3. Buch
1 (1) Als man in Mytilene von der Landung der zehn Schiffe erfuhr und einige, die vom Lande kamen, den Raubzug schilderten, hielt man es für unmöglich, so etwas einfach hinzunehmen, und beschloß, selbst schleunigst die Waffen wider Methymna zu rüsten. (2) Man hob also dreitausend Schildträger und fünfhundert Berittene aus und entsandte den Feldherrn Hippasos, und zwar, da man das winterliche Meer fürchtete, auf dem Landwege.
2 (1) Hippasos brach auf, plünderte jedoch das Gebiet von Methymna nicht, nahm auch kein Vieh und kein Hab und Gut von Bauern und Hirten, weil er meinte, ein Räuber handle so und nicht ein Heerführer, rückte vielmehr rasch vor, um durch die unbewachten Tore in die Stadt selbst einzudringen. (2) Doch war er noch hundert Achtelmeilen von ihr entfernt, als ihm ein Gesandter mit einem Waffenstillstandsangebot entgegenkam. (3) Die Methymnäer waren nämlich inzwischen durch die Gefangenen darüber aufgeklärt worden, daß man in Mytilene von den Geschehnissen gar nichts gewußt hatte, und daß nur ein paar Landleute und Hirten gegen die übermütigen jungen Leute vorgegangen waren. Sie bereuten, sich mehr übereilt als klug gegen eine Nachbarstadt aufgemacht zu haben, und wünschten lebhaft, durch Herausgabe der gesamten Beute den friedlichen Land- und Seeverkehr wieder herzustellen. (4) Hippasos schickte einen Boten nach Mytilene, obschon man ihn zum Heerführer mit unbeschränkter Vollmacht ernannt hatte, schlug dann zehn Achtelmeilen von Methymna ein Lager auf und erwartete die Vorschriften aus der Heimat. (5) Nach zwei Tagen kam der Bote mit dem Befehl, sich das Geraubte aushändigen zu lassen und ohne feindliche Handlungen heimzukehren. Da man sich zwischen Krieg und Frieden entscheiden konnte, wählte man den Frieden als das Vorteilhaftere.
3 (1) So wurde die Fehde zwischen Methymna und Mytilene beigelegt, und das Ende war nicht weniger überraschend als der Anfang. Dann kam der Winter, und der war für Daphnis und Chloe noch bitterer als Krieg. Plötzlich fiel eine Unmenge Schnee, sperrte alle Wege und sperrte sämtliche Landbewohner in ihren Häusern ein. (2) Reißend stürzten die Gießbäche zu Tal, Eis starrte an ihren Rändern, die Bäume sahen wie vergraben aus, und nur an Quellen und am Flußufer war noch etwas vom Erdboden zu sehen. (3) Niemand trieb das Vieh auf die Weide, ja niemand ging auch nur vor die Tür. Beim Hahnenschrei wurde ein großes Feuer angezündet; nachher spannen einige Flachs, während andere Ziegenhaar flochten und wieder andere Vogelschlingen herstellten. (4) Auch sorgte man für die Tiere, gab den Rindern Häcksel in die Krippen, den Ziegen und Schafen Laub in die Hürden und den Schweinen Sommer- und Wintereicheln in die Koben.
4 (1) So hielt ein unfreiwilliges häusliches Leben alle in Bann. Die Bauern und Hirten freuten sich allerdings, daß sie für eine Weile der Plagen ledig waren, ihr Frühmahl in Ruhe verzehren und lange schlafen konnten, und meinten, der Winter sei angenehmer als Sommer und Herbst und selbst als der Frühling. (2) Nur Chloe und Daphnis, die an die verlorenen Freuden dachten: wie sie sich geküßt und umarmt und die Mahlzeiten zusammen genossen hatten, brachten die Nächte schlaflos und traurig hin und sehnten die Frühlingszeit wie die Neugeburt nach dem Tode herbei. (3) Wie schmerzlich war es, wenn ihnen eine Hirtentasche in die Hände fiel, aus der sie gegessen, wenn sie einen Milcheimer sahen, aus dem sie gemeinsam getrunken hatten, oder eine Hirtenflöte, die ein Geschenk der Liebe gewesen und die nun achtlos am Boden lag! (4) So flehten sie denn zu den Nymphen und zu Pan, sie aus diesem Elend zu erlösen und ihnen und den Herden die Sonne wenigstens einmal zu zeigen, und schon während des Gebetes überlegten sie, was für Mittel es wohl gebe, sich zu sehen. (5) Chloe fühlte sich freilich ganz rat- und hilflos, denn immer war die vermeintliche Mutter um sie, lehrte sie Wolle krempeln oder die Spindel drehen und schwatzte dabei vom Heiraten. Doch Daphnis, der Muße hatte und zudem erfinderischer war als das Mädchen, kam zu folgender List:
5 (1) Vor Dryas’ Gehöft, und zwar im Hof selbst, wuchsen zwei hohe Myrten und ein Efeubaum. Die Myrten standen ziemlich nahe beieinander, der Efeu dazwischen. Da dieser der Rebe gleich seine Ranken nach beiden Seiten ausstreckte, bildeten die verschiedenen Blätter eine Art Laube, und an der hingen Weintrauben gleich viele, große Beeren. (2) Hier sammelten sich die Wintervögel, die draußen kein Futter fanden, Amseln, Drosseln, Wildtauben, Stare und anderes Geflügel, das sich von Efeu nährt. (3) Daphnis nahm den Vogelfang zum Vorwande und machte sich auf, füllte seine Hirtentasche aber vorher mit Honigkuchen, damit man ihm Glauben schenke, und steckte auch Vogelleim und Schlingen ein. (4) Die Entfernung betrug nicht mehr als zehn Achtelmeilen, doch der Schnee, der noch nicht geschmolzen war, bereitete ihm große Beschwerden. Allein die Liebe findet durch alles ihren Weg, und wäre es Feuer, Wasser oder skythischer Schnee.
