4. Buch
1 (1) Einer von Lamons Mitsklaven kam aus Mytilene und meldete, kurz vor der Weinernte werde der Herr erscheinen, um sich selbst zu überzeugen, ob der Einfall der Methymnäer seinen Fluren Schaden zugefügt habe. (2) Da der Sommer nun schon zu Ende ging und der Herbst sich ankündigte, begann der Alte, den Landsitz seines Gebieters herzurichten, denn der sollte an allem seine Freude haben. (3) Die Quellen sollten klares Wasser geben und wurden gereinigt, der Hof durfte nicht durch Düngergeruch auffallen und wurde gesäubert, und dann wurde der Garten instand gesetzt, denn der vor allem sollte schön aussehen.
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2 (1) Er war auch wirklich ein herrlicher Besitz und nach der Art der königlichen Gärten angelegt. Der Länge nach maß er eine Achtelmeile, die Breite betrug viertausend Fuß. Er war hoch gelegen (2) und glich einer luftigen Au. Bäume waren da von jeder Art: Äpfel, Myrten, Birnen, Granaten, Feigen und Oliven. An einigen Stellen sah man auch die hochwachsende Rebe, die mit ihren reifenden Trauben die Äpfel- und Birnbäume umrankte, als streite sie mit ihnen um den Preis der Frucht. Das waren die edlen Gewächse. (3) Doch gab es auch Zypressen, Lorbeer, Platanen und Pinien. Um die alle schlang sich statt der Rebe der Efeu, und seine großen, schwärzlichen Dolden eiferten der Weintraube nach. (4) Die fruchttragenden Bäume standen innen, gleichsam geschützt, die unfruchtbaren zogen sich außen herum wie eine von Menschenhand hergestellte Einfriedigung, und das Ganze wurde von einer schmalen Mauer umschlossen. (5) Überall war hübsch gesondert und eingeteilt worden, und jeder Stamm hatte den gehörigen Abstand vom Nachbarstamm. Die Kronen wuchsen allerdings ineinander, und ihre Zweige verschwisterten sich, doch auch das schien Absicht, obschon die Natur es bewirkte. (6) Von den Blumen brachte viele die Erde allein hervor, andere hatte die Kunst des Menschen in Beeten gezogen. Rosen, Hyazinthen und Lilien waren ein Ergebnis von Fleiß; Veilchen, Narzissen und Gauchheil schenkte der Boden. Voller Schatten war der Garten im Sommer, voller Blumen- und Blütenduft im Frühling, Früchte trug er im Herbst, und in jeder Jahreszeit war er eine Pracht.
3 (1) Schön war die Aussicht auf das Flachland, wo man die Viehweiden erblickte, schön die auf das Meer, auf dem man Schiffe fahren sah, und dieser Ausblick trug zur Herrlichkeit des Ganzen bei. (2) Wo der Länge und Breite nach die Mitte war, standen Tempel und Altar des Dionysos. Efeu rankte sich um den Altar, Wein schoß am Tempel in die Höhe. Im Innern des Heiligtums sah man Darstellungen aus dem Leben des Gottes: die gebärende Semele, die schlafende Ariadne, den gefesselten Lykurgos, die Zerreißung des Pentheus, den Sieg über die Inder und die Verwandlung der Tyrrhener, und immer wieder kelternde Satyrn und tanzende Bacchantinnen. Auch Pan war nicht vergessen worden. Er saß auf einem Felsen und blies, und die Weise, die er anstimmte, schien für die Kelternden wie für den Reigen zu passen.
4 (1) Lamon machte nun den Garten zurecht, schnitt alles Trockene heraus, band die Reben auf, bekränzte das Standbild des Dionysos und führte den Blumen Wasser zu. Es gab da nämlich eine Quelle, die Daphnis entdeckt hatte; die war nur für die Blumen da, wurde aber nach ihm Daphnisquelle genannt. (2) Alsdann befahl der Alte dem Knaben, die Schafe so fett zu machen wie nur möglich, weil der Gebieter, der lange fern gewesen sei, sie jedenfalls in Augenschein nehmen werde. (3) Daphnis war guten Mutes und hoffte, ein Lob zu ernten, denn die Zahl seiner Ziegen war doppelt so groß wie zur Zeit, da er sie übernommen hatte, und keine einzige hatte der Wolf geraubt, und fetter waren sie als die Schafe. Und weil er den Herrn für die Heirat günstig stimmen wollte, widmete er sich mit aller Sorgfalt ihrer Pflege. Er trieb sie ganz früh hinaus und erst am späten Abend wieder heim, (4) führte sie zweimal zur Tränke und suchte immer nach den besten Weideplätzen, verschaffte sich auch neue Tröge, Melkeimer und schöne Käsedarren. Ja, so groß war sein Eifer, daß er ihnen die Hörner salbte und das Fell kämmte. (5) Man hätte sie für Pans heilige Herde halten können. Bei all seiner Mühe stand Chloe ihm zur Seite. Sie vernachlässigte sogar ihre Schafe und widmete sich dafür seinen Ziegen, und schließlich glaubte er, nur ihr sei es zu danken, wenn sie so schön wären.
