4. Buch
Übersetzung
1 Als der Anführer von der Zurüstung der Feinde und der Zögerung der Hülftstruppen hörte, hielt er für gut, bis zur Ankunft der letztern in die Ortschaft, von welcher wir aufgebrochen waren, wieder zurückzukehren. Mir und Leukippen wurde eine Wohnung etwas oberhalb der des Anführers angewiesen. Gleich beym Eintritt umarmte ich sie, und wollte mich in ihren Schoos werfen. Als sie sich weigerte, sagte ich zu ihr: „Bis wie lange wollen wir uns der Freuden der Liebe enthalten? Siehst du nicht, wie alles so unerwartet trifft? der Schiffbruch, die Seeräuber, das Opfer, das Schlachten. – Laß uns, so lange wir vor dem Sturme des Schicksals gesichert sind, die günstige Zeit benutzen, ehe noch heftigere Stürme über uns emporsteigen.“ – „Für jetzt ist es uns noch nicht erlaubt, jenes zu thun,“ – erwiederte sie; „denn neulich, als ich eben geschlachtet werden sollte, und darüber wehklagte, erschien mir im Schlafe die Göttin Artemis;“94 „weine nicht, sagte sie, du wirst nicht sterben, ich werde dir zu Hülfe kommen; aber du mußt Jungfrau bleiben, bis ich dich deinem Bräutigam zuführe, und dieß wird gewiß kein anderer seyn, als Kleitophon.“ „Ich war zwar über den Aufschub unwillig, doch die Hofnung des Zukünfigten erfreute mich.“ – Dieser Traum erinnerte mich an einen ähnlichen, den ich in der verflossenen Nacht gehabt hatte. Ich glaubte, den Tempel der Aphrodite, und im demselben ihr Bildniß zu sehen, und näherte mich, um es anzuflehen; aber die Thüren waren verschlossen. Dieß machte mich unwillig. Sogleich erschien eine Frau, die der Bildsäule ähnlich sah, und sagte: „Jetzt ist es dir noch nicht erlaubt, in den Tempel zu gehen; aber wenn du noch einige Zeit wartest, so werde ich dir ihn nicht allein öffnen, sondern dich auch zum Priester der Göttin weihen.“ – Diesen Traum erzählte ich nun Leukippen, und stand von meinem Begehren ab. Doch, da ich über Leukippens Traum mehr bey mir nachdachte, wurde ich nicht wenig durch ihn erschüttert.
2 Unterdessen traf es sich, daß Charmides – dieß war der Name des Anführers – Leukippen bey folgender Gelegenheit sah und sich in sie verliebte. Man hatte ein Flußthier gefangen, das sehr sehenswerth war. Die Aegyptier nennen es Nilpferd, und nach der Erzählung sind auch seine Füße und sein Bauch wie beym Pferde gestaltet; nur hat es einen gespaltenen Huf. Es ist so groß, wie der größte Stier; hat einen breiten Schwanz, welcher wie der ganze übrige Körper ganz glatt ist, und einen runden großen Kopf. Seine Kinnbacken gleichen denen des Pferdes; die Nase steht weit offen und haucht einen feuerähnlichen Dampf, wie aus einer Feuerquelle, aus. Sein Knie ist so breit, als die Kinnbacken, und sein Rachen bis zu den Schläfen geöffnet. Es hat krumme Spitzzähne, die, ihrer Form und Ordnung nach, den Pferdezähnen gleichen, aber noch dreymal größer, als sie, sind.
3 Um dieses Thier zu sehen, rief uns der Anführer herbey. Leukippe war bey uns. Wir hatten unsere Augen auf das Thier, der Anführer aber auf Leukippen gerichtet; und ihre Schönheit fesselte ihn gleich beim ersten Anblicke. Um uns nun länger aufzuhalten, und seine Augen an ihrem Anblicke weiden zu können, suchte er uns durch lange Erzählungen und Reden hinzuhalten. Er erklärte uns erstlich die natürliche Beschaffenheit des Thieres, dann wie es gefangen werde; daß es das unersättlichste Thier sey, und ein ganzes Saatfeld abfresse. „Der Fang, fuhr er fort, geschieht auf folgende Art: man beobachtet seinen Aufenthalt, mach einen Graben und bedeckt ihn von oben mit Rohr und Schutt; unter dem Rohr steht ein Behältniß von Holz, dessen Thüren über dem Graben geöffnet sind, und auf den Fall des Thieres lauern. Tritt das Thier darauf, so wird es sogleich herunter geworfen; das Behältniß nimmt es, wie eine Gruft, auf, und die Jäger springen schnell herbey, verschließen die Thüren des Behälter, und bewahren so den Fang. Mit Gewalt würde das Thier, da es so starkt ist, niemand besiegen können; und außerdem, daß es eine so große Stärke besitzt, ist auch sein Fell, wie ihr seht, so rauh, daß es vom Eisen nicht verwundet werden kann. Kurz: es ist der Aegyptische Elephant; denn an Stärke kömmt es dem Indischen Elephanten beynahe gleich.“