6 (1) Im Laufschritt kam er zum Gehöft, schüttelte den Schnee von den Schuhen, legte die Schlingen aus, bestrich lange Stäbe mit Leim, setzte sich und wartete auf die Vögel und auf Chloe. (2) Vögel kamen und viele wurden gefangen, so daß er alle Mühe hatte, sie zu sammeln, zu töten und zu rupfen. Doch vom Hof zeigte sich niemand, kein männliches und kein weibliches Wesen, ja nicht einmal ein Huhn war zu sehen. Alle saßen sie drinnen fest und hockten um das Feuer, und Daphnis fürchtete schon, er sei unter schlechten Vogelzeichen gekommen. Dann machte er sich Mut, überlegte, ob er nicht unter irgendeinem Vorwande ins Haus gehen könne, und welche Behauptung wohl am glaubwürdigsten sei. (3) »Ich kam, um Feuer zu holen.« – Hast du denn keine näheren Nachbarn?« – »Ich wollte um Brot bitten.« – »Deine Tasche ist ja mit Essen voll gestopft.« – »Ich brauche Wein.« – »Und hast doch gestern und vorgestern erst gekeltert.« – »Ein Wolf stellte mir nach.« – »Und wo ist seine Spur?« – »Ich kam, um Vögel zu fangen.« – »Warum gehst du denn nicht, da der Fang beendet ist?« – (4) »Ich möchte Chloe sehen.« Aber wer gesteht das dem Vater und der Mutter eines Mädchens? – Nein, nichts von alldem ist unverdächtig. Besser, ich verhalte mich ruhig und warte bis zum Frühling, da das Wiedersehen mir im Winter nicht vergönnt zu sein scheint. (5) Unter diesen Überlegungen packte er seine Jagdbeute auf und schickte sich zum Gehen an. Aber Eros hatte doch Erbarmen mit ihm; denn folgendes geschah:
7 (1) Dryas wollte eben mit den Seinen Mahlzeit halten. Das Fleisch wurde zugeteilt, Brot vorgelegt, der Krug gemischt. Da nutzte ein Schäferhund die fehlende Wachsamkeit aus, schnappte ein Stück Fleisch weg und entwischte damit durch die Tür. (2) Dryas wurde böse, zumal es sein Anteil war, nahm einen Stock und rannte hinterher, als wäre er selbst ein Hund. Bei der Verfolgung kam er zum Efeu und erblickte Daphnis, der seinen Fang schon auf die Schultern genommen hatte und sich gerade heimlich davon machen wollte. (3) Sofort waren Fleisch und Hund vergessen. Mit dem lauten Ruf: »Willkommen, mein Kind!« umarmte und herzte er ihn und nahm ihn mit ins Haus. Als Daphnis und Chloe einander sahen, wären sie fast zu Boden gesunken. Nur mit Mühe hielten sie sich aufrecht, tauschten Gruß und Kuß, doch eben der war wie eine Stütze, die sie am Fallen hinderte.
8 (1) So kam Daphnis wider Erwarten zu Chloe und auch noch zu einem Kuß. Er setzte sich ans Feuer, nahm die Tauben und Amseln von den Schultern und lud sie auf dem Tisch ab. Dann erzählte er, wie er sich aus Überdruß am häuslichen Leben zum Fang aufgemacht, und wie er das Getier in Schlingen oder auf dem Leim gegriffen habe, als es Myrten und Efeu hatte fressen wollen. (2) Die Alten lobten seine Tatkraft und baten ihn, zu verzehren, was der Hund übriggelassen habe. Dann mußte Chloe einen Trunk reichen. Sie freute sich, gab aber zuerst den übrigen und dann Daphnis, denn es sollte aussehen, als sei sie böse, daß er gleich nach seinem Kommen habe heimlich wieder fortgehen wollen, ohne sie zu begrüßen. Auch jetzt reichte sie ihm den Becher nicht sofort, sondern nippte erst selbst; und er, obschon er Durst hatte, trank gemächlich, um durch das Hinzögern den Genuß zu verlängern.
9 (1) Auch als Brot und Fleisch vom Tisch verschwunden waren, blieb man noch sitzen, und alle fragten nach Myrtale und Lamon und priesen sie, weil sie eine so vortreffliche Stütze ihres Alters hätten. (2) Daphnis freute sich über das Lob, weil Chloe es hörte, und als man ihn gar da behielt, weil am nächsten Tage dem Dionysos geopfert werden sollte, fehlte nicht viel, und er hätte vor lauter Jubel die Alten statt des Gottes angebetet. (3) Sofort holte er seinen Vorrat an Honigkuchen und seine Beute aus der Hirtentasche. Die Vögel wurden gleich zurechtgemacht, (4) auch ein zweiter Mischkrug wurde aufgesetzt und noch ein Feuer angezündet, und da es früh dunkelte, hielt man noch eine Mahlzeit. Nachher erzählte man sich Geschichten, sang Lieder und ging dann schlafen, und zwar schlief Chloe mit der Mutter und Daphnis mit Dryas. (5) Das Mädchen erntete dabei nichts als die Gewißheit, daß es seinen Daphnis am andern Tage sehen werde, doch er hatte wenigstens ein eingebildetes Vergnügen. Denn er hielt es schon für ein Glück, mit Chloes Vater zu schlafen, umarmte und küßte ihn mehrmals im Traum, wobei er sich vorstellte, das alles tue er mit dem Mädchen.
