6. Buch
Übersetzung
1 Als ich Melittens Wünsche befriedigt hatte, sagte ich zu ihr: Aber wie willst du mir nun eine sichere Flucht verschaffen und dein Versprechen in Betreff der Leukippe erfüllen. Leukippens wegen, sagte sie, sey unbekümmert; denke, sie wäre schon bey dir. Ziehe nur jetzt mein Gewand an, und verhülle das Gesicht mit dem Schleier. Melantho wird dich durch das Haus auf die Straße bringen; an der Thüre wir dich ein Jüngling erwarten, dem ich befohlen habe, dich in das Haus zu führen, wo du den Kleinias und Satyros finden wirst, und wo auch Leukippe bald bey dir seyn wird. Bey diesen Worten warf sie mir ihr Gewand über, küßte mich und sagte: Wie viel schöner bist du nicht in diesem Gewande? So sah ich einst den Achilles113 abgebildet. Lebe glücklich, mein Geliebter, und bewahre dieses Kleid als ein Andenken von mir. Laß mir die deinigen zurück! Wenn sie meinen Körper umfließen, werde ich glauben, von dir umarmt zu werden! Sie gab mir noch hundert Goldstücke, rief die Melantho, welche an der Thüre Wache hielt, sagte ihr die getroffene Verabredung und befahl ihr, wenn ich hinaus wäre, wieder zu ihr ins Gefängniß zu kommen.
2 So entschlüpfte ich. Der Wächter des Gefängnisses machte mir auf Melantho’s Wink Platz, und ich kam durch die einsamen Gänge des Hauses an eine entlegene Thür, wo mich der von Melitten dazu bestellte Jüngling empfing. Er war ein Freigelassener, einer von denen, die mit uns geschifft waren, mit dem ich auch außerdem gut stand. Als Melantho zurückkam, verschloß der Wächter eben das Gefängniß. Sie ließ es wieder öffnen, ging hinein und erzählte Melitten, wie ich entkommen war. Dann rief sie den Wächter, der über den unerwarteten Vorfall, da er, mit dem Sprichwort zu reden, den Hirsch für das Mädchen114 erblickte, erstaunte und stillschweigend da stand. Nicht aus Mißtrauen gegen dich, redete ihn Melitte an, du möchtest etwa den Kleitophon nicht entlassen, bediente ich mich dieser List; sondern damit du gar nichts davon wissen und folglich beym Thersander ganz außer Schuld seyn solltest. Hier sind vom Kleitophon, wenn du hier bleibst, zehen Goldstücke zum Geschenke für dich. Gedenkst du aber zu entfliehen, so wirst du ein besseres Reisegeld bekommen. Was dir gut dünkt, meine Gebieterin, antwortete Pasion – so hieß der Wächter – halte auch ich für das Beste. Melitte gab ihm den Rath, sich für jetzt zu entfernen und dann, wenn sie mit ihrem Mann aufs reine gekommen wäre, und sein Zorn sich wieder gelegt hätte, zurückzukommen. Dieß that er auch.
3 Kaum war ich hier entronnen, so verfolgte mich das Schicksal von neuem und bereitete mir ein anderes Unglück. Es führte mir den Thersander gerade in die Hände. Er war nämlich von seinem Freunde, zu dem er gegangen war, überredet worden, nicht außer dem Hause zu bleiben und ging daher nach Tische wieder nach Hause. Eben wurde der Artemis115 ein Fest gefeyert und alles war voll Betrunkener. Die ganze Nacht hindurch war der Markt überall mit Menschen angefüllt. Schon dieß setzte mich in Furcht; aber ein anderes noch härteres Unglück stand mir bevor. Sosthenes, der Leukippen gekauft hatte und von Melitten seines Dienstes entlassen worden war, hatte, da er hörte, daß sein Heer wieder da wäre, das Landgut nicht verlassen und wollte sich jetzt an Melitten rächen. Erst verrieth er mich dem Thersander – denn er war der Verläumder. Dann erzählte er ihm auch von Leukippen und setzte mit viel Wahrscheinlichkeit mancherley Erdichtungen hinzu. Er hatte einmahl die Hoffnung, sie zu besitzen, aufgegeben und wollte sie daher seinem Gebieter zuführen, um auch zugleich diesen von Melitten abzuziehen. Ich habe, sagte er zu ihm, ein herrliches Mädchen gekauft, ihre Schönheit übersteigt allen Glauben. Traue einstweilen meinen Worten; du wirst sie, wenn du sie siehst, bestätigt finden. Diese habe ich für dich aufbewahrt. Denn ich hatte schon gehört, daß du noch am Leben wärest, und ich glaubte es, weil ich es wünschte; aber ich ließ es nicht bekannt werden, damit du die Gebieterin auf der That selbst ergriffst und ein ehrloser Fremder nicht etwa deiner spotten möchte. Die Gebieterin nahm sie gestern mit fort und wollte sie entlassen. Das Schicksal aber bewahrte eine solche Schönheit für dich auf. Sie ist jetzt auf dem Landgute. Melitte hat sie dahin geschickt, warum? kann ich nicht sagen. Ehe sie wieder zurück geht, will ich sie, wenn du meinst, einschließen und bewahren, damit du sie in deine Gewalt bekömmst.
