sie ja auch später von den Göttinnen belohnt werden. Fürs erste durfte man sie allerdings noch mit losgelassenen Hunden vergleichen. Sie tollten umher, bliesen auf ihrer Flöte, sangen und balgten sich mit Böcken und Schafen.
3 (1) Während sie sich so vergnügen, tritt ein alter Mann zu ihnen, der ist nur mit einem Ziegenfell bekleidet und trägt grobes Schuhwerk und [44] hat eine ziemlich abgenutzte Hirtentasche. Er setzt sich und sagt: (2) »Ich bin der alte Philetas, liebe Kinder. Oft habe ich hier für die Nymphen gesungen und dort für Pan die Flöte geblasen, und nur dank meiner Kunst war ich Herr über eine große Rinderherde. Jetzt komme ich zu euch, um euch zu melden, was ich gesehen und wiederzuerzählen, was ich gehört habe. (3) Mit meiner Hände Arbeit habe ich mir einen Garten geschaffen, denn meines Alters wegen kann ich schon seit langem kein Hirt mehr sein. Dieser Garten hat alles, was das Jahr bringt, und alles zur rechten Zeit: (4) im Frühling Rosen, Lilien, Hyazinthen und beiderlei Veilchen, im Sommer Mohn, Birnen und Äpfel von jeder Art und jetzt im Herbst Reben, Feigen, Granaten und grüne Myrten. (5) Jeden Morgen sammeln sich in ihm Scharen von Vögeln, zum Fressen und zum Singen. Er hat viel Laub und viel Schatten und von drei Quellen Wasser, und wenn die Mauer nicht wäre, könnte man ihn wohl für eine Schöpfung der Natur halten.
4 (1) Als ich heute Mittag den Garten betrat, steht [45] da auf einmal unter den Rosen- und Myrtenbäumen ein kleiner Knabe, Myrten und Rosen in der Hand, weiß wie Milch, goldblond gleich dem Feuer und so glänzend rein, als komme er eben aus dem Bad. Nackt war er und ohne Aufsicht und vertrieb sich die Zeit damit, den Garten zu plündern, als gehöre der keinem andern als ihm. (2) Ich stürzte mich sofort auf ihn, um ihn zu greifen, denn ich hatte natürlich Angst um meine Myrten- und Rosenstämme, die er womöglich zugrunde richtete. Doch er entwischte mir flink und behende, schlüpfte unter die Rosenbüsche oder verkroch sich unter die Mohnblätter, ganz wie ein kleines Rebhuhn. (3) Wie habe ich mich früher manchmal beim Verfolgen eines Böckleins angestrengt, und wie bin ich oft müde geworden, wenn ich einem Kälbchen nachjagte! Aber dieses schlaue Wesen war überhaupt nicht zu fangen. Ich bin ein alter Mann und ermattete bald, stützte mich also auf meinen Stab und paßte doch auf, daß er mir nicht ganz davonlaufe, und dabei fragte ich ihn, welchem Nachbar er zugehöre, und weshalb er sich in fremden Gärten herumtreibe. (4) Er antwortete nicht, stellte sich dafür aber vor mich hin, lachte ganz allerliebst, warf mich mit seinen Myrten und, ich weiß selbst nicht wie, bezauberte mich so, daß ich ihm nicht mehr böse sein konnte. Ich flehte ihn so gar an, auf meinen Arm zu kommen und sich nicht zu fürchten, und schwor ihm bei den Myrten, ihn bald wieder freizugeben, ihm auch noch Äpfel und Rosen zu schenken und ihm obendrein zu erlauben, wann er wolle, an den Bäumen und Blumen zu rupfen, wenn er mir nur einen einzigen Kuß gebe.
5 (1) Da lachte er ganz hell auf und sagte mit einer Stimme, wie sie die Schwalbe nicht hat und nicht die Nachtigall und nicht einmal ein Schwan, und wäre er so alt geworden wie ich: „Es widerstrebt mir durchaus nicht, dich zu küssen, Philetas, denn ich sehne mich mehr nach Küssen als du nach deiner Jugend. Aber ich weiß nicht, ob die Vergünstigung deinen Jahren zuträglich ist. (2) Denn schon nach einem Kusse wird dein Alter dich nicht vor dem Wunsche schützen, nie mehr von mir zu lassen. Und ich bin schwer zu fassen, sogar für Falken und Adler und selbst für noch schnellere Vögel. Ich bin nämlich kein Kind, wenn ich auch so aussehe, sondern älter als Kronos und alles, was der Zeit angehört. (3) Ich kannte dich schon, als du in jungen Jahren im Flachlande die mächtige Rinderherde hütetest, und saß schon bei dir, als du unter den Buchen da hinten die Flöte bliesest, weil du in Amaryllis verliebt warst. Doch du sahst mich nicht, obschon ich fast neben dem Mädchen stand. Später gab ich sie dir, und du hast nun Söhne, die wackere Hirten und Landleute sind. (4) Augenblicklich stehen Daphnis und Chloe unter meinem Schutz. Wenn ich sie morgens herausgeführt habe, gehe ich in deinen Garten und freue mich an deinen Blumen und Bäumen und bade mich in deinen Quellen, und nur von meinem Bad sind die Blumen und Bäume so schön. (5) Und nun sieh nach, ob ein Stamm geknickt, eine Frucht abgerissen, eine Wurzel zertreten oder ein Wasser getrübt ist! Und dann sei stolz, daß du als einziger Sterblicher in so hohem Alter mich Knäblein sehen durftest!“
6 (1) Sprach’s und schwang sich auf die Myrtenbäume wie eine junge Nachtigall und kletterte durch das Laub von Zweig zu Zweig bis zum Wipfel. Ich sah Fittiche an den Schultern und einen winzigen Bogen mit Pfeilen zwischen den Flügeln, doch gleich darauf sah ich es nicht mehr und habe auch ihn selbst nie wieder gesehen. (2) Ich will nun umsonst zu meinen grauen Haaren gekommen und durch Alter töricht geworden sein, wenn euer Leben, liebe Kinder, nicht dem Eros geweiht ist, und wenn er euch nicht in seine Obhut nimmt.«