4 Hast du schon einen Elephanten gesehen? fragte ihn dann Menelaos. – „Wohl,“ sagte Charmides; „auch hab’ ich mir von Männern, die genau darum wissen, seine wunderbare Geburth erzählen lassen.“ – „Wir kennen ihn,“ sagte ich, „bis diesen Tag nur aus Gemählden.“ – „Ich will es euch erzählen,“ erwiederte Charmides: „wir haben ja Muße. Die Mutter gebiehrt ihn, wenn er schon alt ist; denn er bildet sich im Mutterleibe erst in zehn Jahren; und nach Verfluß dieser Zeit tritt er, als Säugling ein Greis, ans Licht. Daher glaube ich auch, wird er so groß, so unbezwingbar von Stärke, und lebt so lange; denn man sagt von ihm, er übertreffe noch an Alter die Hesiodische Krähe95. Das Kinn des Elephanten ist so beschaffen, wie der Kopf des Stieres. Wenn du ihn sähest, würdest du glauben, sein Rachen habe zwey Hörner; dieß sind aber seine krummen Zähne. Zwischen diesen ragt ein Rüssel hervor, der von Gestalt und Größe der Salpinx gleicht, und dem Elephanten vorzügliche Dienste leistet; denn er reicht ihm die Nahrung zu, und alle Speisen, die ihm aufstoßen. Findet er eine Speise für den Elephanten, so ergreift er sie sogleich, und reicht sie, indem er den Rüssel nach unten nach dem Kinne krümmet, dem Munde dar; und trifft er etwas härteres an, so umfaßt er rings den Fang, hebt ihn empor, und reicht ihn als ein Geschenk seinem Gebiether in die Höhe; es sitzt nehmlich – eine ungewöhnliche Art zu reuten – ein Aethiopier auf ihm. Der Elephant schmeichelt ihm, hat Furcht vor ihm, hört auf seine Stimme, und duldet die Schläge, die ihm der Reuter mit einer eisernen Keule verstetzt. Eins sah ich auch ein seltenes Schauspiel. Ein Grieche steckte seinen Kopf mitten in den Rachen des Thieres; der Elephant hatte seinen Rachen geöffnet, und umhauchte den darin liegenden Menschen. Ich wunderte mich so wohl über die Kühnheit des Mannes, als über die Menschenliebe des Elephanten. Der Grieche sagte, er habe ihn auch dafür bezahlt, es umwehen ihn beynahe Indische Wohlgerüche, und dieß sey ein Heilmittel für Kopfschmerzen. Der Elephant weiß dies und öffnet den Mund nicht umsonst, sondern fordert, wie ein Marktschreyer, erst die Bezahlung. Giebt man sie ihm, so folgt er und zeigt sich dafür erkenntlich; er öffnet den Mund, und umschließt den Menschen, so weit dieser will: denn er weiß, daß er die Wohlgerüche verkauft hat.“
5 Woher, fragte ich ihn darauf, hat ein so ungestaltetes Thier den lieblichen Wohlgeruch? „Von seiner Nahrung,“ antwortete Charmides. „Das Land der Inder ist nehmlich der Sonne benachbart; die Inder sehen zuerst sie aufgehen; sie trifft das Licht heißer, und auch die Farbe ihres Körpers trägt die Spur von dem Feuer. Bey den Hellenen wächst eine Blume von schwarzer Farbe; bey den Indern aber ist sie keine Blume, sondern ein Zweig, so wie bey uns die Zweige der Gewächse sind. Sie verbirgt den Wohlgeruch ihres Hauches, und macht kein Aufsehen, entweder weil sie sich bey denen, die darum wissen, mit der Süßigkeit des Geruchs nicht brüsten will, oder weil sie ihn den Einwohnern mißgönnt. Pflanzt man sie aber etwas entfernt von dem Lande, wenn sie nur über die Gränze kömmt, so öffnet sie die versteckte Süßigkeit, und wird eine lieblich duftende Blume. Dieß ist die schwarze Rose der Inder. Sie dient den Elephanten zur Nahrung, so wie bey uns dem Rindviehe das Gras; der junge Elephant nährt sich von seiner Geburth an von ihr; und daher kömmt es, daß er aus dem Magen die süßesten Düfte aushaucht; denn er riecht nach seinem Futter. Dieß ist die Quelle seines duftenden Athems.“
6 Nach dieser Erzählung des Anführers entfernten wir uns. Bald darauf ließ er den Menelaos zu sich kommen, – denn wenn man verwundet ist, und vom Feuer der Liebe beunruhigt wird, kann man nicht an sich halten – faßte ihn bei der Hand, und sagte zu ihm: „aus dem, was du für den Kleitophon gethan hast, weiß ich, daß du ein biederer Freund bist, aber auch an mir wirst du einen eben so braven Mann finden. Ich bitte mir von dir eine Gefälligkeit aus, die dir leicht ist, mir aber das Leben retten kann. Ich bin in Leukippen sterblich verliebt, und flehe dich um Hülfe und Rettung. Sie ist dir noch für die Erhaltung ihres Lebens verbindlich. Erweisest du mir den Dienst, so sollst du fünfzig Goldstücke zur Belohnung empfangen, sie aber, so viel sie nur will.“ „Deine Goldstücke,“ erwiederte Menelaos, „behalte; hebe sie für die auf, die sich für ihre Gefälligkeiten bezahlen lassen; ich werde mich als dein Freund bemühen, dir zu dienen.“ Er gieng darauf zur mir, und erzählte mir alles. Wir berathschlagten uns, was zu thun sey; und unser Entschluß fiel dahin, ihn zu hintergehen; denn es ihm abzuschlagen, war damahls nicht ohne Gefahr; wir mußten besorgen, er möchte selbst Gewalt brauchen, und zu entfliehen, war unmöglich, da uns von allen Seiten Räuber einschlossen, und er selbst ein so zahlreiches Heer hatte.