10 (1) Als es Tag wurde, war die Kälte ungewöhnlich stark, und der beißende Nordwind ließ nichts unverschont. Nach dem Aufstehen opferte man zunächst dem Dionysos einen jährigen Widder, dann wurde ein mächtiges Feuer angezündet und das Mahl bereitet. (2) Während nun Nape das Brot buk und Dryas das Widderfleisch kochte, benutzten Daphnis und Chloe die Muße und gingen in den Hof, wo der Efeu stand. Sie legten wieder Schlingen aus, strichen Leim auf Ruten und fingen eine ganze Menge Vögel, (3) aber auch die Freude am Küssen und an Liebesworten nahm kein Ende. »Um deinetwillen bin ich gekommen, Chloe.« – »Ich weiß es, Daphnis.« – »Um deinetwillen bringe ich die armen Amseln um.« – »Was soll ich dafür tun?« – »Denk an mich!« – »Ich denke an dich, so wahr die Nymphen da sind, bei denen ich dir in jenem Heiligtum geschworen habe, in das wir gehen wollen, kaum daß der Schnee geschmolzen ist.« – (4) »Aber es ist so viel da, Chloe, und ich fürchte, ich werde vor ihm schmelzen.« – »Sei getrost, Daphnis! Warm ist die Sonne.« – »Wäre sie doch so warm, Chloe, wie das Feuer, das in meinem Herzen brennt!« – »Ist das kein Scherz, und täuschest du mich nicht?« – »Nein, so wahr die Ziegen leben, bei denen du mich schwören hießest.«
11 (1) So antwortet Chloe ihrem Daphnis wie ein Echo. Etwas später wurden sie von Napes Leuten gerufen, liefen ins Haus, und die Beute, die sie mitbrachten, war noch viel reicher als die vom Tage zuvor. Sie spendeten nun dem Dionysos aus dem Mischkruge, aßen, mit Efeukränzen um die Schläfen; (2) und als es Zeit war, wurden der Jakchosruf und das Evoe angestimmt, und die Alten entließen Daphnis, packten jedoch vorher seine Tasche mit Fleisch und Brot voll und gaben ihm noch die Tauben und Drosseln für Lamon und Myrtale mit, weil sie ja andere fangen konnten, solange der Winter dauerte und der Efeu nicht verdarb. (3) Als Daphnis Urlaub nahm, küßte er zuerst die andern und dann Chloe, um ihren Kuß rein zu bewahren. Später fand er noch manches Mal unter anderen Vorwänden den Weg, und so verging auch der Winter für sie nicht ganz ohne Liebesfreuden.
12,4 nicht sicher Übersetzung
12 (1) Endlich begann der Frühling, der Schnee schmolz, und der Erdboden kam wieder zum Vorschein. Und als nun auch das Gras in die Höhe schoß, trieben die Hirten ihr Vieh auf die Weide, und früher als alle anderen Chloe und Daphnis, denn sie dienten ja selbst einem noch mächtigeren Hüter. (2) Ihr erster Weg führte in die Grotte zu den Nymphen, darauf ging es zu Pan und seiner Pinie und schließlich zu ihrer Eiche. Dort setzten sie sich, ließen das Vieh weiden und küßten sich. Dann suchten sie Blumen, um die Götterbilder zu bekränzen. Ein fruchtbarer Westwind und die wärmende Sonne hatten schon manches an den Tag gelockt; sie fanden Veilchen, Narzissen, Gauchheil und womit der Frühling sonst den Anfang macht. (3) Nach dem Schmücken der Standbilder spendeten sie frische Ziegen- und Schafmilch und weihten noch eine Hirtenflöte, um die Nachtigallen zum Singen zu ermuntern. (4) Die antworteten wirklich aus dem Gehölz, und zwar übten sie ihre Klage um Itys, als müßten sie sich nach dem langen Schweigen auf das Lied erst wieder besinnen.
13 (1) Die Schafe blökten, und die Lämmer hüpften und krochen unter die Mütter, um aus den Eutern zu trinken. Die Widder folgten den Tieren, die noch nicht geworfen hatten, jeder dem seinen, brachten sie unter sich und besprangen sie. (2) Ebenso stellten die Böcke den Ziegen mit brünstigeren Sprüngen nach und kämpften um sie; und jedes Männchen hatte sein Weibchen und achtete wohl darauf, daß es ihm nicht heimlich entführt wurde. (3) Greise hätte dieser Anblick zu Liebeslust entflammt, wieviel mehr die beiden, die jung und blühend waren und sich schon lange nach Liebe sehnten. Sie entbrannten und verzehrten sich bei allem, was sie beobachteten, und wollten nun selbst mehr als nur Kuß und Umarmung, besonders Daphnis. (4) Die häusliche Ruhe und die lange winterliche Muße hatten ihn kräftiger gemacht, er konnte sich an Küssen und Umarmungen nicht sättigen, und war bei allem, was er tat, heftiger und kühner.
14,3, 4, 5, sehr unsicher, Übersetzung sehr anders als in Reclam
14 (1) Schließlich bat er Chloe, ihm noch mehr zu gewähren und sich unbekleidet auf den Boden zu legen, was auch er tun wolle, und länger so zu verharren als früher; dieses Mittel des Philetas fehle ihnen noch, und es sei das einzige, das ihnen Linderung verschaffen könne. (2) Und als sie fragte, was es denn noch mehr gebe als Kuß und Umarmung und das Liegen selbst, wies er auf das Treiben der Widder und Schafe und der Böcke und Ziegen hin. Doch Chloe verstand ihn nicht und erwiderte: »Betrachte die Tiere recht genau und sage mir, weshalb ich mein Gewand abtun soll. Sie sind durch ihre Zotteln doch viel mehr bedeckt als ich durch meine Kleider.« Daphnis ließ sich überzeugen und lag nun da und wartete vergebens auf die Erfüllung seiner Wünsche; und zuletzt setzte er sich hin und weinte, weil er unerfahrener in der Liebe sei als ein Schafbock.