7 (1) Die beiden waren glücklich über die Erzählung, zumal sie sie für ein Märchen hielten und nicht für Wahrheit, und fragten, was Eros denn nun sei, ein Kind oder ein Vogel, und was er alles vermöchte. Und wieder sprach Philetas: »Ein Gott ist Eros, liebe Kinder, jung und schön und mit Flügeln; deshalb freut er sich an allem Jungen und deshalb ist er immer dem Schönen auf der Spur und beflügelt die Seelen. (2) Groß ist seine Macht, größer noch als die des Zeus. Er ist Herr über die Elemente, über die Gestirne und sogar über die Götter, die ihm doch an Rang gleich sind. Über sie alle hat er mehr Gewalt als ihr über eure Ziegen und Schafe. (3) Alle Blumen sind des Eros Werk, auch diese Bäume hier hat er gemacht, es ist sein Wille, daß die Ströme fließen und die Winde wehen. (4) Einen Stier sah ich in Eros’ Banden, der brüllte wie von der Bremse gestochen, und einen Bock, der liebte eine Ziege und wich nicht von ihrer Seite. Ich selbst brannte als Jüngling für Amaryllis und vergaß Essen, Trinken und Schlafen. (5) Meine Seele war krank, gewaltig schlug mein Herz, mein Leib zitterte. Ich jammerte wie einer, den man peitscht, dann war ich wieder stumm wie ein Toter. Ich stürzte mich in jeden Fluß, um mein Feuer zu löschen, (6) rief zu Pan, der für Pitys in Flammen gestanden hatte, pries Echo, die mir den Namen Amaryllis nachsprach, und zerbrach meine Hirtenflöten, weil sie meine Rinder gefügig machten, aber das Mädchen nicht erweichen konnten. (7) Keine Arzenei gibt es gegen die Liebe, keinen Trank, keine Speise und kein Zauberlied. Nichts hilft als sich küssen, sich umarmen und nackt beieinanderliegen.«
8 (1) Nach Erteilung solcher Lehren geht Philetas von dannen, doch vorher wird er mit einigen Käsen und einem Böcklein, das schon Hörner hat, nicht übel belohnt. Die beiden hatten nun zum ersten Male den Namen Eros gehört, und als der Alte fort war, wurden sie kleinlaut und traurig, und abends nach der Heimkehr verglichen sie seine Worte mit den eigenen Erfahrungen: (2) »Die Liebenden grämen sich, das tun auch wir; sie mögen nicht essen, uns geht es nicht anders; sie finden keinen Schlaf, wir leiden am gleichen Übel; sie glauben in Flammen zu stehen, auch in uns brennt ein Feuer; sie möchten sich nur immer ansehen, deshalb sehnen wir stets den Anbruch des Tages herbei. (3) Ja, das ist Liebe, und wir haben bisher nur nicht gewußt, daß wir uns lieben. Denn wenn es nicht Liebe wäre, und wir uns nicht liebten, weshalb wären wir traurig und suchten immer nur uns? Die volle Wahrheit hat Philetas gesprochen, (4) und es ist dasselbe Knäblein, das in seinem Garten war, und das unseren Vätern im Traume erschien und uns zu Hirten bestimmte. Ob man es nicht doch greifen könnte? Aber es ist klein und wird stets entwischen. Und ob es wirklich nicht möglich ist, ihm auszuweichen? Aber es hat ja Flügel und holt jeden ein. (5) Vielleicht sollten wir bei den Nymphen Zuflucht und Beistand suchen. Doch nicht einmal Pan konnte dem Philetas helfen, als er Amaryllis liebte. Also müssen wir wohl die Mittel anwenden, die der Alte uns genannt hat, müssen uns küssen, uns umarmen und nackt am Boden liegen. Zwar ist es kalt, aber auch das wollen wir nach des Philetas Vorschrift auf uns nehmen.«
9 (1) So machten sie bei Nacht noch einmal eine Schule durch, und als es dann Tag wurde, und sie die Herden auf die Weide trieben, küßten sie sich gleich nach der Begrüßung und umarmten einander so zärtlich, wie es früher nicht geschehen war. Aber die dritte Arzenei, das Entkleiden und Zusammenliegen, mochten sie noch nicht anwenden; nicht nur für ein Mädchen, selbst für einen jungen Ziegenhirten schien sie ein zu großes Wagnis. (2) Die Nacht brachte wieder Schlaflosigkeit und Gedanken über das Geschehene und Vorwürfe wegen des Versäumten: »Wir küßten uns, aber es hat nichts geholfen; wir umarmten uns und sind doch dem Ziele nicht nähergekommen. Also ist wohl das Niederliegen das einzige Heilmittel gegen die Liebe, und wir müssen auch das versuchen, denn sicher wohnt ihm mehr Kraft inne als dem Kuß.«
10 (1) Die Folge solcher Überlegungen war, daß der Traum ihnen Liebesbilder schenkte, Küsse und Umarmungen; wozu sie bei Tage nicht den Mut gefunden hatten, das taten sie jetzt, und lagen nackt beieinander. (2) Glühender erhoben sie sich am andern Morgen, trieben rasch die Herden hinaus, weil sie sich nach Küssen sehnten, und liefen sich lächelnd entgegen, sobald sie einander sahen. (3) Mit Küssen begann es, und die Umarmungen folgten, aber das dritte Heilmittel ließ noch auf sich warten, denn Daphnis mochte nicht davon sprechen, und Chloe wollte nicht den Anfang machen. Doch der Zufall verhalf ihnen auch dazu.