7 Kurz darauf gieng Menelaos zum Charmides, und sagte ihm: das Werk ist vollbracht! Das Mädchen sträubte sich zwar anfangs sehr; als ich aber mit Bitten in sie drang, und sie daran erinnerte, wie sehr sie mir verpflichtet sey, willigte sie ein. Doch macht sie diese gerechte Forderungen an dich, du sollst ihr noch Frist geben, bis sie nach Alexandrien gelangt sey; dieß sey eine Ortschaft; hier würde alles so leicht bemerkt, und es seyen viele Zeugen da. „Du willst mir eine Gefälligkeit,“ sagte darauf Charmides, „weit hinaus schieben; wer könnte wohl im Kriege seinen Leidenschaften Frist geben? Wie weiß ein Krieger, der immer das Schwerdt in der Hand führt, ob er am Leben bleiben wird, da ihm der Tod auf allen Seiten bevorsteht? Erflehe mir vom Schicksale die Sicherheit meines Lebens, und ich warte. Ich rücke jetzt zum Kampfe mit den Räubern aus, und in meiner Brust tobt ein anderer Kampf; ein Krieger, mit Bogen und Pfeilen gerüstet, bestürmt mich; ich bin besiegt, und mein Herz ist mit Geschossen angefüllt; rufe mir, mein Lieber, schnell den Arzt herbey: die Wunde greift um sich; ich gehe den Feinden mit Feuer entgegen, und gegen mich hat Eros Fackeln in Brand gesetzt. Lösche mir erst dieses Feuer, Menelaos; die Liebesgemeinschaft, ehe man mit dem Feinde handgemein wird, hat eine schöne Vorbedeutung. Aphrodite mag mich zum Ares96 geleiten.“ „Du siehst doch aber,“ erwiederte Menelaos, „die Schwierigkeit ein, dieß vor ihrem Manne, der sich bey ihr befindet, und sie liebt, verborgen zu halten.“ „Das wird doch wohl nicht schwer halten, den Kleitophon wegzuschaffen?“ versetzte Charmides. Menelaos sah nun wohl ein, daß Charmides die Sache schleunig betrieb, und war meinetwegen in Besorgniß. Er sann daher schnell auf eine andere Ausflucht, den Anführer zu überreden, und sagte: „Willst du die wahre Ursache des Aufschubs hören? Sie hat gestern das Monathliche bekommen, und muß sich daher enthalten.“ „Nun so wollen wir,“ sagte Charmides, „drey oder vier Tage warten; das wird genug seyn; aber dieß fordere ich von ihr, und das kann sie thun: sie soll zu mir kommen, daß ich sie immer vor Augen habe, und mit ihr sprechen kann; ich will wenigstens ihre Stimme hören, ihre Hand berühren und ihren Körper betasten; dieß sind Tröstungen der Liebe; auch kann sie ohne Gefahr küssen.“
8 Als mir Menelaos davon Nachricht brachte, schrie ich auf: „Wie? lieber will ich sterben, als sehen, daß Leukippe einen andern küßt. Nichts ist süßer, als ein Kuß von ihr; die Begattung hat ihre Gränzen und ihre Sättigung, und ist nichts, wenn man ihr die Küsse wegnimmt; ein Kuß hingegen kennt keine Gränzen, erweckt nicht Ueberdruß, sondern ist immer neu. Die drey schönsten Dinge gehen aus dem Munde: der Hauch, die Stimme und der Kuß; man küßt sich mit den Lippen, und die Quelle der Lust entspringt aus der Seele. Glaube mir, Menelaos, – in der Noth verrathe ich die Geheimnisse der Liebe – ich selbst habe nur dieß allein von Leukippen empfangen; sie ist noch Jungfrau, und nur in sofern meine Frau, als ich sie geküßt habe; und wollte mir jemand auch dieses rauben, so würde ich den Verlust nicht ertragen können. Niemand soll mir die Küsse entheiligen!“ „Sonach müssen wir,“ versetzte Menelaos, „den besten und schleunigsten Rath fassen; denn der Liebende duldet, so lange, als er noch Hofnung hat, zu seinem Entzwecke zu gelangen, immer auf die Erfüllung seines Wunsches gespannt; wird ihm alle Hofnung benommen, so läßt er seine Begierde in Rache ausbrechen, und sucht die, welche ihm im Wege stehen, so viel er vermag, zu kränken; wenn er zumahl so mächtig ist, sich rächen zu können, ohne selbst dabey zu leiden; der Zorn wird noch heftiger und wilder, wenn das Gemüth nichts fürchtet, und auch die günstige Gelegenheit drängt uns, selbst schwierige Dinge durchzusetzen.“