15,4, 5 unsicher
15 (1) Nun hatten sie einen Nachbarn, einen Bauern mit eigenem Grund und Boden. Der hieß Chromis und war schon alt, und sein Leib war schon im Verblühen. Er hatte sich ein Weibchen aus der Stadt geholt, Lykainion nannte sie sich, und jung war sie und hübsch und viel zu fein für das Landleben. (2) Diese Lykainion hatte schon lange beobachtet, wie Daphnis seine Ziegen jeden Morgen auf die Weide und jeden Abend wieder heim trieb, und sich vorgenommen, ihn durch Gaben zu gewinnen und zu ihrem Liebhaber zu machen. (3) Also paßte sie ihm auf, und als sie ihn allein traf, schenkte sie ihm einmal eine Hirtenflöte, ein andermal Honig und dann wieder eine Tasche aus Hirschleder. Von ihrem Vorhaben sagte sie aber noch nichts, weil sie vermutete, daß er in Chloe verliebt sei. Sie sah ja auch, wie er sich um das Mädchen bemühte, (4) und ihr Lachen und andere Anzeichen bestärkten ihre Ahnung. Eines Morgens log sie ihrem Manne vor, sie müsse in der Nachbarschaft eine Wöchnerin aufsuchen; in Wirklichkeit ging sie den beiden nach, versteckte sich im Gehölz, so daß sie nicht gesehen werden konnte, hörte und sah alles, (5) und merkte auch, daß Daphnis weinte. Sie hatte Mitleid mit dem Armen und hielt nun den rechten Augenblick in doppeltem Sinne für gekommen: sie konnte den beiden helfen und zugleich sich selbst Gutes tun, und so erdachte sie folgende List:
16 (1) Am nächsten Tage wollte sie angeblich wieder die benachbarte Wöchnerin besuchen, ging aber statt dessen ohne weiteres zur Eiche, an der Daphnis und Chloe saßen, spielte täuschend die Bestürzte und rief: (2) »Ich Unselige! Hilf mir doch, Daphnis! Von meinen zwanzig Gänsen hat der Adler die allerschönste geholt. Weil er die schwere Last in der Luft nicht halten und sie nicht zum hohen Felsen schleppen konnte, auf dem er sein Nest hat, ist er mit ihr im niedrigen Gehölz eingefallen. (3) Bei den Nymphen und bei dem Pan, der dort wohnt, flehe ich dich an, mich in den Wald zu begleiten, denn allein fürchte ich mich. Und dann rette mir die Gans und sorge dafür, daß meine Herde vollzählig bleibt. (4) Vielleicht kannst du dabei auch den Adler erlegen, und er raubt euch dann nicht mehr so viele Lämmer und Böcklein. Über deine Tiere wird Chloe so lange wachen. Die Ziegen kennen sie ja genau, da sie immer mit dir zum Hüten geht.«
17 (1) Daphnis ahnte nichts von dem, was ihm bevorstand, erhob sich auf der Stelle, nahm seinen Hirtenstab und folgte Lykainion. Sie führte ihn möglichst weit von dem Mädchen weg, und erst als sie im tiefsten Dickicht angelangt waren, hieß sie ihn an einer Quelle niedersitzen und sagte: »Du liebst Chloe, Daphnis. Das erfuhr ich in der vergangenen Nacht von den Nymphen. (2) Im Traum haben sie mir von deinen gestrigen Tränen erzählt und mir befohlen, dir zu helfen und dich zu lehren, was man zu tun hat, wenn man liebt. Ja, das sind nicht Küsse und Umarmungen und nicht das, was Schaf- und Ziegenböcke anstellen, sondern ein viel süßerer Zeitvertreib von viel längerem Genuß. (3) Willst du also deiner Not ledig sein und die ersehnten Freuden kennen lernen, wohlan, so erweise dich als ein gehorsamer Schüler, und ich will den Nymphen zuliebe deine Lehrmeisterin sein.«
18,3, 4, sehr unsicher, andere Übersetzung als in Reclam
18 (1) Daphnis konnte sich vor Freude nicht lassen und unwissend, einfältig, verliebt und jung, wie er war, fiel er vor Lykainion nieder und beschwor sie, ihm so schnell wie möglich die Kunst zu zeigen, durch die er bei Chloe zum Ziel seiner Wünsche gelangen könne; (2) ja, als solle ihm etwas Großartiges und wahrhaft Gottgesandtes beigebracht werden, verhieß er ihr ein zartes Böcklein, zwei weiche Käse von der ersten Milch und sogar noch die Ziege dazu. (3) Auf eine Bereitwilligkeit von solcher Unschuld war Lykainion nicht gefaßt gewesen; und so trat denn auch der Erfolg ihrer Belehrung viel rascher ein, als sie erwartet hatte.
19 (1) Nach beendigtem Liebesunterricht wollte Daphnis, der seinen einfältigen Sinn bewahrt hatte, zu Chloe laufen und gleich wiederholen, was er gelernt hatte, als vergesse er es am Ende, wenn er zu lange warte. Doch Lykainion hielt ihn zurück, warnte ihn und sagte, das Mädchen sei noch jung, und leicht könne er ihm etwas zu Leide tun und ihm Schmerz bereiten, und das wolle er doch ganz gewiß nicht.