4 Thersander gab ihm seinen Beyfall und befahl ihm, es zu thun. In der größten Eile lief Sosthenes auf das Landgut, und als er die Hütte erblickte, wo Leukippe übernachten wollte, befahl er zwey Arbeitern, Leukippens Dienerinnen, die sie bey sich hatte, heimlich bey Seite zu rufen und in möglichster Entfernung durch Gespräche hinzuhalten. Zwey andere nahm er mit sich. Kaum sieht er Leukippen allein, so springt er auf sie los, hält ihr den Mund zu, ergreift sie und führt sie auf der entgegengesetzten Seite, als wohin die Dienerinnen gegangen waren, in ein abgelegenes Zimmer. Nachdem er sie hier in Sicherheit gebracht hatte, sagte er zu ihr: Ich verkünde dir ein außerordentliches Glück; aber denke dann auch an mich, wenn du glücklich bist. Sey außer Sorge wegen dieses Raubes; glaube nicht, daß es zu deinem Unglücke geschehe; es wird dir die Gunst meines Herrn verschaffen, der dich liebt. Leukippe war durch diesen unerwarteten Zufall ganz außer Fassung und schwieg. Sosthenes aber eilte zum Thersander, traf ihn eben, als er nach Hause zurückgieng, und erzählte ihm, wie er seinen Entschluß ausgeführt hatte. Die Erzählung des Sosthenes von Leukippen und die Schilderung, welche er ihm in den erhabensten Ausdrücken von ihrer Schönheit machte, nahmen ihn ganz ein. Das Bild ihrer Schönheit schwebte ihm gleichsam vor Augen, und da eben das nächtliche Fest gefeyert wurde und das Landgut nur vier Stadien weit entfernt lag, so ließ er sich vom Sosthenes zu ihr führen.
5 Unterdessen war ich, in Melittens Gewand gehüllt, entflohen und fiel ihnen aus Unvorsichtigkeit in die Augen. Sieh da, rief Sosthenes, der mich zuerst erkannte, dieß ist der Ehebrecher! Gleich einer Bacchantin kömmt er uns entgegen; er hat auch noch deine Frau geplündert! Der Jüngling war zufällig etwas vorausgegangen und entfloh, sobald er sie gewahr wurde. Die Furcht ließ ihm nicht Zeit, mich auf sie aufmerksam zu machen. So wie sie mich sahen, ergriffen sie mich, Thersander erhob ein Geschrey und die Menschen, welche der nächtlichen Feyer beywohnten, liefen in großer Menge zusammen. Um desto mehr schrie Thersander, erlaubte sich die schändlichsten Ausdrücke, schalt mich einen Ehebrecher und Räuber. Dann führte er mich in das Gefängniß und klagte mich des Ehebruchs an. Nichts von diesem verursachte mir auch nur den mindesten Kummer, weder die Schmach der Fesseln noch seine Beschuldigung. Ich verließ mich darauf, ihm durch Gründe darzuthun, daß ich kein Ehebrecher wäre, sondern sie öffentlich geheyrathet hätte. In Besorgniß aber war ich um Leukippen, die ich nun offenbar nicht wieder bekam. Gewöhnlich ahndet die Seele nur das Unglück vorher; mit Prophezeyungen von bevorstehendem Glück erfreut sie uns am allerwenigsten. Ich sah daher auch von Leukippen nichts in dem gehörigen Lichte, sondern alles kam mir verdächtig vor, alles war voll Schreckbilder. So befand ich mich in einem traurigen Gemüthszustande.
6 Thersander ging, so bald er mich in das Gefängniß geworfen hatte, in der ersten Hitze zu Leukippen. Sie traten in das Haus und fanden sie auf der Erde liegend und noch in tiefen Gedanken über das, was Sosthenes eben zu ihr gesagt hatte. Kummer und Besorgniß zeigten sich auf ihrem Gesichte. Man sagt, dünkt mich, mit Unrecht, daß die Gedanken ganz unsichtbar seyen. Denn sie zeigen sich deutlich auf dem Gesichte, wie in einem Spiegel. Den Fröhlichen strahlt das Bild der Freude aus den Augen; bey den Traurigen zeigt sich der Kummer in der gerunzelten Stirn. Leukippe hörte die Thür öffnen und blickte etwas auf, schlug aber sogleich wieder die Augen nieder. In diesem flüchtigen Blicke, der wie ein Feuerstrahl, schnell vor ihm verschwand, schaute Thersander ihre Schönheit – denn der größte Theil der Schönheit hat ihren Sitz in den Augen – und sogleich flog ihr sein Herz entgegen. Er stand von dem Anblick gefesselt da und wartete sehnlich, ob sie irgend wieder zu ihm aufblicken würde. Sie hatte aber ihren Blick immer zur Erde gerichtet. Warum siehest du zur Erde? sagte er daher zu ihr. Warum lässest du die Schönheit deiner Augen auf die Erde herabfließen? Laß sie doch lieber zu meinen Augen heraufsteigen!