9 Während wir diese Betrachtungen machten, kam jemand bestürzt hereingelaufen, und sagte, Leukippe sey beym Spatzieren gehen plötzlich umgefallen, und verdrehe die Augen. Wir sprangen auf, liefen zu ihr hin, und fanden sie auf der Erde liegend. Ich trat zu ihr, und fragte sie, was ihr fehle. Als sie mich sah, sprang sie auf und schlug mich mit einem wilden Blicke ins Gesicht; auch den Menelaos, der ihr zu Hülfe kommen wollte, schlug sie mit dem Fuße. Als wir nun sahen, daß mit dem Uebel eine Art von Raserey verbunden war, ergriffen wir sie mit Gewalt, und suchten ihrer mächtig zu werden. Sie schlug aber gegen uns, ohne auf Züchtigkeit Rücksicht zu nehmen. Es entstand ein großer Auflauf um das Zelt herum; auch der Anführer lief hinzu, um zu sehen, was vorgefallen sey. Er argwöhnte anfangs, es wäre verstellte List gegen ihn, und warf einen unvermerkten Blick auf den Menelaos. Bald aber bemerkte er, daß sich die Sache wirklich so verhalte, wurde selbst gerührt, und hatte Mitleiden mit ihr. Man brachte Stricke herbey, und band ihr die Arme. Als ich ihre Hände gefesselt sah, und die meisten sich entfernt hatten, fleht’ ich zum Menelaos: „Lößt sie, lößt sie! die zarten Hände vertragen keine Fesseln; laßt mich mit ihr allein; ich will sie mit meinen Armen umfesseln; gegen mich mag sie ihre Wuth auslassen; denn was soll ich noch länger leben? Leukippe kennt mich ja nicht, wenn ich bey ihr bin. Gefesselt liegt sie vor mir; ich könnte sie lösen; und ich bin so grausam es nicht zu thun? Hat uns darum das Schicksal aus den Händen der Räuber befreyt, daß du ein Spiel der Raserey werdest? O wir Unglücklichen, wenn wird uns das Glück lächeln? Dem, was wir zu Hause fürchteten, sind wir entflohen, um Schiffbruch zu leiden; vom Meere sind wir errettet, und aus den Händen der Räuber befreyt worden, weil uns Raserey aufbehalten war. Ja, wenn du auch wieder zu Besinnnung kömmst, so muß ich doch noch einen zweyten Unfall befürchten. Wer kann unglücklicher, als wir, seyn, da wir selbst das Glück fürchten? Aber erhältst du nur deine Besinnung wieder, kömmst du nur wieder zu dir selbst, dann mag immerhin das Schicksal sein Spiel mit uns treiben.“
10 Menelaos und die mit ihm waren, suchten mich darauf zu trösten, und stellten mir vor, „solche Krankheiten dauerten nicht lange, und wären im Feuer der Jugend sehr häufig. Das jugendliche und von zu großer Heftigkeit aufbrausende Blut überströme oft die Adern, und lasse, indem es den Kopf innerlich bestürme, den Verstand in Betäubung versinken. Man müsse Aerzte kommen lassen und Heilmittel anwenden.“ Menelaos gieng darauf zum Anführer, und bath ihn, den Feldarzt hohlen zu lassen. Charmides war auch gleich bereitwillig dazu; denn Liebende freuen sich, wenn sie für ihre Geliebte etwas thun können. Der Arzt kam sogleich und erklärte: sie müsse vor allen Dingen schlafen, damit sich der wilde Ausbruch der Krankheit besänftige. „Der Schlaf ist das Heilmittel aller Krankheiten,“ setzte er hinzu; „dann wollen wir das Weitere besorgen.“ Er gab uns eine Arzney von der Größe einer Hülsenfrucht, und befahl uns, sie in Oehl aufzulösen, und ihr die Mitte des Kopfs damit zu bestreichen; er wolle ihr auch noch ein anderes Mittel zur Reinigung des Magens zubereiten. Wir thaten, wie er befohlen hatte. Sie schlummerte kurz darauf, nachdem sie damit gesalbt war, ein, und schlief den übrigen Theil der Nacht bis zum Morgen. Ich wachte die ganze Nach hindurch, saß weinend neben ihr, und sagte sie anblickend: „Du bist gefesselt, meine Geliebte, und bist nicht einmahl im Schlafe frey. Was magst du wohl jetzt für Erscheinungen haben? Bist du wohl im Schlafe bey Besinnung, oder auch deine Träume Raserey?“ Als sie aufstand, schrie sie wieder; wir konnten es aber nicht verstehene. Der Arzt war zugegen und wendete die andern Mittel an.
11 Unterdessen bekam der Anführer einen Brief vom Satrapen97 Aegyptens. Dieser enthielt wahrscheinlich eine Aufforderung, den Krieg zu beschleunigen; denn der Heerführer gab sogleich den Befehl, daß sich alle gegen die Räuber bewaffnen sollten. Ein jeder schritt sogleich, wie er nur konnte, zu den Waffen, und die Soldaten standen mit ihrem Anführer gerüstet da. Nachdem er ihnen das Zeichen zum Aufbruch und die Ordre gegeben hatte, das Lager aufzuschlagen, blieb er allein. Den folgenden Tag führte er die Armee gegen die Feinde. Die Lage des Orts war diese. Der Nil strömt vom Aegyptischen Theben herab, und fließt so bis Memphis; unterhalb ist er aber etwas gekrümmt. Der Nahme der Ortschaft am Ende des großen Stromes ist Syros. Von da durchbricht er die Erde, und aus einem Flusse entstehen drey, von denen sich zwey nach beyden Seiten hin frey ergießen; der dritte bildet das Land, wie ein Delta, und fließt eben so stark, wie vorher, ehe er getrennt war. Aber keiner von diesen Strömen fließt bis ans Meer hin, sondern der eine Arm vertheilt sich hier, der andere dort in die Städte; und diese Trennungen sind größer, als die Flüsse in Griechenland, das Wasser aber wird, ob es sich gleich nach allen Seiten hin vertheilt, nicht vermindert, sondern man beschifft, trinkt und besäet es.