20,2, 3, sehr unsicher, andere Übersetzung als in Reclam
20 (1) Sprach’s, gab vor, nach ihrer Gans sehen zu wollen und verschwand in einem andern Teil des Gehölzes. Daphnis dachte über ihre Worte nach, bezwang sein anfängliches Ungestüm und wollte Chloe nun nicht mehr zu dem bringen, was über Kuß und Umarmung hinausging. Denn was wäre ihm wohl verhaßter gewesen als ihr Schaden zuzufügen und der Anlaß ihrer Tränen zu sein? (2) Mit dem Vorsatz also, nichts als die gewohnten Freuden zu suchen, verließ er den Wald und kam zu Chloe, die an dem vertrauten Platz saß und eben dabei war, einen Veilchenkranz zu winden. Er behauptete, die Gans den Krallen des Adlers entrissen zu haben, dann umarmte und küßte er sie wie während des Liebesspiels mit Lykainion, denn das war ja nicht gefährlich. (3) Sie setzte ihm den Kranz auf und küßte seine Locken, und sie kamen ihr schöner vor als die Veilchen. Dann holte sie Feigenkuchen und ein paar Scheiben Brot aus ihrer Hirtentasche und gab ihm davon zu essen, stahl ihm den Bissen jedoch stets von den Lippen und aß selbst zuerst, wie ein junger Vogel.
21 (1) Während sie aßen, sich aber noch mehr Küsse raubten als Bissen, sahen sie eine Fischerbarke vorüberfahren. Es war kein Wind, ja es herrschte eine so völlige Stille, daß die Leute rudern mußten; und das taten sie auch nach Kräften, denn sie hatten sich zu sputen, wenn sie dem reichen Manne in der Stadt die Fische lebend ins Haus bringen wollten. (2) Dabei folgten sie dem Brauch aller Seeleute, die über eine Anstrengung hinwegzukommen suchen. Einer, nämlich der Bootsfahrer und Rudermeister, ließ ein Lied hören, und die übrigen fielen in einstimmigem Chorgesang immer an denselben Stellen ein. (2) Auf der offenen See verhallten die Töne, weil sie sich in der Luft verloren; bewegte sich das Schiff aber unter einem Küstenvorsprung oder in einer der weiten, halbmondförmigen Buchten, wurden sie lauter, und deutlich vernahm man die Stimmen und die Ruderschläge. (3) Eine Talmulde, zum Meere offen, fing nämlich den Schall wie ein Blasrohr auf und gab alles wieder, das Singen und das Rudern, und das hörte sich gar lieblich an. Zuerst kam immer der Ton von der See, und je später er verhallte, um so länger zögerte der vom Lande.
22 (1) Daphnis, der die Erscheinung kannte, war mit seiner ganzen Aufmerksamkeit auf dem Meere. Er freute sich über das Schiff, das rasch wie ein Vogel an der Küste dahinglitt, und versuchte, sich die Lieder zu merken, um sie später auf der Schalmei zu wiederholen. (2) Doch Chloe, die das sogenannte Echo zum ersten Male wahrnahm, blickte erstaunt auf die Flut und die arbeitenden Männer und dann wieder zum Walde, wo sie die Antwortenden suchte; (3) und als es einmal bei den Rudernden und im Tal gleichzeitig still wurde, fragte sie Daphnis, ob denn hinter dem Küstenvorsprung noch ein Meer sei, auf dem auch ein Schiff fahre, und ob dort andere Seeleute dasselbe sängen und ob nun alle auf einmal schwiegen. (4) Da lachte Daphnis mit großer Anmut, und ebenso anmutig war sein Kuß. Dann setzte er ihr den Veilchenkranz auf und erzählte die Geschichte von der Echo, forderte jedoch als Lohn für seine Belehrung zehn weitere Küsse.
23 (1) »Ein weitverzweigtes Geschlecht, mein liebes Mädchen, sind die Nymphen. Da sind die Quellnymphen, die Baum- und die Sumpfnymphen, und alle sind sie schön, und alle singen sie. Ihrer einer Tochter war Echo, sterblich als Kind eines sterblichen Vaters, doch wunderschön, weil sie eine wunderschöne Mutter hatte. (2) Von Nymphen wurde sie erzogen und von den Musen lernte sie die Schalmei und die Flöte spielen, die Leier und die Laute schlagen und alle Arten von Gesang; und als sie zu einer herrlichen Jungfrau erblüht war, tanzte sie mit den Nymphen und sang sie mit den Musen, doch sie mied alle männlichen Wesen, Menschen wie Götter, so liebte sie ihr Mädchentum. (3) Pan zürnte ihr, weil er ihre Kunst neidet, und weil ihre Schönheit nicht gefügig ist, und schlägt die Schäfer und Ziegenhirten mit Wahnsinn, bis sie sie gleich Wölfen oder wilden Hunden zerreißen und ihre Gliedmaßen, aus denen es noch immer singt, über den Erdboden verstreuen. (4) Aber die Erde verbirgt alles um der Nymphen willen, bewahrt auch den Gesang, und auf der Musen Geheiß ertönt die Stimme und ahmt alles nach, wie das Mädchen es früher getan hat: Götter, Menschen, Tiere und Blasrohre, ja sogar Pan selbst macht sie nach, wenn er auf der Schalmei spielt. (5) Der springt auf, wenn er das hört, jagt auf den Bergen hinter ihr her, und mehr noch als sie zu packen, wünscht er zu erfahren, wer der verborgene Schüler ist.«
24,3 unsicher
24 (1) Nach dieser Erzählung erhielt Daphnis nicht zehn, sondern unzählige Küsse. Und Echo wiederholte fast alles, wie um zu bezeugen, daß er nicht gelogen habe. Die Sonne schien täglich wärmer, denn der Frühling ging zu Ende und der Sommer begann, und da wurden ihnen wieder neue, sommerliche Freuden zuteil. (2) Er schwamm im Fluß, sie badete im Quell, er flötete mit den Winden im Fichtenhain um die Wette, sie maß sich im Singen mit den Nachtigallen. Oder sie jagten den plaudernden Heimchen nach, fingen die zirpenden Grillen, schüttelten die Bäume und labten sich an den Früchten. Sie lagen auch beieinander und zogen eben nur ein Ziegenfell über sich, (3) und leicht wäre Chloe zur Frau geworden, hätte Daphnis nicht an Lykainions Warnung gedacht. Da er fürchtete, seinem Vorsatz untreu zu werden, ließ er oft nicht zu, daß sie sich entkleidete. Das wunderte sie wohl, doch wagte sie nicht, nach der Ursache zu fragen.