11 (1) Sie setzten sich zusammen auf einen Eichenstumpf, küßten sich mit unersättlicher Lust, umarmten sich auch und preßten dabei die Lippen fest aufeinander. (2) Bei einer solchen Umarmung zog Daphnis seine Chloe einmal etwas heftiger an sich, sie sank ein wenig auf die Seite, und er sank mit, weil er den Kuß nicht unterbrechen wollte. Da erkannten sie das Traumbild und lagen lange wie zusammengeschmiedet. (3) Aber das schien nun der Gipfel der Liebesfreuden, jedenfalls wußten sie weiter nichts anzufangen, und so verging der Tag, ohne daß mehr geschah. Trotzdem fürchteten sie den Augenblick, an dem sie sich würden trennen und die Herden heimwärts treiben müssen, und vielleicht hätten sie auch noch etwas anderes getan, wäre nicht ein gewaltiger Aufruhr über das ganze Land gekommen.
12 (1) Reiche junge Leute aus Methymna, die den Monat der Weinlese auswärts verbringen wollten, hatten ein kleines Fahrzeug flottgemacht und die Ruderbänke mit ihren Sklaven besetzt, und wählten dann zum Besuch das Gebiet von Mytilene, soweit es am Meer liegt. (2) Manch hübschen Hafen hat diese Küste, auch ist sie reich an prächtigen Gebäuden. Es gibt da eine stattliche Anzahl von Bädern, Lustgärten und kleinen Wäldern, natürlichen und künstlich angelegten, und alle eignen sich zum Zeitvertreib. (3) Die jungen Leute fuhren umher, landeten ab und zu, taten niemandem etwas zuleide und machten sich gute Tage. Mit Ruten und Angelhaken fingen sie, auf niedrigen Felsen sitzend, die Fische, die zwischen den Klippen hausen, und im Weingelände brachten sie durch Lärm die Hasen in Aufruhr, hetzten sie mit ihren Hunden und griffen sie dann in Netzen. (4) Auch die Vogeljagd betrieben sie, fingen Wildgänse, Enten und Trappen in Schlingen, hatten also außer dem Vergnügen noch einen Nutzen für die Tafel. Was sie sonst brauchten, kauften sie den Bauern ab und zahlten dabei stets weit über den Preis. (5) Allerdings handelte es sich nur um Brot, Wein und Obdach. Es war Herbst, man sah stürmische Nächte voraus, und da es unter solchen Umständen nicht ratsam schien, auf See zu bleiben, zogen sie ihr Fahrzeug aufs Trockene.
13 (1) Nun war einem Bauern das Seil gerissen, das zum Heraufwinden des Steines dient, mit dem man die zerstampften Trauben preßt; und da er ein neues brauchte, schlich er ans Meer, trat behutsam zum unbewachten Schiff, machte das Tau los, nahm es mit nach Hause und verwendete es für seine Zwecke. (2) Die jungen Methymnäer machten sich am nächsten Morgen auf die Suche, doch der Diebstahl kam nicht ans Licht. Trotzdem schalten sie nur ein wenig mit ihren Wirten und segelten dann fort. Nach einer Fahrt von dreißig Meilen landeten sie da, wo Chloe und Daphnis ihre Weideplätze hatten, weil das Flachland ihnen zur Hasenjagd besonders geeignet schien. (3) Aber sie hatten kein Seil für ihren Anker, drehten also aus langen, grünen Weidenruten einen Strick und machten damit das Hinterdeck fest. Dann stellten sie die Netze an den Schlupfwegen auf, die ihnen verheißungsvoll schienen, und ließen ihre Meute los. (4) Die stürmte bellend davon und versetzte die armen Ziegen in solchen Schrecken, daß sie nicht auf ihren Halden blieben, sondern zum Meer liefen. Am Strande fanden sie aber kein Futter, und so machten sich die Dreisteren an das Schiff und fraßen den Strick aus Weidenzweigen ab, mit dem es angebunden war.
14 (1) Eben jetzt erhob sich im Gebirge ein Wind und brachte das Meer in ein leises Wogen. Da löste das zurückebbende Wasser das Fahrzeug, zog es hinab, und bald trieb es auf die hohe See hinaus. (2) Sobald die Methymnäer merkten, was geschehen war, liefen einige zum Strande, während andere die Hunde abriefen, und dabei schrien sie alle so laut, daß die Leute es in der ganzen Nachbarschaft hörten und herbeieilten. Aber das Schiff war nicht mehr zu retten, denn der Wind war stärker geworden, und mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit trug die Flut es davon. (3) Die jungen Leute, die viel Hab und Gut verloren, suchten den schuldigen Ziegenhirten, und als sie Daphnis fanden, zogen sie ihm die Kleider vom Leibe und schlugen ihn, und einer holte sogar eine Hundeleine und legte ihm die Hände auf den Rücken, um ihn zu fesseln. (4) Daphnis schrie, als er geschlagen wurde, bat die Bauern um Schutz und Hilfe und rief vor allem nach Lamon und Dryas. Die besaßen Kräfte, trotz ihrer Jahre, die Arme besonders waren sehnig und stark von der vielen Arbeit, und so nahmen sie den Knaben, hielten ihn fest und forderten eine rechtliche Untersuchung des Falles.