12 Der große Nil ist ihnen alles: Fluß und Land, Meer und See. Man sieht hier – ein seltener Anblick! – neben den Schiffen Hafen, neben dem Ruder den Pflug, neben dem Steuerruder die Handhabe, die Hütten der Schiffer und Landbebauer, die Wohnungen der Fische und der Stiere. Was man beschifft, wird besäet, und was man bepflanzt, wird bebautes Meer. Der Fluß hat nehmlich seine bestimmten Zeiten, wo er ankömmt. Der Aegyptier erwartet ihn ruhig und zählt seine Tage ab; der Nil täuscht ihn nicht, sondern paßt die bestimmte Zeit ab, mißt sein Wasser zu, und bleibt nie über die Zeit aus. Nun sieht man den Fluß mit dem Lande ordentlich wetteifern; beydes kämpft mit einander; das Wasser, ein so großes Land zu überschwemmen, und das Land, ein so großes, süßes Meer zu fassen. Beyde tragen einen gleichen Sieg davon; denn nirgends ist der Besiegte sichtbar. Das Wasser dehnt sich mit dem Lande aus, und bleibt immer in den Gegenden, wo die Hirten wohnen, in großer Menge stehen; und wenn es das ganze Land unter Wasser gesetzt hat, bildet es dort auch Seen. Tritt der Nil wieder zurück, so bleiben die Seen; nur haben sie weniger Wasser, und mehr Schlamm. Auf diesen Seen geht und schifft man herum; aber kein anderes Fahrzeug kann darauf schiffen, als solche, die nur einen Menschen fassen; jedes andere bleibt im Schlamme fest sitzen. Die Aegyptier haben dazu kleine und leichte Kähne, für die ein wenig Wasser schon hinreicht. Ist die Gegend völlig wasserlos, so nehmen die Schiffer das Fahrzeug auf den Rücken, und tragen es, bis sie wieder Wasser finden. Mitten in diesen Seen liegen hin und wieder Inseln, die zwar keine Häuser haben, aber mit Papyrusstauden so dicht bewachsen sind, daß nur ein Mann zwischen ihnen Platz finden kann. Den obern Theil des Zwischenraums füllen die Blätter der Papyrusstauden aus. Die Räuber benutzen sie zu Berathschlagungen, und lauern hier im Hinterhalte versteckt: denn die Gewächse dienen ihnen anstatt der Mauern. Einige von jenen Inseln haben Hütten, die von Seen eingeschlossen sind und einer leicht befestigten Stadt gleichen. Dieß sind die Wohnungen der Räuber. Auf einer von den näherliegenden Inseln, die sich durch Größe und mehrere Hütten auszeichnete, Nahmens Nikochis, ihren festesten Ort, kamen die Räuber zusammen, voll Muth und Zuversicht, sowohl auf ihre Menge, als auch auf den Ort; denn nur ein enger Paß, eine Stadie lang und zwälf Klaftern breit, hielt ihn noch mit dem festen Lande zusammen, sonst war er ganz Insel, und ringsum war er von Seen umgeben.
13 Als sie den Anführer anrücken sahen, brauchten sie folgende List. Sie versammelten alle Greise, legten ihnen Palmstäbe98 zum Zwichen des Schutzes in die Hände, und stellten die stärksten von den jungen Männern, mit Schilden und Lanzen bewaffnet, hinter sie. Die Greise sollten die Friedenszweige emporhalten, und mit dem Laube der Blätter die Hintern bedecken; die Hintern aber sollten die Lanzen hinter sich herziehen, damit sie um so weniger bemerkt würden. Wenn sich der Anführer durch die Bitten der Greise überreden ließe, sollten die Bewaffneten vom Kampf abstehen; wo nicht, sollten ihn die Greise in die Stadt führen, unter dem Vorwande, daß sie sich ihn auf Leben und Tod ergeben wollten. Mitten auf der Landenge sollten dann die Greise auf ein gegebenes Zeichen davon laufen, und die Stäbe hinwerfen. Die Bewaffneten sollten hervorbrechen, und nach ihren Kräften den Kampf beginnen. So kamen nun die Greise an, und flehten zum Anführer, Ehrfurcht für ihr Alter, für die Friedenszweige zu haben, und ihre Stadt zu schonen. Sie versprachen ihnen für sich noch hundert Talente99 Silber und hundert Männer, welche sich für ihre Stadt auf jede Art aufzuopfern entschlossen hatten, in die Satrapie zu führen; ja ihnen noch Beute darzubringen. Dieses Versprechen war nicht etwa nur zum Scheine, sondern sie würden es erfüllt haben, wenn es der Anführer hätte annehmen wollen. Da er aber in ihre Bedingungen nicht einwilligte, sprachen diese Greise zu ihm: „Nun, wenn du es nicht annehmen willst, so wollen wir unser unglückliches Loos ertragen; nur erweise uns die Gefälligkeit, tödte uns nicht außerhalb der Thore, nicht fern von der Stadt; führe uns auf unsern heimischen Boden, zum väterlichen Heerd, und mache die Geburthsstadt zu unserm Begräbnißorte. Wohlan denn! wir gehen dir zum Tode voran.“ Der Anführer gab sonach die Zurüstung zur Schlacht auf, und befahl seinem Heere, ruhig zu folgen.