25 (1) In diesem Sommer scharten sich die Freier um Chloe. Immer und von allen Seiten kamen sie und warben bei Dryas. Einige brachten ihre Gaben gleich mit, andere versprachen große Dinge. (2) Nape ließ sich durch die vielen Aussichten betören und riet, Chloe fortzugeben und ein Mädchen ihrer Jahre nicht im Hause zu behalten, da es vermutlich auf der Weide über kurz oder lang seine Jungfrauschaft doch verlieren und irgendeinen Schäfer um ein paar Äpfel oder Rosen zum Manne machen werde. Besser, sie werde bald eine Hausfrau, und sie beide behielten all das Schöne für ihr eigenes, ehelich geborenes Kind; vor kurzem war nämlich ein Knäblein bei ihnen zur Welt gekommen. (3) Dem Dryas machten solche Worte wohl Eindruck, zumal ihm von allen Seiten Zusagen gegeben wurden, wie sonst nie bei einem Hirtenmädchen. Aber dann überlegte er wieder, daß Chloe für die bäuerischen Freier viel zu gut sei und sie beide, wären ihre wahren Eltern erst einmal gefunden, zu reichen Leuten machen werde, und so zögerte er mit der Antwort, schob sie immer aufs neue hinaus und steckte inzwischen manches Geschenk ein. (4) Als Chloe von alledem erfuhr, wurde sie sehr traurig, sagte ihrem Daphnis jedoch zunächst nichts, um ihn nicht zu betrüben. Doch als er sie eines Tages anflehte und mit Fragen bestürmte und behauptete, viel unglücklicher zu sein, wenn er nichts wisse, als wenn er die Wahrheit höre, erzählte sie ihm alles: von den Freiern, wieviele ihrer und wie reich sie wären; was Nape gesagt habe, um die Heirat zu betreiben, und daß Dryas dem nicht entgegen sei, die Angelegenheit jedoch bis zur Weinlese verschieben wolle.
26 (1) Daphnis geriet darüber fast von Sinnen, saß weinend da und behauptete, er werde sterben, wenn Chloe nicht mehr auf die Weide komme, und die Schafe, die so eine Hüterin nicht verlieren wollten, würden ebenfalls sterben. Schließlich beruhigte er sich und faßte wieder Mut. Er nahm sich vor, mit dem Vater zu reden, wollte also selbst zu den Freiern zählen, und hoffte sogar, die übrigen auszustechen. (2) Nur etwas bedrückte ihn, nämlich, daß Lamon nicht reich war; ja, das beeinträchtigte seine Zuversicht sogar sehr. Trotzdem nahm er sich vor, zu werben, und Chloe war der gleichen Ansicht. Dem alten Lamon mochte er seinen Wunsch freilich nicht unterbreiten, bei Myrtale ging es leichter, er gestand ihr seine Liebe und ließ auch ein paar Worte über das Heiraten fallen. Sie erzählte es nachts ihrem Manne weiter, (3) aber der nahm das Anliegen sehr unwirsch auf und schalt sie, daß sie einen Knaben, dem die Erkennungszeichen ein glänzendes Los verhießen, mit einem Hirtenmädchen verkuppeln wolle, zumal er sie beide, habe er die Seinigen nur erst gefunden, zu freien Eigentümern eines großen Grundstücks machen werde. Doch Myrtale fürchtete, der heftige Daphnis möchte sich am Ende ein Leid antun, wenn ihm jede Hoffnung auf die Heirat genommen werde, und gab einen anderen Grund für Lamons Weigerung an. (4) »Wir sind arm, mein Kind, und brauchen eine Schwiegertochter, die etwas ins Haus bringt, statt etwas zu fordern. Die dagegen sind reich und können auf einen reichen Schwiegersohn warten. Das beste ist, du sprichst mit Chloe, und sie spricht wieder mit ihrem Vater, daß er nicht so viel verlangt und euch zusammentut. Denn sie liebt dich ja über alles und will lieber bei einem schönen, armen Manne schlafen als bei einem reichen Affen.«
27 (1) Myrtale glaubte nicht, daß Dryas, zu dem reichere Bewerber kamen, sich würde umstimmen lassen, aber sie hatte die Heiratsgeschichte nun wenigstens auf gute Art von sich abgewendet. Auch Daphnis hatte an ihren Worten nichts auszusetzen; da er sich jedoch noch weit vom Ziel seiner Wünsche sah, tat er das, was mittellose Liebhaber zu tun pflegen: er fing zu weinen an und rief wieder einmal die Nymphen zu Hilfe. (2) Die erschienen ihm denn auch im Traum, in der Gestalt, in der er sie immer gesehen hatte, und wieder sprach die älteste: »Um Chloes Zukunft kümmert sich ein anderer Gott, aber wir wollen dir Geschenke verschaffen, mit denen du den alten Dryas erweichen kannst. (3) Das Fahrzeug der jungen Leute aus Methymna, das mit dem Strick aus Weidenruten, den deine Ziegen abgefressen haben, wurde damals weit vom Lande abgetrieben, ist jedoch schon in derselben Nacht von einem heftigen Seewinde wieder gegen die Klippen der vorspringenden Küste geschleudert worden. (4) Das Schiff und fast sein ganzer Inhalt wurden vernichtet, aber einen Beutel mit dreitausend Drachmen haben die Wogen ausgespien, und der liegt nun, von Tang bedeckt, nahe bei einem toten Delphin, den alle Vorübergehenden des üblen Geruchs wegen meiden. (5) Da geh hin, nimm was du findest, und gib ab, was du gefunden hast! Es ist so viel, daß du jetzt nicht arm erscheinst. In Zukunft wirst du sogar reich sein.«