15 (1) Damit erklärten sich alle einverstanden. Zum Richter wurde Philetas, der Rinderhirt, bestimmt, der von den Anwesenden der älteste war und bei den Bauern außerdem für besonders gerecht galt. Zuerst brachten die Methymnäer ihre Klage vor, und zwar in einer einfachen und bündigen Sprache, als könne der Hirt sonst seine Entscheidung nicht fällen: (2) »Zum Jagen sind wir hier ausgestiegen, haben unser Fahrzeug mit jungen Weidenruten festgebunden, es am Ufer zurückgelassen und uns dann mit der Meute auf die Suche nach Wild gemacht. Inzwischen laufen die Ziegen dieses Jungen an den Strand, fressen den Strick ab, und das Schiff ist los. (3) Du selbst hast es auf dem Meere treiben sehen. Aber was meinst du wohl, was alles darin ist, und was an Kleidern und schönem Hundegeschirr und wieviel Geld mit ihm verlorengeht! Das ganze Land hier könnte man damit kaufen. Als Ersatz fordern wir diesen Knaben. Das ist ja doch ein schlechter Hirt, der seine Ziegen, als wäre er ein Seemann, ans Meer auf die Weide schickt.«
16 (1) So lauteten die Beschuldigungen der Methymnäer. Und dann sprach Daphnis. Er vergaß die Schmerzen, die er von den Schlägen hatte, sobald er Chloe unter den übrigen erblickte, und sagte: »Ich bin kein schlechter Hirt. Noch nie hat einer meiner Nachbarn sich beklagt und behauptet, meine Tiere fräßen in seinem Garten oder knickten seine Rebenschößlinge. (2) Aber wer seine Hunde so übel abrichtet wie die Männer da, der ist kein guter Jäger. Wie ein Rudel Wölfe ist die Meute gerannt und hat durch ihr Gebelfer meine Ziegen erschreckt und von überallher ans Meer gejagt. (3) Wohl haben die Tiere den Strick abgefressen, im Ufersand gibt es ja auch kein Gras und keine Hagäpfel und keinen Thymian. Allerdings ist das Fahrzeug von Wind und Wellen abgetrieben worden, aber das ist des Windes Schuld und nicht die meiner Ziegen. Möglich auch, daß Kleider und Geld darin sind; ist aber zu begreifen, daß ein verständiger Mensch es fertig bringt, ein Schiff, das solche Schätze birgt, mit Weidenruten festzumachen?«
17 (1) Und Daphnis vergoß auch noch Tränen bei seiner Rede, und damit rührte er die Herzen der Bauern so, daß der alte Philetas bei Pan und den Nymphen schwor, weder der Knabe habe schuld noch die Ziegen, sondern das Meer und der Wind, und über die dürfe er nicht Richter sein. (2) Doch die Methymnäer überzeugte er mit diesem Schiedsspruch nicht. Voller Zorn sprangen sie auf, schleppten Daphnis fort und waren schon wieder dabei, ihn zu fesseln. (3) Aber jetzt empörten sich die Landleute, fielen über die Fremden her wie ein Schwarm Stare oder Dohlen und entrissen ihnen auch nach kurzer Zeit den Jungen, der selber wacker mitkämpfte. Sogar mit Stöcken hieben sie drein, bis jene flüchteten, und auch dann ließen sie erst ab, als sie die andern aus ihrer Flur hinausgeworfen hatten.
18 Während dieser Verfolgung geleitet Chloe ihren Daphnis höchst friedlich zu den Nymphen und wäscht ihm das Blut ab, das von einem Schlag auf die Nase herrührt. Dann entnimmt sie ihrer Hirtentasche ein Stück gesäuerten Brotes und ein Scheibchen Käse und gibt ihm zu essen. Doch am meisten erfreut sie ihn durch einen süßen Kuß ihrer zarten Lippen.
19 (1) Daphnis entging also mit knapper Not seinem Unglück. Die Sache selbst aber hatte damit noch kein Ende; denn sobald die jungen Leute zu Hause angelangt waren, und zwar zu Fuß statt zu Schiff, und verwundet statt mit stolzer Beute, beriefen sie eine Bürgerversammlung und baten, ihnen Sühne zuzubilligen. (2) Dabei sprachen sie kein wahres Wort, denn sonst wären sie ja zum Gespött geworden, weil sie sich von Hirten soviel Unbill hatten zufügen lassen, und behaupteten sogar, die Leute aus Mytilene hätten ihnen, als wäre Krieg, das Fahrzeug weggenommen und auch noch ihr Hab und Gut geraubt. (3) Man glaubte ihren Wunden, und da man junge Leute aus den ersten Häusern nicht ohne Genugtuung lassen wollte, beschloß man, ohne Ankündigung durch einen Herold gegen Mytilene loszuziehen, und trug dem Befehlshaber auf, zehn Schiffe flottzumachen und die feindliche Küste zu verwüsten. Der Winter stand bevor, und so schien es nicht ratsam, den Wogen eine größere Heeresmacht anzuvertrauen.
20 (1) Schon am folgenden Tage fuhr der Befehlshaber mit einer Mannschaft, die im Kriegsdienst wie im Rudern ausgebildet war, ab und überfiel die an der Küste gelegenen Besitzungen der Mytilenäer. Er ließ viel Vieh, Getreide und Wein rauben, denn man hatte ja eben erst die Lese beendet, aber auch Menschen, die draußen beschäftigt waren. (2) Auch die Weideplätze von Chloe und Daphnis lief er an, landete sehr rasch und trieb als Beute weg, was auf den Beinen war. Daphnis hielt sich gerade nicht bei seinen Ziegen auf, sondern im Walde, wo er Laub schlug, das seine Böcklein im Winter fressen sollten; und als er von oben den Überfall sah, verkroch er sich im hohlen Stamm einer morschen Buche. (3) Wohl aber hütete Chloe ihre Herde, und sie entging der Heimsuchung nicht. Eilends flüchtete sie in den Schutz der Nymphen und bat die Feinde, ihrer Tiere und ihr eigenes Leben aus Ehrfurcht vor den Göttinnen zu schonen. Aber das half gar nichts. Die Leute aus Methymna ließen sogar noch ihren Spott an den Standbildern aus, trieben die Herden weg und das Mädchen mit und schlugen sie mit Ruten, als wäre sie eine Ziege oder ein Schaf.