14 Die Räuber hatten in der Ferne Wächter hingestellt, und ihnen befohlen, sobald sie die Feinde ankommen sähen, den Damm des Flusses niederzureißen, und alles Wasser auf die Feinde loszulassen. An jedem Graben des Nils haben die Aegyptier einen Damm, um das Land gegen die Ueberschwemmung des Nils, wenn er etwa vor der nöthigen Zeit übertritt, zu schützen; und wenn sie das Feld wässern wollen, öffnen sie den Damm. Hinter jenem Orte nun war ein großer breiter Graben. Hier stießen die Lauerer, als sie die Krieger ankommen sahen, den Damm nieder; und alles geschah zu gleicher Zeit. Die Greise, die vorangiengen, trennten sich ab; die Hintern schwangen die Lanzen empor, und liefen hinzu; das Wasser strömte herbey. Die Seen schwollen an und stürzten hervor; die Erdzunge wurde überströmt und alles war ein Meer. Die Hirten eilten herbey und stießen die vordersten, welche zum Kampfe nicht gerüstet und durch den unvermutheten Ueberfall in Bestürzung geriethen, nieder; auch den Anführer durchstachen sie mit den Lanzen. Wie die andern umgekommen sind, läßt sich nicht angeben. Einige von ihnen fielen gleich beym ersten Angriff, ohne nur ihre Lanzen in Bewegung zu setzen; andere, ohne Zeit, sich zu vertheidigen, zu haben; denn so wie sie den Angriff der Feinde merkten, wurden sie auch niedergeworfen, und mehrere sogar, bevor sie etwas von der List der Räuber gewahr wurden. Einige standen vor plötzlicher Bestürzung still, und erwarteten den Tod; andere setzten sich etwas in Bewegung, der Strom zog ihnen aber die Beine weg, und sie gleiteten aus; noch andere, die zu fliehen versuchten, wurden in die Tiefe des Sees gewälzt, und fortgerissen; denn das Wasser war so stark, daß es denen, die auf dem Lande waren, bis über den Unterleib hinauf gieng und ihre Schilde emporschlug, so daß ihr Leib gegen die Wunden nicht geschützt war. Im See aber gieng das Wasser jedem Mann über den Kopf, und man konnte nicht unterscheiden, was See und was Land war. Daher kam es, daß die, welche auf der Erde hinliefen, aus Furcht sich zu verirren, nur langsam fliehen konnten, und desto leichter gefangen wurden, und diejenigen, die sich im See herumtrieben, weil sie ihn für Land hielten, untersanken. Es waren ganz neue Unglücksscenen: so viele litten Schiffbruch, und doch war nirgends ein Schiff zu sehen: und – ein unerwartetes, seltenes Schauspiel – man sah ein Landtreffen zu Wasser, und einen Schiffbruch auf dem Lande. Die Räuber machte dieser Vorfall übermüthig und kühn; weil sie nicht durch heimliche List, sondern durch Tapferkeit gesiegt zu haben glaubten. Ueberhaupt ist der Aegyptier, wenn er sich fürchtet, der feigherzigste Sclave; hat er hingegen auf etwas Zuversicht gesetzt, so ist er von Streitlust um so mehr entflammt. In beyden Fällen ist er übermäßig; er unterliegt aus zu großer Feigheit, und siegt mit zu vor eiliger Hitze.
15 Schon waren zehn Tage während Leukippens Raserey verflossen, und noch ließ die Krankheit nicht nach. Einstmahls schlief sie, und rief diese bedeutungsvollen Worte aus: „Gorgias, du bist die Ursache meiner Raserey.“ Mit Anbruch des Tages sagt’ ich dem Menelaos, was ich gehört hatte, und erkundigte mich, ob etwa in diesem Orte jemand wäre, der Gorgias hieße. Eben sollten wir ausgehen, als ein Jüngling zu uns kam, und mich mit den Worten anredete: „Ich komme, dich und deine Frau zu retten.“ Dieß setzte mich in Erstaunen; ich glaubte, er wäre vom Himmel gesandt, und sagte zu ihm: „Bist du nicht Gorgias.“ „Nein,“ antwortete er; „ich bin Chaireas; aber Gorgias hat dich unglücklich gemacht.“ Dieß setzte mich noch mehr in Erstaunen. Dann fragte ich: „wie unglücklich gemacht? Wer ist denn der Gorgias? Ein Dämon hat ihn mir des Nachts angezeigt; erkläre du mir die göttliche Anzeige.“ „Gorgias war,“ erzählte er, „ein Aegyptischer Soldat; jetzt ist er in den Händen der Räuber. Er liebte deine Frau, und da er von Geburth ein Giftmischer war, so bereitete er ihr einen Liebestrank zu, überredete den Aegyptier, der euch bedient, den Trank zu nehmen, und ihn der Leukippe in den Becher zu gießen. Der Aegyptier aber nahm ohne sein Wissen den Liebestrank unvermischt; und so bewirkte dieser anstatt Liebe Raserey. Dieß erzählte mir gestern der Diener des Gorgias, welcher mit ihm dem Feldzuge gegen die Räuber beywohnte. Das Glück hat ihn wahrscheinlich euretwegen erhalten. Er verlangt vier Goldstücke für die Heilung, denn er ist im Besitz eines Mittels, die Wirkung des Liebestrankes aufzuheben.“ „Wir danken dir,“ sagte ich zu ihm, „für deinen Dienst; den Menschen aber, von dem du uns erzählt hast, bringe zu uns.“ Darauf entfernte er sich. Ich aber gieng hinein zum Aegyptier, schlug ihn einige Mahl mit der Faust ins Gesicht, und fragte ihn laut schreyend: „Was hast du Leukippen gegeben? Was ist Schuld an ihrer Raserey?“ Der Aegyptier gerieth in Schrecken, und erzählte alles so, wie es Chaireas erzählt hatte. Darauf nahmen wir ihn in Verwahrung.