7 Als sie dieß hörte, wurden ihre Augen mit Thränen erfüllt und auch diese gaben ihr eine eigene Schönheit. Die Thräne giebt dem Auge etwas schmachtendes und erhebt es noch mehr. Hat es eine häßliche und rohe Bildung, so wird seine Häßlichkeit desto auffallender. Ist es aber anmuthig und verliert sich seine schwarze Farbe allmählich in eine weiße Umkränzung, so gleicht es, mit Thränen benetzt, einer wasserschwangern Quelle. Wenn die Thränenfluth das Auge rings umglüht, so schwillt das Weiße in ihm auf, das Schwarze aber strahlt wie Purpur; dieses glänz gleich dem Veilchen, jenes gleicht der Narkisse, und die im Auge zusammengedrängten Thränen lächeln uns an. So entzückten auch Leukippens Thränen und ihre Schönheit schien selbst den Kummer zu besiegen. Hätten sie sich im Fallen verdichten können, so würde eine neue Art Bernstein auf die Erde getröpfelt seyn. Thersander sah sie und erstaunte über ihre Schönheit; ihr Kummer setzte ihn außer sich und seine Augen füllten sich mit Thränen. Die Thränen flößen schon an sich denen, die sie sehen, Mitleiden ein; noch vielmehr aber die Thränen eines Weibes; – und sie sind um so bezaubernder, je reichlicher sie fließen. Ist überdieß die Weinende schön, und liebt sie der, welcher sie sieht, so kann das Auge nicht ruhen, sondern es ahmt die Thränen nach. Denn die Schönheit, die bey den Schönen in den Augen thront, fließt von da auf die Augen der Liebenden über und zieht die Thränenfluth mit sich fort. Der Liebende faßt beydes auf: die Schönheit reißt er mit sich in die Seele hinab, die Thräne aber bewahrt er in den Augen und wünscht, daß sie gesehen werden möchte. Zwar könnte er sie trocknen, aber er will es nicht, sondern hält sie so viel als möglich zurück, immer besorgt, sie möchte ihm vor der Zeit entrinnen. Selbst die Bewegungen der Augen sucht er zu hemmen, damit ihm die Thräne nicht etwa entfalle, bevor sie die Geliebte gesehen hat. Denn dieß hält er für ein Zeugniß seiner Liebe. So ging es dem Thersander. Er weinte, theils um Leukippen sein Mitleiden zu bezeugen, theils um sich bey ihr den gefälligen Schein zu geben, als wenn er blos deswegen weinte, weil er sie weinen sähe. Du siehst ihren Schmerz, sagte er zum Sosthenes; suche sie jetzt zu beruhigen. Ungern trenne ich mich von ihr; doch, um ihr nicht beschwerlich zu fallen, will ich mich entfernen. Ist sie etwas besänftigt, dann will ich mich mit ihr unterreden. – Aber, liebes Mädchen, fasse dich! Bald will ich deine Thränen stillen! Im Weggehen sagte er noch zum Sosthenes: du wirst ihr schon das Nöthige von mir sagen. Morgen früh, wenn du alles gehörig besorgt hast, komme zu mir. Hiermit entfernte er sich.
8 Während dieses geschah, hatte Melitte, weil sie nach der Zusammenkunft mit mir den Liebestrank nicht nöthig hatte, sogleich einen Diener auf das Landgut geschickt, um Leukippen wieder abzuhohlen. Er kam hinaus und fand die Dienerinnen ganz bestürzt. Sie waren eben beschäftigt, Leukippen aufzusuchen. Da man sie nirgends fand, lief er eilig zurück und meldete es Melitten. Die Nachricht nun, daß ich in’s Gefängniß geworfen und Leukippe unsichtbar geworden wäre, umwölkte ihre Stirn mit tiefer Trauer. Die Wahrheit davon konnte sie zwar nicht entdecken; doch hatte sie Verdacht auf den Sosthenes. Sie wünschte, Thersander möchte eine öffentliche Untersuchung ihretwegen anstellen lassen, und dachte deshalb auf eine listige Rede, worin sie die Wahrheit mit schlauen Erdichtungen verwebte.