21 (1) Doch nun hatten sie ihre Schiffe mit Raub gut vollgepackt, und meinten, es sei besser, nicht weiter zu segeln, sondern sich auf den Heimweg zu machen, zumal Unwetter und ein Gegenangriff zu fürchten waren. Sie fuhren also ab, aber es regte sich kein Lüftchen, und sie mußten sich mit Rudern plagen. (2) Sobald Ruhe herrschte, ging Daphnis wieder ins Flachland, wo die beiden sonst immer ihrer Herden warteten. Aber er sah keine Ziege und begegnete keinem Schaf und fand keine Chloe. Alles war verödet, nur die Hirtenflöte, ihre schönste Freude, lag am Boden. (3) Da lief er schreiend und jammernd zuerst zur Eiche, ihrem Lieblingsaufenthalte, dann an den Strand, ob er das Mädchen vielleicht noch erblicken könne, und schließlich zu den Nymphen, ihrer letzten Zufluchtsstätte vor der Entführung. Dort warf er sich zu Boden und beschuldigte die Göttinnen des Verrates:
22 (1) »Von euren Standbildern wurde Chloe weggerissen, und ihr habt es ruhig mitangesehen. Sie, die euch Kränze flocht, die euch die erste Milch darbrachte, deren Beigabe, die Hirtenflöte, hier noch liegt! (2) Der Wolf hat mir kein Tier geraubt, und nun kommen Feinde und nehmen mir die ganze Herde und die Gefährtin dazu. Häuten und schlachten werden sie die Ziegen und Schafe, und Chloe wird jetzt in der Stadt wohnen müssen. (3) Wie soll ich so vor den Vater und die Mutter treten, ohne Tiere und ohne das Mädchen, ein pflichtvergessener Taugenichts? Ach, und jetzt habe ich nichts und niemanden mehr, über den ich wachen darf. (4) Hier bleibe ich liegen und warte auf den Tod oder einen neuen Kampf. Ob du so leidest wie ich, Chloe, und hierher denkst und an die Nymphen und an mich, oder ob deine Mitgefangenen, die Schafe und Ziegen, dich trösten?«
23 (1) Nach diesem Selbstgespräch brachten Tränen und Kummer einen tiefen Schlaf über ihn. Im Traume erschienen ihm die drei Nymphen, stattliche, schöne Frauen, halb entblößt und unbeschuht und mit offenem Haar, ihren Standbildern gleich. (2) Anfangs hatten sie eine mitleidige Haltung, dann ermutigte ihn die Älteste und sagte: »Schilt uns nicht, Daphnis! Wir denken mehr an Chloe als du. Als sie noch ein Kindlein war, haben wir uns ihrer schon erbarmt und in dieser Grotte für ihre Nahrung gesorgt, (3) denn Dryas und sein Besitz haben nichts mit ihr zu tun. Und auch jetzt liegt ihr Wohl uns am Herzen. Man wird sie nicht nach Methymna verschleppen, und sie wird keine Sklavin sein und kein Teil der Kriegsbeute. (4) Der Pan, der da oben unter der Pinie wohnt, und dem ihr nie gehuldigt habt, nicht mal mit dem kleinsten Blumenkranz, ist von uns gebeten worden, ihr zu helfen. Er versteht sich besser als wir auf das Kriegshandwerk und hat schon oft dieses friedliche Land verlassen und Schlachten geschlagen. Der wird auch jetzt ausziehen, ein schlimmer Widersacher für die Methymnäer. (5) Sei also nicht traurig, sondern steh auf und geh zu Lamon und Myrtale, die liegen nämlich auch am Boden und weinen, weil sie glauben, du seiest gleichfalls entführt worden. Morgen kommt Chloe wieder, mit euren Ziegen und Schafen, und ihr werdet wie immer auf die Weide gehen und die Flöte blasen. Was sonst für euch zu geschehen hat, das ist Eros’ Sorge.«
24 (1) Solches sah und hörte Daphnis im Traum. Doch nun war es aus mit dem Schlaf. Er sprang auf und weinte lange vor Kummer und Freude, warf sich dann vor den Standbildern der Nymphen auf die Knie und versprach, seine schönste Ziege zu opfern, wenn Chloe gerettet würde. (2) Darauf ging er zur Pinie, wo Pans Götterbild stand, bocksfüßig, gehörnt, die Hirtenflöte in der einen Hand und einen springenden Bock in der andern. Auch hier kniete er nieder, betete für Chloe und gelobte einen Bock. (3) Erst als die Sonne unterging, hörte er endlich mit Weinen und Beten auf, lud sich die Zweige, die er geschlagen hatte, auf die Schultern und kehrte in sein Gehöft zurück. Dort beruhigte er Lamon und die Seinigen und machte sie wieder froh. (4) Er aß nur wenig und bevor er schlafen ging, weinte er noch einmal vor Erregung, weil er im Traume die Nymphen wiederzusehen hoffte und den Anbruch des Tages herbeisehnte, für den sie ihm Chloe verheißen hatten. Nie war ihm eine Nacht so lang vorgekommen wie diese. Und folgendes geschah in ihr:
25 (1) Nach einer Fahrt von etwa zehn Meilen wollte der Kommandant der Methymnäer seiner Mannschaft Erholung von den Strapazen gönnen. (2) Sie waren gerade an einer Stelle, an der die Küste sich in die See hinausschiebt, so daß eine sichelförmige Bucht entstand, in der das Meer so ruhig war wie in einem Hafen. Hier ließ der Befehlshaber die Flotte vor Anker gehen, so weit jedoch vom Lande entfernt, daß ihr kein Schaden zugefügt werden konnte, und gab dann seinen Leuten die Freiheit zu harmlosen Vergnügungen. (3) Durch den Beutezug hatten sie alles im Überfluß, und so zechten sie, trieben allerhand Späße und feierten eine Art von Siegesfest. Doch als kaum der Tag zu Ende war und mit Einbruch der Dunkelheit der Freudentaumel sich gelegt hatte, schien das ganze Land auf einmal in Flammen zu stehen. Gleichzeitig hörte man ein Getöse wie von unzähligen Ruderschlägen, als sei eine große Flotte im Anzuge. (4) Da schrien einige, der Kommandant solle zur Schlacht rüsten, andere riefen dies und wieder andere jenes, einer schien verwundet, und noch einer lag wie tot da. Es war wie ein Nachtgefecht mit unsichtbaren Feinden.