28 (1) Nach diesen Worten verschwanden sie, und auch die Nacht ging zu Ende. Sobald es Tag war, sprang Daphnis überglücklich auf, trieb in großer Eile seine Ziegen auf die Weide, betete zu den Nymphen und lief, unter dem Vorwande, sich abspülen zu müssen, ans Meer. In Wahrheit ging er nahe der Brandung am Strande entlang und suchte die dreitausend Drachmen. (2) Es bedurfte keiner großen Anstrengung, um sie zu finden, denn der Gestank des angeschwemmten und schon modernden Delphins wehte ihm entgegen und diente als Wegweiser. So war er rasch an Ort und Stelle, räumte das Seegras weg und fand wirklich den vollen Geldbeutel. (3) Er hob ihn auf und tat ihn in die Hirtentasche, verließ den Platz aber erst, als er die Nymphen und den Gott des Meeres im Gebet gepriesen hatte. Denn, obschon er ein Ziegenhirt war, schien ihm das Meer, das ihm zur Ehe mit Chloe verhalf, jetzt mehr Segen zu wirken als das Land.
29 (1) Als er die dreitausend Drachmen hatte, war es mit seinem Kummer zu Ende. Er hielt sich nun für reicher als alle Nachbarn, ja für den reichsten Menschen überhaupt. Sofort rennt er zu Chloe, erzählt ihr den Traum, zeigt ihr den Fund, heißt sie auf die Ziegen achtgeben, bis er zurückkommt, und läuft zu Dryas. Er trifft ihn und Nape auf der Tenne beim Weizendreschen und ist dreist genug, die Rede gleich auf die Heirat zu bringen. (2) »Gib mir Chloe zur Frau! Ich kann gut Flöte spielen, Reben schneiden und Bäume setzen, verstehe auch zu pflügen und gegen den Wind zu worfeln; und daß ich ein guter Hirt bin, das kann Chloe bezeugen. Die fünfzig Ziegen, die ich übernahm, habe ich auf die doppelte Anzahl gebracht, auch schöne, stattliche Böcke habe ich groß gezogen, und wir brauchen unsere Ziegen nicht mehr zu fremden zu treiben. (3) Ferner bin ich jung und war euch immer ein untadeliger Nachbar, und was nicht das letzte ist: mich hat eine Ziege genährt sowie Chloe ein Schaf. Doch wie ich den übrigen in diesem allen voraus bin, so stehe ich ihnen auch an Gaben nicht nach. (4) Die bringen Ziegen und Schafe, ein Joch räudiger Ochsen oder Korn, daß man nicht mal Hühner damit füttern kann, aber von mir bekommt ihr dreitausend Drachmen. Nur darf niemand etwas davon erfahren, auch mein Vater Lamon nicht.« Damit gab er dem Dryas den Beutel und umarmte und küßte ihn.
30 (1) Das hatten die beiden Alten nicht erwartet. Als sie so viel Geld sahen, sagten sie ihm Chloe auf der Stelle zu und versprachen auch, Lamon zu überreden. (2) Nape und Daphnis blieben zurück, trieben die Ochsen in die Runde und preßten mit dem Dreschwagen die Ähren aus, während Dryas den Säckel bei den Erkennungszeichen versteckte. Dann ging er rasch zu Lamon und Myrtale, um etwas zu tun, was man sonst nicht zu tun pflegt, nämlich um den Bräutigam zu werben. (3) Die Alten waren gerade mit dem Abwiegen der Gerste beschäftigt, die vor kurzem geworfelt worden war, und hatten schlechte Laune, weil die Ernte nicht viel mehr ergab als die ausgestreute Saat. Doch Dryas tröstete sie und erzählte, daß man allenthalben die gleiche Klage höre. (4) Dann bat er um Daphnis für Chloe und setzte hinzu, andere gäben oder böten viel, aber von ihnen beiden wolle er nichts nehmen und sogar noch aus eigenen Mitteln beisteuern. Die Kinder seien zusammen aufgewachsen, und das gemeinsame Hirtenleben habe sie zu einer Liebe verbunden, die man nicht zerreißen könne. Auch hätten sie jetzt das richtige Alter, um miteinander zu schlafen. (5) Das sagte er und noch manches andere dazu, denn immer winkten die dreitausend Drachmen als Lohn für seine Überredungskunst. Lamon konnte nun weder seine Armut vorschützen, weil Chloes Eltern sie nicht verachteten, noch Daphnis’ Jahre, denn der war jetzt alt genug, und doch wollte er die Wahrheit nicht gern eingestehen, nämlich, daß der Knabe für diese Heirat zu gut sei. So schwieg er denn und antwortete erst nach einer Weile:
31 (1) »Ihr tut recht, daß ihr eure Nachbarn fremden Leuten vorzieht und Reichtum nicht höher schätzt als rechtschaffene Armut. Pan und die Nymphen mögen euch dafür gnädig sein. (2) Ich selbst bin sehr für diese Heirat und wäre ja ein Rasender, wenn ich alter Mann, und wo ich viele Hände zur Arbeit nötig habe, die dauernde Freundschaft mit eurem Hause nicht für einen großen Gewinn halten wollte. (3) Auch ist Chloe ja ein viel begehrtes, schönes, anmutiges und durchaus vortreffliches Mädchen. Doch ich bin ein Leibeigener und kann über nichts von dem Meinigen verfügen, und so muß mein Gebieter auch hiervon erst wissen und seine Einwilligung geben. Laßt uns deshalb die Heirat bis zur Weinernte verschieben! (4) Leute aus der Stadt, die uns besuchen, sagen, daß er um die Zeit kommen werde. Dann sollen die beiden Hochzeit machen. Inzwischen mögen sie einander liebhaben wie Bruder und Schwester. Aber eins mußt du noch wissen, Dryas! Du wirbst um einen Jüngling, der von edlerer Herkunft ist als wir.« Sprach’s und küßte ihn; reichte ihm dann, da der Mittag heiß war, einen Trunk und geleitete ihn unter vielen Freundlichkeiten ein Stück Weges.