9 Bey seiner Zurückkunft erhob Thersander ein neues Geschrey: Du hast dem Ehebrecher heimlich davon geholfen! Du hast ihm seine Fesseln gelößt und ihn aus dem Hause gelassen! Alles ist von dir veranstaltet. Warum bist du nicht gleich mit ihm gegangen? Was wartest du noch hier? Willst du nicht hingehen zu deinem Geliebten, um ihn mit noch schwerern Banden gefesselt zu sehen? Was für einen Ehebrecher? antwortete ihm Melitte. Was hast du denn vor? Laß ab von deiner Hitze und höre den Hergang des Ganzen; dann wirst du das Wahre leicht erkennen. Nur um eins bitte ich dich: Sey ein billiger Richter gegen mich, reinige deine Ohren von aller Verläumdung, verbanne den Zorn aus deinem Herzen, setze den Verstand zum unpartheiischen Richter und dann höre. Dieser Jüngling ist weder ein Ehebrecher, noch mein Mann. Er ist ein Phöniker von Geburt, der keinem der Tyrier nachsteht. Zur See traf auch ihn ein unglückliches Loos; seine ganze Ladung wurde ein Raub des Meeres. Ich hörte sein Schicksal und nahm mich seiner an. Ich erinnerte mich deiner und gab ihm Obdach. Vielleicht, dachte ich, irrt auch Thersander so umher; vielleicht nimmt sich auch seiner ein Weib an. Sollte er indeß, wie das Gerücht sagt, auf dem Meere würklich umgekommen seyn, so will ich wenigstens allem, was vom Schiffbruch übrig geblieben ist, Achtung und Ehre beweisen. Wie viele andere Unglückliche hab’ ich nicht gepflegt! Wie viele hab’ ich nicht begraben, die im Meer ihren Tod fanden! Konnt’ ich nur irgend ein Stück Holz erhaschen, das von einem gescheiterten Schiffe ans Land geworfen war, so dachte ich bey mir: Vielleicht schiffte Thersander auf diesem Schiffe! – Einer von denen, die zuletzt aus dem Meere gerettet wurden, war auch dieser Phöniker, mein Geliebter! Ich glaubte dadurch, daß ich ihm Achtung bewies, die gefällig zu seyn. Er hatte gleiches Loos mit dir und dieß flößte mir Achtung gegen ihn ein. Der eigentliche Grund aber, warum ich ihn mit hieher genommen habe, ist folgender: Er betrauerte ein Weib; niemand wußte, wo sie hingekommen war; gestorben aber war sie nicht. Dieß hatte er irgendwo erfahren, mit dem Zusatze, sie wäre hier bey einem unserer Diener, beym Sosthenes. So verhielt es sich auch würklich. Wir trafen sie bey unsrer Ankunft hier an, und so war die Absicht seiner Reise erfüllt. Du hast nun den Sosthenes, das Weib ist auf dem Landgute: forsche nach allem, was ich dir erzählt habe und habe ich irgend gelogen, so sollst du mich für eine Ehebrecherin halten.
10 So sprach sie und stellte sich, als wenn sie von Leukippens Verschwindung nichts wüßte. Sollte Thersander der Wahrheit auf die Spur zu kommen suchen, so behielt sie sich vor, die Dienerinnen, welche Leukippen auf das Landgut begleitet hatten, wenn sie gegen Morgen da wären, herbeyzuführen, damit sie aussagten, das Mädchen wäre, wie es würklich geschehen war, ganz verschwunden. Denn dadurch, daß sie sich die Aufsuchung so offenbar angelegen seyn ließ, glaubte sie ohnfehlbar auch den Thersander zu überzeugen. Um ihn noch mehr zu überreden, setzte sie hinzu: Glaube mir, lieber Mann! Sieh, seit wir zusammen leben, hast du mir nicht vorzuwerfen gehabt, und jetzt willst du mich in Verdacht haben? Ich ließ diesem Jüngling so viel Ehre wiederfahren, daher verbreitete sich das Gerücht, ohne daß man die wahre Ursach unsers Umgangs wußte. Dem Gerücht nach warst ja auch du gestorben. Das Gerücht und die Verläumdung sind zwey nahe verwandte Uebel. Jenes ist die Tochter von dieser. Die Verläumdung ist schärfer, als ein Schwerdt, heftiger, als das Feuer, überredender, als die Sirenen. Das Gerücht ist schlüpfriger, als das Wasser, schneller, als der Wind, behender, als der Vögelflug. Wird von der Verläumdung eine Sage abgeschickt, so fliegt diese gleich einem Pfeile davon und verwundet den Abwesenden, gegen welchen sie gerichtet ist. Wer sie hört, läßt sich sogleich von ihr einnehmen und, von Zorn entbrannt, wüthet er gegen den Verwundeten. Das dadurch entstandene Gerücht greift schnell um sich und befluthet die Ohren eines jeden, der ihm begegnet. Vom Hauche der Rede getrieben verbreitet es sich nach allen Seiten und eilt schnell dahin, vom Flügel der Zunge gehoben. Diese kämpfen jetzt beyde gegen mich; sie haben deine Seele eingenommen und meinen Reden die Pforten deiner Ohren verschlossen.
11 Bey diesen Worten ergriff sie seine Hand und wollte sie küssen. Er wurde etwas gelassener, das Ueberzeugende der Rede besänftigte ihn und die Uebereinstimmung, welche diese Erzählung von Leukippen mit Sosthenes Aussage hatte, entfernte zum Theil den Verdacht aus seiner Seele. Doch aber glaubte er ihr nicht ganz. Denn hat sich die Eifersucht einmahl der Seele bemächtigt, so kann sie nur mit Mühe wieder verdrängt werden. Er gerieth in die größte Bestürzung, als er hörte, daß das Mädchen meine Frau wäre, und sein Haß gegen mich vergrößerte sich noch mehr. Darauf versicherte er, der Sache weiter nachzuforschen und gieng allein zu Bette. Melitte aber befand sich in einer traurigen Stimmung; denn sie sahe nun die Erfülung ihres Versprechens vereitelt. Sosthenes, welcher den Thersander durch große Versprechungen in Betreff Leukippens zurückgehalten hatte, gieng wieder zu ihr, nahm eine fröhliche Miene an und sagte: Es steht gut um uns, Lakaina! Thersander liebt dich bis zur Raserey. Auch wird er dich bald zur Frau nehmen. Dieß Glück hast du mir zu verdanken. Denn ich hab’ ihm deine Schönheit mir zauberischen Farben geschildert und seine Seele ganz mit deinem Bild erfüllt. – Was weinst du? steh’ auf und bring’ Aphroditen ihr Opfer für dieses Glück. Denk’ aber dabey auch meiner!