16 Unterdessen erschien Chaireas mit dem Menschen. Beyden erklärte ich, sie sollten die vier Goldstücke für ihre gütige Anzeige nehmen; „aber hört,“ setzte ich hinzu, „was ich von dem Arzneymittel urtheile. Ihr seht, daß auch das vorige Uebel durch ein Arzneymittel verursacht ward; und daher ist es nicht ohne Gefahr, die Eingeweide, die schon durch die vorige Arzney angegriffen sind, durch eine andere von neuem anzugreifen. Sagt mir, woraus diese Arzeney besteht, und bereitet sie in unserer Gegenwart zu; wollt ihr dieß, so sollt ihr noch vier andere Goldstücke zur Belohnung erhalten.“ „Du bist mit Recht besorgt,“ entgegnete mir der Fremde, „aber was dazu kömmt, sind gemeine Dinge, und alles eßbar; ich will selbst so viel davon essen, als das Mädchen bekommen soll.“ Dann gab er jemanden den Auftrag, sie zu kaufen, und herzubringen, und nannte ihm ein jedes. Man brachte sie sogleich. Darauf zerrieb er sie alle, und theilte sie in zwey Theile. „Dieses,“ sagte er, „trink’ ich zuerst, und diesen Theil werd’ ich dem Mädchen geben. Sie wird die ganze Nacht darauf schlafen, und des Morgens wird sie der Schlaf zugleich mit der Krankheit verlassen.“ Er selbst nahm zuerst von der Arzney, und befahl, ihr das übrige auf den Abend zu geben. „Ich will fortgehen,“ sagte er darauf, „und mich niederlegen; dieß erfordert die Arzeney.“ Mit diesen Worten gieng er hinweg, nachdem er von mir die vier Goldstücke erhalten hatte; die übrigen hatt’ ich ihm versprochen zu geben, wenn Leukippens Uebel gehoben wäre.
17 Zur Stunde, wo sie die Arzney nehmen sollte, goß ich sie ihr unter folgendem Gebeth in den Becher: „O du Sprößling der Erde, Geschenk des Asklepios100! Möchten doch deine Verheißungen wahr seyn! Bringe mir Glück, und rette mir meine Geliebte; besiege jene wilde, unmenschliche Arzney.“ Darauf küßte ich den Becher, und reichte ihn Leukippen zum trinken. Kurz darauf schlief sie, wie der Fremde gesagt hatte, ein. Ich saß neben ihr und sprach zu ihr, als wenn sie es verstünde: „Wirst du mir aber wirklich wieder zu Verstand kommen? Wirst du mich wieder erkennen? Werde ich deine Stimme wieder hören? Sage mir auch jetzt wieder etwas im Traume vorher, wie du gestern über den Gorgias weißagtest – Wahrhaftig! du bist jetzt sehr glücklich, und vorzüglich im Schlafe; denn wenn du aufwachst, verfällst du in Raserey; aber deine Träume sind doch vernünftig.“ So sprach ich zu Leukippen, als wenn sie es hörte. Endlich erschien der vielerwünschte Morgen. Leukippe redete wieder, und ihr erstes Wort war: Kleitophon! Ich sprang auf, trat zu ihr hin, und fragte sie, wie sie sich befände. Sie schien nichts von dem zu wissen, was mit ihr vorgegangen war; und als sie die Fesseln erblickte, wunderte sie sich, und fragte, wer sie gefesselt habe? Meine Freude war gränzenlos, da ich sie wieder hergestellt sah, und frohlockend lößte ich ihr die Fesseln. Darauf erzählte ich ihr den ganzen Vorfall. Sie schämte sich, da sie es hörte, erröthete, als wenn sie alles das noch jetzt thäte. Ich beruhigte und tröstete sie. Sehr gern gab ich die Belohnung für die Arzney. Unser ganzes Reisegeld war noch unversehrt; denn Satyros hatte es, da wir Schiffbruch litten, im Gürtel verwahrt; und nichts von dem, was er bey sich hatte, und weder er, noch Menelaos, war in die Hände der Räuber gekommen.