26,2 unsicher
26 (1) Auf diese Nacht folgte ein Tag, der war noch viel schrecklicher. Daphnis’ Böcken und Ziegen wuchs plötzlich Efeu mit Blütendolden an den Hörnern, Chloes Widder und Schafe heulten, wie Wölfe heulen, (2) und sie selbst saß da und trug einen Fichtenkranz. Auch auf dem Wasser geschahen seltsame Dinge. Die Anker saßen im Meeresgrunde fest, und es gelang auf keine Weise, sie zu heben; die Ruder, die man in die Flut ließ, zerbrachen; Delphine sprangen aus dem Wasser und schlugen mit den Schwänzen so heftig gegen die Fahrzeuge, daß sich die Fugen lösten. (3) Dann vernahm man auf dem steilen Riff unterhalb der Landzunge deutlich den Ton einer Schalmei. Aber das war nicht ergötzlich, wie wenn sonst einer auf der Flöte spielt, sondern furchterregend wie Trompetenschall. (4) Die Methymnäer verloren denn auch die Fassung, holten ihre Waffen, riefen einen Feind an, von dem sie nichts sahen, und sehnten schließlich wieder die Nacht herbei, als hätten sie dann Frieden. (5) Jedem Nachdenkenden leuchtete ein, daß die Erscheinungen und das Getöse nur von Pan herrühren konnten, der den Seefahrern grollte. Doch niemand vermochte die Ursache zu erraten, da sie ja keines von seinen Heiligtümern angetastet hatten, bis um die Mittagszeit der Befehlshaber in einen Schlaf fiel, den nur eine Gottheit geschickt haben konnte. In dem erschien Pan selbst und sprach:
27 (1) »Ihr aller Sterblichen Frevelhafteste und Ruchloseste, wessen erfrechtet ihr euch rasenden Sinnes? Krieg habt ihr über die Flur gebracht, die mir teuer ist; Rinder-, Ziegen- und Schafherden, die unter meinem Schutz stehen, habt ihr fortgetrieben; (2) habt vom Altar ein Mädchen weggerissen, über das Eros selbst eine Dichtung schreiben will; habt die Nymphen nicht geachtet, die euch zusahen, noch mich, den Gott Pan. Ihr werdet Methymna nicht wiedersehen und der schrecklichen Flöte nicht entgehen, wenn ihr diesen Fang behaltet. (3) Ich versenke euch und werfe euch den Fischen zum Fraß vor, wenn du den Nymphen nicht schleunigst Chloe zurückgibst mitsamt ihren Herden, Ziegen wie Schafen. Erhebe dich also und laß sie und alles, was ich nannte, vom Schiff! Dann will ich dich auf der Heimfahrt so sicher geleiten wie das Mädchen auf seinem Wege.«
28 (1) Bryaxis, so hieß der Kommandant, sprang bestürzt auf, rief die Kapitäne der einzelnen Fahrzeuge zu sich und befahl, Chloe schleunigst unter den Gefangenen zu suchen. (2) Sie trug den Fichtenkranz, wurde also rasch gefunden und zu ihm gebracht. Im Kranze erkannte er das Merkmal des Traumgesichtes wieder und führte sie nun selbst vom Hauptschiff aus ans Land. (3) Kaum war sie ausgestiegen, da hörte man die Schalmei auf dem Felsenriff wieder, aber diesmal war es kein kriegerischer und furchterregender Klang, sondern eine ländliche Weise, der gleich, mit der die Herden auf die Weideplätze getrieben werden. Die Schafe liefen die Schiffstreppe hinunter, ohne mit den Hufen auszurutschen, während die Ziegen, die zu klettern gewohnt waren, sich noch viel dreister benahmen.
29 (1) Und das alles stellt sich nun im Kreis um Chloe wie ein Chor und hüpft und blökt, als freue es sich mit, während die Ziegen, Schafe und Rinder der übrigen Hirten im Schiffsraum an ihren Plätzen bleiben, als wüßten sie, daß die Weise nicht ihnen gilt. (2) Indes nun jedermann staunte und Pan mit lauten Worten pries, geschahen auf dem Meere wie auf dem Lande noch größere Wunder. (3) Die Schiffe der Methymnäer fuhren ab, ohne daß sie die Anker zu lichten brauchten, und ein Delphin sprang aus der Flut und zog vor dem Hauptschiff her. Der süßeste Ton leitete Ziegen und Schafe, ohne daß man den Spielenden sah, und die Tiere gingen ihres Weges und fraßen gleichzeitig, so freuten sie sich über die Weise.