12 Möchte dir, antwortete ihm Leukippe, ein gleiches Glück wiederfahren, wie du mir jetzt überbringst! Sosthenes merkte den darin liegenden Spott nicht, sondern nahm es für reine Wahrheit auf, und setzte mit freundlicher Miene hinzu: Um deine Freude noch größer zu machen, will ich dir nun auch sagen, wer Thersander ist. Er ist der Gemahl der Melitte, die du auf dem Landgute sahest; von Geburt der erste unter allen Joniern; sein Reichthum übersteigt noch seine Geburt und sein Edelsinn geht noch weit über seinen Reichthum. Wie alt er ist, weißt du; er ist jung und schön, und dieß ist ja das anlockendste für ein Weib. Nun konnte es Leukippe bey diesem Schwätzer nicht länger aushalten. Du nichtswürdiges Geschöpf! sagte sie. Wie lange willst du meine Ohren durch solche schaamlose Reden verunreinigen? Was geht mich Thersander an? Für Melitten mag er schön seyn, für die Stadt reich, großmüthig und edel für die, die seiner Hülfe bedürfen. Mich kümmert dieß nicht. Mag er von edlerer Geburt seyn, als Kodros116, mag er reicher seyn, als Krösos117; was zählst du mir diesen Schwall von Lobsprüchen her, die gar nicht hieher gehören? Dann werde ich den Thersander als einen edeln Mann schätzen, wenn er fremde Frauen nicht so schmählig behandelt.
13 Du scherzest! antwortete Sosthenes in vollem Ernste. Wie könnte ich scherzen? sagte sie. Ueberlaß du mich meinem Schicksal und dem Dämon, der mich verfolgt. Ich weiß, daß ich mich hier in einem Räuberneste befinde. Du mußt wahnsinnig seyn! erwiederte er. Hältst du denn dieß für ein Räubernest: Reichthum und Hochzeit und Wohlleben? – Das Glück giebt dir einen Mann, welchem die Götter so hold sind, daß sie ihn sogar mitten aus den Pforten des Todes zurückgeführt haben. Hierauf erzählte er ihr den Schiffbruch, wie er durch den Beystand der Götter errettet worden wäre, und erhob das Wunder weit über den Delphin des Arion118. Leukippe antwortete ihm nicht auf sein Geschwätz; er fuhr also fort: Sey auf dein Bestes bedacht! Laß dir davon nichts gegen den Thersander verlauten und bringe diesen gutherzigen Mann nicht auf. Denn, wird er zum Zorn gereizt, so läßt er sich nicht halten. Die Gutherzigkeit wird durch Dankbarkeit noch größer; wird sie aber verachtet, so geht sie in Zorn über, und je mehr ein Mensch zum Wohlthun geneigt ist, desto größer ist seine Neigung zur Rache. So stand es damahls mit Leukippen.
14 Kleinias und Satyros hatten kaum erfahren, daß ich im Gefängniß saß – Melitte hatte sie davon benachrichtigt – so kamen sie des Nachts zu mir und wollten bey mir bleiben. Der Kerkermeister aber erlaubte es ihnen nicht und befahl ihnen, sich so schnell als möglich wieder zu entfernen. So trieb er sie wider ihren Willen fort. In Betreff Leukippens gab ich ihnen den Auftrag, den andern Morgen, wenn sie zurückgekehrt wäre, eilig zu mir zu kommen. Ich überdachte Melittens Versprechungen und meine Seele schwebte zwischen Furcht und Hoffnung. Das, was ich hoffte, fürchtete ich, was ich fürchtete, hoffte ich.
15 Sobald es Tag wurde, eilte Sosthenes zu Thersander; Kleinias und Satyros aber zu mir. Kaum erblickte Thersander den Sosthenes, so fragte er ihn, wie es um das Mädchen stände? ob sie sich ihm ergeben wollte? Sosthenes sagte ihm nicht die reine Wahrheit, sondern erdichtet etwas sehr glaubhaftes. Sie sträubt sich zwar, sagte er; allein ich halte dieses Sträuben nicht für natürlich. Sie scheint zu argwöhnen, du würdest sie, wenn du einmahl deinen Zweck erreicht hättest, wieder entlassen. Und daher fürchtet sie deinen Antrag. Deswegen mag sie ganz ohne Sorge seyn, sagte Thersander. Meine Neigung zu ihr ist so stark, daß keine Ewigkeit sie vertilgen wird. Nur dieß Einzige macht mich noch besorgt: ich wünschte zu erfahren, ob das Mädchen, wie mir Melitte erzählt hat, wirklich die Frau des Jünglings ist. Unter diesem Gespräche waren sie an Leukippens Gemach gekommen. Als sie an die Thür kamen, hörten sie sie laut jammern. Sie traten daher leise hinter die Thür.