18 Unterdessen war ein größeres Heer aus der Hauptstadt gegen die Räuber angerückt, und machte ihre ganze Stadt dem Boden gleich. Als nun der Fluß vor den Streifereyen der Räuber gesichert war, rüsteten wir uns zur Fahrt nach Alexandria. Auch Chaireas schiffte mit uns, der siet der Anzeige jenes Arzneymittels unser Freund geworden war. Er stammte von der Insel Pharos ab, und trieb Fischerey. Dann diente er für Sold bey der Flotte gegen die Räuber; nach dem Kriege entfernte er sich vom Heere. Alles war nach dem langen Aufschube der Schiffahrt mit Schiffenden angefüllt, und both ein sehr erfreuliches Schauspiel dar; der Gesang der Schiffer, das Händeklatschen der Reisenden, die Reihen der Schiffe und der Fluß: alles war in Fröhlichkeit, und die Schiffahrt glich einem Feste aus dem Flusse. Damahls trank ich zum ersten Mahle vom Nil, ohne ihn mit Wein zu vermischen, um die Süßigkeit des Getränks zu unterscheiden; denn der Wein beraubt das Wasser seiner Natur. Ich schöpfte mit einem Becher von durchsichtigem Glase, und sah das Wasser an Klarheit mit dem Becher wetteifern; bemerkte sogar, daß es ihn übertraf. Es schmeckte süß und war kühl, ohne daß es seine Annehmlichkeit verlohr. Ich kenne einige Flüsse in Griechenland, die durch ihre Kälte schädlich sind; diese verglich ich mit dem Nil. Sonach hat der Aegyptier den Wein nicht nöthig, und braucht sich nicht zu scheuen, den Nil unvermischt zu trinken. Ich wunderte mich auch über die Art, wie sie trinken. Sie schöpfen ihn nicht mit Bechern, sondern bedienen sich des natürlichen Bechers, ihrer Hand. Dürstet jemand von ihnen, so neigt er sein Gesicht aus dem Schiffe nach dem Flusse hin, taucht die hohle Hand ins Wasser, füllt sie und wirft das Getränke nach dem Mund, ohne sein Ziel zu verfehlen. Der Mund erwartet geöffnet den Wurf; nimmt ihn auf, verschließt sich wieder, und läßt das Wasser nicht wieder herausfließen.
19 Ich sah auch im Nil ein Thier, das in Absicht auf seine Stärke über das Flußpferd gesetzt wird. Es wird Krokodil genennt. In Rücksicht auf seine Gestalt ist es ein Fisch, und ein Thier zugleich; denn vom Kopfe bis zum Schwanz ist es groß; die Breite aber entspricht der Größe nicht. Die Haut ist von Schuppen rauh, die Farbe des Rückens felsenartig und schwarz, der Bauch weiß. Es hat vier Füße, die sich allmählig schräge krümmen, wie bey der Landschildkröte. Der Schwanz ist lang, dick und gleicht einem festen Körper. Er ist nicht so, wie bey andern Thieren, sondern ein Bein des Rückrads geht bis an sein Ende, so daß er einen Theil des ganzen Rückrads ausmacht. Oben ist er in rauhe Stacheln zerschnitten, die den Spitzen der Säge gleichen. Der Schwanz dient ihm beym Fange zur Geißel. Er schlägt damit die, gegen welche er kämpft, und verursacht mit einem Schlage viele Wunden. Sein Kopf ist mit dem Rücken zusammengewachsen, und hält mit ihm gerade Richtung. Seinen Hals hat die Natur versteckt. Am furchtbarsten ist sein Rachen. Er erstreckt sich weit über die Kinnladen hinaus, und öffnet sich ganz. Thut er ihn zum Fange auf, so ist er ganz Rachen; außerdem macht er den Kopf aus. Er öffnet nur die obere Kinnlade, die untere hingegen ist sehr groß. Der Schlund geht bis zu den Schultern, und gleich daran stößt der Magen. Er hat viele Zähne, die in der besten Ordnung stehen. Man sagt, er habe ihrer so viel, als Tage im Jahr sind. Wenn er ans Land steigt, und man die Last seines Körpers sieht, so sollte man nicht glauben, daß er eine so große Stärke besäße.
Anmerkungen
94 Artemis, die Göttin der Jagd, der Römer Diana; wegen ihrer Beschäftigungen flieht sie die Banden der Ehe, und bleibt sonach ewig Jungfrau; die Jungfrauen stehen unter ihrem Schutze.
95 Wahrscheinlich spielt Achilles auf die Stelle des Hesiodos an, die sich beym Plutarchos erhalten hat:
Neun Geschlechter der blühenden Männer erreicht die geschwätz’ge
Kräge; der Hirsch lebt selber das Leben der Krähe noch viermahl;
Dreymal lebet der Rabe so lang’, als der Hirsch; doch der Phönix
Neunmahl lebt er den Raben, und zehnmahl lebet den Phönix
Ihr, schönlockigen Nymphen, des Aegisschwingenden Töchter.
Ein Menschen alter zählt 30 Jahre, folglich lebt die Krähe nach den Fabeln der Alten 270 Jahre.
96 Ares, der Römer Mars, der Gott des Krieges.
97 Satrapen hießen die Stadthalter oder Landvoigte.
98 Friedenszweige, deren man sich auch bediente, wenn man zu jemanden floh, und ihn um Schutz und Hülfe bath, bestanden bey den Griechen gewöhnlich aus Oehlzweigen, die mit wollenen — Bändern umwunden waren.
99 Ein Talent betrug bey den Griechen, nach unserm Gelde, gegen 1000 Thaler.
100 Asklepios, Apollons Sohn, der Gott der Arzneykunde und Vater der Aerzte.