32 (1) Dryas hatte Lamons letzte Worte keineswegs überhört und überlegte auf dem Heimwege, wer Daphnis wohl sein könne. »Von einer Ziege wurde er aufgezogen wie ein Schützling der Götter. Er ist schön und gleicht wahrhaftig nicht dem plattnasigen Alten und seinem kahlköpfigen Weibe. Auch brachte er die dreitausend Drachmen. Ziegenhirten pflegen nicht mal so viel Birnen zu besitzen. (2) Ob auch er von jemandem ausgesetzt wurde wie Chloe, ob Lamon ihn fand, wie ich das Mädchen, und ob auch ihm Erkennungszeichen mitgegeben wurden gleich denen, die ich entdeckte? Möchte dem so sein, o Herrscher Pan und ihr lieben Nymphen! Vielleicht wird, wenn er die Seinigen gefunden hat, auch das Geheimnis, das um Chloes Geburt schwebt, an den Tag kommen.« (3) Mit solchen Gedanken beschäftigte er sich, bis er vor seiner Tenne anlangte. Dort wartete Daphnis schon mit großer Spannung auf die Nachricht, die er bringen werde. Sie war gut, denn Dryas begrüßte ihn gleich als Eidam, versprach die Hochzeit für den Herbst und gab ihm die rechte Hand darauf, daß Chloe nie eines anderen Frau sein werde als die des Daphnis.
32 (1) Rascher als ein Gedanke, ohne vorher einen Trunk oder einen Bissen zu sich zu nehmen, lief der nun zu seiner Chloe, die gerade molk und Käse bereitete, und gleich rief er ihr die frohe Botschaft von der bevorstehenden Heirat zu. Und von nun ab küßte er sie nicht mehr verstohlen, sondern als seine Gattin und teilte auch mit ihr die Arbeit. (2) Er half ihr, wenn sie die Milch in die Eimer füllte oder die Käse auf der Darre formte oder die Lämmlein und Böcklein unter die Muttertiere setzte. Und wenn sie alles schön besorgt hatten, aßen und tranken sie und trieben sich umher, um reifes Obst zu suchen. (3) Davon gab es in dieser Jahreszeit, die in allem fruchtbar war, eine große Menge: wilde Birnen, Gartenbirnen und Äpfel. Viele waren heruntergefallen, andere hingen noch an den Bäumen. Was am Boden lag, duftete lieblicher, was an den Zweigen saß, strahlte heller; wie Wein dufteten die einen, wie Gold leuchteten die andern. (4) Ein Apfelbaum war schon ganz abgeerntet worden, er hatte weder Früchte noch Laub, kahl waren alle seine Zweige. Nur ein einziger Apfel hing noch im höchsten Wipfel, der war groß und schön und gewiß den meisten andern an Wohlgeruch vor aus. Der Mann, der die übrigen gepflückt hatte, war aus Furcht nicht hinaufgestiegen oder hatte versäumt, ihn abzunehmen. Vielleicht wollte er die schöne Frucht auch für den liebenden Hirten erhalten.
34 (1) Sobald Daphnis den Apfel erblickte, traf er Anstalten, ihn zu holen, und hörte auch nicht auf Chloe, die ihn zu hindern suchte. Traurig schlich sie zu ihren Tieren, weil er keine Rücksicht auf sie nahm, aber er kletterte trotzdem herauf, kam auch nach oben, pflückte die Frucht, brachte sie dem Mädchen als Geschenk und sagte zu der immer noch Schmollenden: »Eine schöne Jahreszeit hat diesen Apfel hervorgebracht, mein liebes Mädchen, ein schöner Baum hat ihm Nahrung gespendet, die Sonne hat ihn zur Reife gebracht, und ein freundliches Geschick ihn für uns aufbewahrt. (2) Sollte ich ihn dort oben lassen, wo ich Augen im Kopf habe? Er wäre doch nur heruntergefallen, ein Tier hätte ihn beim Weiden zertreten oder ein schleichender Wurm ihn vergiftet oder die Zeit ihn verdorben, und auch wir würden ihn am Boden höchstens einmal betrachtet und bewundert haben. Einen Apfel wählte Aphrodite als Preis für ihre Schönheit, einen Apfel überreiche ich dir als Preis für die deine. (3) Denn wir sind Richter von gleichem Stande, ja, Paris war sogar nur ein Schafhirt, während ich Ziegen hüte.« Sprach’s und legte ihr die Frucht in den Schoß. Sie küßte ihn, als er zu ihr trat, und er bereute nun nicht, daß er sich so hoch hinauf gewagt hatte, denn der Kuß, den er bekam, war mehr wert als ein goldener Apfel.