16 „O wehe mir, Kleitophon!“ So rief sie zu wiederholten Mahlen aus. „Du weißt nicht, wo man mich eingekerkert hat! Auch ich weiß nicht, was für ein Schicksal dir zu Theil worden ist. Ach, diese Unwissenheit selbst macht uns unglücklich. Thersander wird dich doch nicht in seinem Hause ertappt haben? Du wirst doch nicht auch so schmählig behandelt worden seyn? Wie oft wollte ich mich beym Sosthenes erkundigen! Aber ich wußte nicht, wie ich ihn fragen sollte. Sprach ich von dir, als von meinem Manne, so befürchtete ich, ich möchte den Thersander gegen dich aufbringen und dir ein Unglück zuziehen. Sprach ich von dir, als von einem Fremden, so konnte auch dieses Verdacht erregen. Denn was sollte sich ein Weib um die bekümmern, die ihr nichts angehen? – Wie oft wollte ich mir Gewalt anthun! aber ich konnte kein Wort über meine Zunge bringen. Nur für mich allein vermochte ich zu klagen.“ „O geliebter Kleitophon! rief ich dann aus. Mann der einzigen Leukippe, treu und standhaft! Kein anderes Weib konnte dich durch ihre Umarmungen zur Gunst bewegen, wenn [267] auch ich, Lieblose, es glaubte. Auf diesem Landgute sah ich dich nach so langer Zeit wieder – keine Umarmung gab ich dir?“ „Wie? Wenn jetzt Thersander käm’ und mich ausforschen wollte, was sollt’ ich ihm antworten? Sollt’ ich die Maske ablegen und ihm die reine Wahrheit erzählen? –“ „Halte mich nicht für eine niedrige Sclavin, Thersander. Ich bin eines Feldherrn Tochter aus Byzantion, die Frau eines vornehmen Tyriers. Ich bin nicht aus Thessalien, heiße nicht Lakaina. Von Räubern erlitt ich diese Schmach, selbst des Nahmens beraubten sie mich. Mein Mann ist Kleitophon, Byzantion mein Vaterland; Sostratos ist mein Vater, Panthia meine Mutter!“ „Wenn ich dir aber auch alles dieses sagte, du würdest mir doch nicht glauben. Und gesetzt auch, du glaubtest es, so fürchte ich für den Kleitophon; das voreilige Geständniß meiner freyen Geburt würde den Geliebten ins Unglück stürzen.“ „Wohlan denn! ich will mein Trauerspiel wieder beginnen, ich will wieder die Rolle der Lakaina übernehmen.“
17 [268] Als Thersander dieß hörte, trat er etwas zurück und sagte zum Sosthenes: Hast du gehört, was sie für unglaubliche Dinge sagte? wie der heißeste Drang der Liebe aus ihr sprach? wie sehr sie jammerte? wie sie sich Vorwürfe machte? – Ueberall wird mir dieser Ehebrecher vorgezogen! Ich glaube, dieser Räuber ist auch ein Giftmischer. Melitte liebt ihn, Leukippe liebt ihn. Beym Zeus! wenn ich doch Kleitophon wäre! Jetzt, mein Gebieter, antwortete Sosthenes, darfst du dabey nicht den Muth verlieren, sondern muß gerade zu dem Mädchen hingehen. Liebt sie diesen verwünschten Ehebrecher auch jetzt, so wird ihre Seele doch nur so lange für ihn eingenommen seyn, als sie ihn allein kennt und mit keinem andern Gemeinschaft hat. Du, der du ihn an Schönheit weit übertriffst, darfst nur Einen Angriff auf sie wagen, so wird sie jenen leicht vergessen. Eine neue Liebe macht die alte schwinden. Ein Weib liebt immer bloß das Gegenwärtige, des Abwesenden gedenkt sie nur so lange, als sie nichts Neues gefunden hat. Mit dem neuen Liebhaber hingegen entweicht der erstere aus ihrem Herzen. [269] Diese Rede gab dem Thersander neues Leben. Denn sobald man uns Hoffnung macht, den geliebten Gegenstand zu erlangen, so sind wir leicht zu überreden. Der mitkämpfende Wunsch, ihn zu besitzen, weckt im Menschen die Hoffnung.