30,2 unsicher
30 (1) Es war etwa um die Zeit der zweiten Weide, als Daphnis von einer hohen Warte aus das Mädchen und die Herden erblickte. Mit dem lauten Ausruf: »O ihr Nymphen und Pan!« rannte er ins Flachland hinunter, umschlang Chloe und sank ohnmächtig an ihr nieder, (2) und erst ihre Küsse und ihre zärtlichen Umarmungen brachten ihn wieder zu sich. Dann gingen sie zu ihrer Eiche, setzten sich auf den Stumpf, und er fragte, wie sie nur den vielen Feinden entronnen sei. (3) Da erzählte sie ihm alles: von dem Efeu der Ziegen, dem Geheul der Schafe, den Fichtenzweigen, die an ihrem eigenen Haupt entsprossen seien, dem Feuer auf dem Lande, dem Getöse auf der See, den zwei Flötenweisen, der kriegerischen und der friedlichen, der Schreckensnacht, und wie sie den Weg nicht gewußt, aber ein Klang sie geführt habe. (4) Daphnis erkannte die Bilder seines Traumes und das Wirken Pans, und berichtete nun, was er gesehen und gehört hatte, und daß er habe sterben wollen und nur durch die Nymphen noch am Leben sei. (5) Dann schickte er Chloe fort; sie sollte Dryas und Lamon und deren Sippe holen und alles mitbringen, was zum Opfern gehört. Er selbst suchte inzwischen seine schönste Ziege aus, bekränzte sie mit Efeu, so wie sie den Feinden erschienen war, und goß Milch zwischen ihre Hörner. Darauf schlachtete er sie für die Nymphen, hängte das tote Tier auf, häutete es und schenkte das Fell als Weihgabe.
31,3 unsicher
31 (1) Sobald Chloes Leute da waren, zündete er ein Feuer an, dann wurde das Fleisch zu einem Teil gekocht und zum andern gebraten, das Erste jedesmal den Nymphen dargebracht und dazu ein voller Krug Most gespendet. Später stellten sie Ruhelager aus Blättern her und gaben sich dem Genuß des Essens und Trinkens und ihrer Fröhlichkeit hin. Aber gleichzeitig hatte Daphnis ein Auge auf die Herden, denn der Wolf sollte sie doch nicht überfallen und dasselbe anrichten wie der Feind. (2) Sie sangen Lieder zum Preise der Nymphen, uralte Hirtenweisen, und als es Nacht wurde, legten sie sich ebendort zum Schlafen nieder. Am folgenden Tage gedachten sie des Pan, bekränzten den Ziegenbock, der die Herde geführt hatte, mit Pinienzweigen, zerrten ihn zur heiligen Fichte, brachten ein Trankopfer von Wein und schlachteten das Tier unter Lobpreisungen des Gottes. Dann hängten sie es auf, häuteten es ab, (3) brieten und sotten das Fleisch und trugen es auf eine nahe Wiese, wo sie es auf Blätter legten. Darauf befestigten sie das Fell, an dem noch die Hörner saßen, im Baum neben dem Götterbild, eine ländliche Weihgabe für einen ländlichen Gott. Das Erste vom Fleisch brachten sie dar und spendeten dazu aus einem größeren Mischkruge. Dabei sang Chloe, während Daphnis die Flöte blies.
32 (1) Nach alledem legten sie sich und schmausten. Da trat von ungefähr Philetas, der Rinderhirt, zu ihnen, der dem Pan ein paar Kränze bringen wollte und Trauben, die noch im Laub und am Stock saßen, und mit ihm kam Tityros, der jüngste von seinen Söhnen, ein blondes Knäblein mit blauen Augen und heller Haut, ein ausgelassenes Kind, das behende und lustig herumsprang wie ein Böcklein. (2) Die andern erhoben sich, halfen bei der Bekränzung des Standbildes und hängten die Reben in die Zweige der Pinie. Darauf baten sie den Alten, sich zu ihnen zu legen und ihr Tischgenosse zu sein. (3) Nach Art etwas bezechter Greise schwatzten sie dann allerlei zusammen: was für vortreffliche Hirten sie als junge Leute gewesen wären, und wie manchen räuberischen Überfall sie abgeschlagen hätten. Einer wollte einen Wolf getötet haben, ein anderer brüstete sich damit, daß er im Flötespielen einzig dem Gott Pan nachstehe. Dies war das, wessen Philetas sich rühmte.
33 (1) Daphnis und Chloe beschworen ihn mit allen Mitteln, ihnen seine Kunst zu zeigen und zu Ehren des Gottes, der an der Flöte so viel Freude habe, zu spielen. Philetas versprach es, schalt jedoch auf das Alter, das einem den Atem nehme, dann ließ er sich Daphnis’ Flöte geben. (2) Aber die war für die Lippen eines Knaben eingerichtet und für sein hohes Können zu gering. Deshalb schickte er Tityros und trug ihm auf, die eigene aus seinem Hause zu holen, das nur zehn Achtelmeilen entfernt war. (3) Der warf sein Röcklein ab und stürmte davon wie ein Hirschkalb. Als er fort war, sagte Lamon, er wolle sie inzwischen mit der Geschichte von der Syrinx unterhalten, die ihm einmal ein sizilischer Hirt um den Preis eines Bockes und einer Flöte vorgesungen habe.