18 Nach Leukippens Unterredung mit sich selbst wartete Thersander noch ein wenig, um nicht Verdacht zu geben, als hätte er sie belauscht. Dann gab er seinem Aeußern, wie er glaubte, ein gefälligeres Ansehn und gieng hinein. Als er Leukippen sah, entbrannte seine Seele von neuem. Sie kam ihm jetzt weit schöner vor. Die ganze Nacht hindurch, seit er von dem Mädchen weggegangen war, hatte er dieses Feuer in seiner Brust genährt, und jetzt, da es durch ihren Anblick wieder Nahrung bekam, loderte es sogleich zur Flamme empor, so daß er beynahe vor sie hingefallen wäre und sie umarmt hätte. Doch ermannte er sich, setzte sich neben sie [270] und sprach mit ihr von ganz gleichgültigen Dingen, die er ohne allen Sinn zusammen reihete. Die Liebenden machen es gewöhnlich so, wenn sie sich mit ihren Geliebten unterhalten wollen. Sie denken nicht daran, was sie reden; ihre Seele ist immer mit dem geliebten Gegenstande beschäftigt, nur die Zunge spricht, ohne vom Verstande geleitet zu werden. Während des Gesprächs umschlang er ihren Hals, als wenn er sie küssen wollte. Sie sah die Bewegung seiner Hand zuvor, bückte sich und verbarg ihr Gesicht in den Busen; demohngeachtet umschlang er sie und wollte ihr Gesicht mit Gewalt in die Höhe ziehen. Sie bückte sich aber von neuem und verbarg ihm die Küsse. Nach einem langen Ringen der Hände stemmte Thersander, von Liebe und Streitsucht entflammt, seine linke Hand ihr unter das Gesicht, mit der rechten ergriff er sie bey den Haaren und zog sie so mit der einen Hand zurück und mit der andern, die er unter das Kinn gestemmt hatte, stieß er sie in die Höhe. Als seine Gewalt endlich nachließ, mag er seinen Zweck nun erreicht oder nicht erreicht haben, [271] oder mag er ermüdet gewesen seyn: sagte Leukippe zu ihm: Du handelst nicht, wie ein freyer, nicht wie ein edler Mann; du machst es gerade, wie Sosthenes; der Diener ist seines Herrn würdig. – Aber laß ab und mache dir keine Hoffnung, deinen Zweck zu erreichen, es sey denn, du würdest Kleitophon!
19 Thersander wußte nicht, wie ihm geschah. Er liebte und zürnte. Liebe und Zorn aber sind zwey Fackeln. Ihr beyderseitiges Feuer ist von entgegengesetzter Natur, an Gewalt aber sich gleich. Das eine reizt zum Hasse, das andre zur Liebe. Beyde haben ihren Sitz neben einander; dieses in der Leber, jenes im Herzen. Wird der Mensch von beyden ergriffen, so schwebt seine Seele mitten inne; auf jeder Seite schwankt das Feuer des einen und streitet mit dem andern um den Ausschlag. Meistentheils trägt die Liebe, wenn sie ihre Wünsche erfüllt sieht, den Sieg davon. Wird sie hingegen von dem geliebten Gegenstande verachtet, so ruft sie den Zorn zum [272] Mitstreiter herbey. Dieser folgt dem Rufe des Nachbars, und so entzünden sie das Feuer gemeinschaftlich. Wenn sich nun der Zorn einmahl der Liebe bemächtigt hat und sie ausserhalb ihres eigenen Wohnsitzes gefesselt hält, so streitet er, von Natur unverträglich, mit ihr nicht, wie mit einem Freunde, für die Erreichung ihrer Wünsche, sondern er fesselt und beherrscht sie, um sie von der Sclaverey der Begierden zu befreyen, und erlaubt ihr nicht, sich mit dem Geliebten auszusöhnen, so sehr sie es auch wünscht. Vom Zorn unterdrückt sinkt sie zu Boden und, ihrer Freyheit beraubt, strebt sie umsonst sich zu ihrer eigenen Herrschaft wieder empor zu schwingen und wird gezwungen, den Geliebten zu hassen. So sehr indeß der Zorn aufbraußt und in schäumenden Wogen emporsteigt, so unterliegt er doch endlich der Uebersättigung und läßt nach. Dann sucht sich die Liebe zu rächen, rüstet die Begierden aus und besiegt den schon schlummernden Zorn. Es schmerzt sie die Schmach, wodurch sie den Geliebten kränkte, sie vertheidigt sich gegen ihn, fodert ihn auf zur neuen Vereinigung und verspricht, den Zorn durch die Süssigkeiten der Lust einzuschläfern. Werden ihre Wünsche erfüllt, so wird sie besänftigt. Wird sie hingegen nicht geachtet, so geht sie von neuem zum Zorn [273] über, der aus seinem Schlummer erwacht und wieder sein voriges Spiel beginnt. Denn der Zorn ist immer der Mitstreiter gekränkter Liebe.
20 Eben so war Thersander, so lange er noch seine Wünsche zu erreichen hoffte, ganz Leukippens Sklave. Da er sich aber in seiner Hoffnung getäuscht sah, verwandelten sich seine Lüste in Zorn. Er schlug sie in das Gesicht und sagte: Du schändliche Dirne! verworfene Sclavin! Eine Buhlerin bist du, weiter nichts. Ich hab’ alles gehört, was du gesprochen hast. Mußt du nicht froh seyn, daß ich nur mit dir rede? Mußt du es nicht für ein großes Glück halten, deinen Gebieter zu küssen? Und du willst dich auch noch verstellen? willst dich wie eine Wahnsinnige gebehrden? – Aber ich bleibe dabey, du mußt eine feile Buhlerin seyn; du liebst ja einen Ehebrecher! Willst du indeß meine Wünsche nicht befriedigen, wenn ich als Liebhaber zu dir komme, so werde ich mich dir als Gebieter zeigen. [274] Sey ein Tyrann, antwortete ihm Leukippe, mache mit mir, was du willst, alles will ich erdulden; nur Gewalt sollst du mir nicht anthun. Darauf wendete sie sich zum Sosthenes und sagte: Du kannst es bezeugen, wie ich mich gegen solche Schmach verhalte. Denn du hast mich noch schändlicher behandelt. Sosthenes fühlte sich getroffen und erröthete. Mein Gebieter, sagte er, mit Ruthen muß man sie durchpeitschen und mit tausendfachen Foltern peinigen, damit sie lerne, ihren Gebieter nicht verächtlich zu behandeln.