34 (1) »Dieses Blasrohr, die Syrinx, hat nicht immer so ausgesehen, sondern ist einmal ein schönes Mädchen mit einer wohlklingenden Stimme gewesen. Es hütete Ziegen, spielte mit den Nymphen und hatte dieselbe Stimme, die es noch heute hat. Während es hütete und spielte und sang, trat Pan zu ihm, suchte es zu dem zu bringen, woran ihm gelegen war, und versprach als Lohn Zwillinge für alle seine Ziegen. (2) Aber das Mädchen lachte ihn aus und sagte, es wolle keinen Liebhaber, der weder ein ganzer Bock noch ein ganzer Mensch sei. Da springt Pan auf und droht mit Gewalt. Doch Syrinx flieht den Gott und sein Drohen, verbirgt sich, vom Fliehen müde, im Röhricht und versinkt im Sumpf. (3) Voller Grimm schneidet Pan das Röhricht herunter, bis er merkt, was mit ihr geschehen ist. Dann erdenkt er die Schalmei und verbindet die ungleichen Rohre mit Wachs, weil ja auch ihre Liebe ungleich war. So ist, was einmal ein schönes Mädchen gewesen, heute eine wohltönende Flöte.«
35,4 unsicher
35 (1) Lamon hatte seine Erzählung eben beendet und Philetas ihn gepriesen, weil seine Rede süßer fließe als Gesang, da erschien Tityros und gab dem Vater die Flöte, ein großes Blasrohr mit mächtigen Pfeifen, das mit Erz statt mit Wachs zusammengefügt und schön verziert war. (2) Man konnte in ihr wohl die erste sehen, die Pan selbst verfertigt hatte. Philetas erhob sich, saß aufrecht auf seinem Lager und prüfte zunächst, ob die Pfeifen gut durchlässig wären; (3) und als er fand, daß der Hauch ungehindert seinen Weg nahm, fing er an, stark und feurig zu blasen. Es war, als gebe es mehrere Mitspieler, so laut klang es. Darauf ließ er nach und ging zu einer freundlicheren Weise über (4) und bewies dabei seine ganze Kunstfertigkeit, denn einmal flötete er, wie es für eine Rinderherde paßt, dann wie die Ziegen es gern haben, und schließlich, wie es den Schafen gefällt. Lieblich war der Ton für die Schafe, gewaltig der für die Rinder und hell der für die Ziegen. So gab er sämtliche Flöten mit der einen wieder.
36 (1) Während die übrigen noch schwiegen und sich freuten, stand Dryas auf, bat den Alten, eine dionysische Weise zu spielen und tanzte ihnen dann einen Winzertanz vor. Bald war er ein Pfückender, bald einer, der Kiepen trägt; einmal glich er dem, der die Trauben stampft, darauf einem, der die Fässer füllt, und zuletzt einem, der den Most trinkt. (2) Und er machte alles so hübsch und anschaulich, daß man das Rebengelände wirklich vor Augen hatte und ebenso die Kelter und die Fässer, und daß man sogar seinem Trinken glaubte.
37 (1) Während nun auch dieser dritte Greis Beifall erntete, küßte er Chloe und Daphnis. Da standen sie rasch auf und ahmten Lamons Geschichte im Tanz nach. Daphnis stellte den Gott dar, sie das Mädchen. Er fleht mit Schmeichelworten, sie lächelt gleichgültig. (2) Er folgt ihr und läuft dabei auf Zehenspitzen, um die Bocksfüße nachzuahmen, indes sie die von der Flucht Ermattete spielt. (3) Dann nimmt er des Philetas große Flöte, bläst wehmütig wie ein Verliebter, leidenschaftlich wie ein Begehrender, fordernd wie ein Suchender, bis der Alte sich verwundert erhebt, ihn küßt und ihm dabei seine Flöte mit dem Wunsche schenkt, er möchte sie eines Tages einem ebenso würdigen Erben hinterlassen.
38 (1) Daphnis weihte nun die eigene kleine dem Gott, küßte Chloe, als habe er sie nach einer richtigen Flucht wiedergefunden und trieb dann blasend die Herde fort. Es dunkelte, und so sammelte auch Chloe die Schafe durch den Ton ihrer Flöte und trieb sie heimwärts. (2) Die Ziegen gingen neben den Schafen her, und Daphnis schritt an Chloes Seite, und so genossen sie einander bis in die Nacht hinein. Sie verabredeten noch, am nächsten Morgen die Herden früher hinauszuführen als sonst, und machten es auch so. (3) Kaum war der Tag angebrochen, da zogen sie schon wieder auf die Weide. Dort grüßten sie zuerst die Nymphen und dann Pan und setzten sich unter ihre Eiche und bliesen. Sie küßten und umarmten sich und lagen beieinander, standen aber wieder auf, ohne mehr zu wagen. Auch das Essen vergaßen sie nicht und tranken Wein, dem sie Milch beimischten.
39,2 unsicher
39 (1) So wurden sie immer heftiger und lebhafter. Eines Tages gerieten sie in einen Wettstreit über ihre Liebe und gelobten sich gegenseitig Treue. Er lief zur Pinie und tat beim Gott Pan den Schwur, nie, auch nicht einen einzigen Tag, ohne Chloe zu leben; (2) und sie ging in die Grotte und schwur bei den Nymphen, sie wolle mit Daphnis ein Leben und einen Tod haben. Aber so groß war ihre mädchenhafte Einfalt, daß sie den Knaben beim Verlassen des Heiligtums einen zweiten Schwur tun ließ. »Lieber Daphnis«, sagte sie, »Pan ist ein lüsterner und unzuverlässiger Gott. Er hat die Pitys geliebt, er hat die Syrinx geliebt, (3) und er hört nicht auf, den Dryaden nachzustellen und die epimelischen Nymphen zu belästigen. Wenn du den Eid vergissest, wird er vergessen, dich zu strafen, und liefest du mehr Weibern nach als die Flöte Pfeifen hat. (4) Deshalb schwöre mir bei dieser Ziegenherde und bei der Geiß da, die dich aufzog, Chloe nicht zu verlassen, solange sie dir treu bleibt! Erst wenn sie sich gegen dich und ihren Schwur vergeht, darfst du sie meiden und hassen und sogar wie einen Wolf erschlagen.« (5) Daphnis freute sich über ihren Argwohn, trat mitten unter die Ziegenherde, ergriff mit der einen Hand eine Geiß, mit der andern einen Bock und schwor, Chloe zu lieben, solange sie ihn liebe. Erst wenn sie ihm einen andern vorziehe, wolle er nicht sie, sondern sich selbst töten. (6) Nun war sie froh, denn jetzt glaubte sie ihm, weil sie ein Mädchen war und eine Hüterin und die Ziegen und Schafe für die eigentlichen Götter der Hirten hielt.