21 Folge doch dem Sosthenes! sagte Leukippe. Er hat dir einen herrlichen Rath gegeben. Laß die Foltern herbeykommen! Man bringe das Rad, hier sind meine Hände, aß sie ausspannen! Man bringe die Geiseln, hier ist mein Rücken, laß ihn zerhauen! Man bringe [275] herbey, hier ist mein Körper, laß ihn brennen! Man bringe das Schwerdt, hier ist mein Hals, laß ihn durchbohren! Ein neuer Kampf wird vor euren Augen beginnen; gegen alle Foltern kämpft ein einziges Weib und ein einziges Weib besiegt sie alle. – Du nennst den Kleitophon einen Ehebrecher, und bist doch selbst ein Ehebrecher? Scheuest du nicht deine Artemis? Willst du mitten in der Stadt der Jungfrau eine Jungfrau schänden? O Herrscherin, wo sind deine Pfeile! Du eine Jungfrau? sagte Thersander. Welche Frechheit! wie lächerlich! Eine Jungfrau, die so manche Nacht mit Räubern durchschwärmt hat! Waren die Räuber etwa Verschnittene? Oder waren sie strenge Philosophen? Es hatte wohl keiner von ihnen Augen.
22 Ob ich, erwiederte ihm Leukippe, auch nach den Angriffen des Sosthenes noch Jungfrau bin, darum frag’ ihn selbst. Er wurde würklich zum Räuber an mir. Jene blieben in [276] ihren Schranken, und keiner von ihnen übte solche Gewaltthätigkeit an mir aus. Ihr aber thut es; dieses ist ein wahres Räubernest. Ja, ohne Scheu verübt ihr, was die Räuber nicht einmahl gewagt haben. – Doch in dieser deiner Unverschämtheit liegt für mich der größte Lobspruch. Denn solltest du jetzt deine Wuth so weit treiben, mich zu morden, so wird man sagen: Leukippe blieb Jungfrau ungeachtet der Räuber, Jungfrau ungeachtet des Chaireas, Jungfrau auch beym Sosthenes. Doch dieses alles wollte noch nicht viel bedeuten; der größte Lobspruch wäre: sie blieb auch Jungfrau beym Thersander, einem unverschämteren Wollüstling, als alle Räuber. Wenn er nicht schänden kann, so mordet er. – Bewaffne dich doch nun; ergreife Geiseln, Rad, Feuer und Schwerdt gegen mich. Auch dein Rathgeber Sosthenes rüste sich mit dir. Ich bin ohne Waffen, allein und ein Weib, ich habe nur eine einzige Schutzwehr, die Freyheit, die nicht durch Prügel zerschlagen, nicht mit dem Schwerdt zerhauen, nicht mit Feuer verbrannt werden kann. Diese werd’ ich nie verlieren, und wenn du mich verbrenntest; in keinem Feuer wirst du eine Gluth finden, die dieß vermöchte!
Anmerkungen
113 Achilles, Peleus und Thetis Sohn, welcher mit dem Agamemnon vor Troja zog. Im Griechischen Heere war er nächst dem Nireus der schönste unter den Helden. Seine Mutter suchte ihn dem Trojanischen Kriege zu entziehen, kleidete ihn in weibliche Kleider und übergab ihn dem König Lykomedes auf der Insel Scyros, der ihn unter die Gespielinnen seiner Tochter Deidamia aufnahm.
114 Iphigenia, Agamemnons Tochter, sollte nach dem Befehle der Wahrsager, um die erzürnte Gottheit zu versöhnen, geschlachtet werden. Plötzlich aber war sie verschwunden und an ihrer Stelle stand ein Hirsch da, welchen man nun anstatt der Jungfrau opferte. Das Sprichwort wird von jedem schnellen Verschwinden gebraucht.
115 Artemis, der Römer Diana, die Göttin der Jagd. Als ewige Jungfrau führte sie den Beynahmen Parthenie. Sie hatte in Ephesus einen prächtigen Tempel, der unter die sieben Wunderwerke des Alterthums gezählt wurde. Deshalb heißt Ephesus weiter unten die Stadt der Jungfrau.
116 Kodros, der letzte König von Athen.
117 Krösos, König von Lydien, wegen seiner unermeßlichen Reichthümer berühmt.
118 Arion, ein griechischer Kitharenspieler, wollte sich eben, von Räubern, die ihn ausgeplündert hatten, zum Selbstmorde gezwungen, ins Meer stürzen, als ihn ein Delphin, von seinem Gesang angelockt, auf den Rücken nahm und glücklich ans Land brachte.