5 (1) Inmitten dieser Beschäftigung traf ein zweiter Bote aus der Stadt ein und befahl, sofort mit der Weinernte zu beginnen. Er werde selbst dableiben, bis man den Most bereitet habe, und erst nach Beendigung der Lese zurückkehren, um den Herrn zu holen. (2) Man nahm den Boten, der Eudromos hieß, weil Laufen sein Geschäft war, mit vieler Freundlichkeit auf und machte sich dann unverzüglich an die Arbeit; brachte die Trauben in die Keltern, füllte den Most in Fässer und schnitt ein paar besonders schöne Rebzweige mit den Trauben ab, um den Städtern ein Bild von der Weinlese und ihren Freuden zu geben.
6 (1) Als Eudromos sich anschickte, wieder in die Stadt zu eilen, machte Daphnis ihm ein paar schöne Geschenke. Er gab, was man von einem Geißhirten erwarten kann: gut gepreßte Käse, ein Böcklein aus der letzten Wurfzeit und ein zottiges, weißes Ziegenfell, das jener im Winter beim Laufen tragen sollte. (2) Eudromos freute sich, küßte Daphnis und versprach, dem Herrn Gutes über ihn zu berichten. Dann verabschiedete er sich in freundlicher Gesinnung. Allein Daphnis, der mit Chloe zusammen hütete, war verzagt. (3) Und sie hatte nicht weniger Sorgen. Der Junge, der nichts als Ziegen und Schafe und nur Bauern und seine Chloe kannte, sollte auf einmal vor seinen Herrn treten, von dem er nur den Namen wußte. Ängstlich fragte er sich, wie er sich dabei verhalten würde, und zitterte für die Heirat, von der sie am Ende vergebens geträumt hatten. Sie küßten und umarmten einander ohne aufzuhören, als seien sie zusammengewachsen. Aber hinter den Küssen verbarg sich die Furcht, und hinter den Umarmungen der Kummer, als wäre der Herr schon da, und sie müßten sich vor ihm verkriechen. Dazu kam noch folgende Aufregung:
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7 (1) Es gab einen gewissen Lampis, der war Rinderhirt und ein roher Geselle. Auch er warb bei Dryas um Chloe und hatte schon viele Geschenke gebracht, weil er sich sehr nach dieser Heirat sehnte. (2) Als er nun begriff, daß Daphnis das Mädchen heimführen würde, wenn der Herr die Einwilligung gebe, sann er auf eine List, um diesen wider den Knaben und dessen Sippe aufzubringen; und da er wußte, wie stolz der Gebieter auf seinen Garten war, beschloß er, den nach Kräften zu verwüsten und seiner Pracht zu entkleiden. (3) Die Bäume konnte er freilich nicht umschlagen, weil man ihn bei dem Lärm ertappt hätte, doch um so gründlicher wollte er die Blumen zerstören. Er wartete die Nacht ab, kletterte über die Mauer, knickte hier die Stengel, riß dort sogar die Wurzeln aus, und wieder an anderer Stelle zertrampelte er alles wie ein Wildschwein. (4) Dann schlich er fort. Am nächsten Morgen kam Lamon wie immer in den Garten, um den Blumen Wasser zu geben, (5) und sah das Unglück. Feinde oder Räuber hätten nicht schlimmer hausen können. Auf der Stelle riß er seinen Rock entzwei und schrie laut: »O ihr Götter!« Da ließ Myrtale alles stehen und liegen, und ebenso kam Daphnis, der die Ziegen schon hinausgetrieben hatte. Und bei dem schrecklichen Anblick schrien und weinten auch sie.
8 (1) Die Trauer um die Blumen war jedoch vergeblich, und sie vergossen ihre Tränen wohl auch mehr aus Furcht vor dem Gebieter. Und doch hätte selbst ein Fremder beim Vorbeigehen weinen müssen, denn der Platz war so völlig verunstaltet, daß überall der lehmige Grund zum Vorschein kam. Manche Blume, die dem schlimmsten Frevel entgangen war, blühte allerdings noch und sah strahlend und schön aus, obgleich sie am Boden lag. (2) Und die Bienen kamen und summten, und es klang wie ein Klagelied. Lamon jammerte immer weiter und rief: (3) »Ach, die armen Rosenbüsche, die man geknickt, und die armen Veilchen, die man zertreten hat! Und was für ein schlechter Mensch muß es gewesen sein, der die Hyazinthen und Narzissen vernichtet hat! Der Frühling wird kommen, und sie blühen nicht; es wird Sommer sein, und sie entfalten ihren Flor nicht; der Herbst wird ins Land ziehen, und sie können niemanden kränzen. (4) Und auch du, Dionysos, der du Herr bist, hast dich der armen Blumen nicht erbarmt, wiewohl du unter ihnen wohnst und immer auf sie blicktest, und obgleich ich dich oft freudig mit ihnen geschmückt habe. Wie soll ich jetzt meinem Gebieter den Garten zeigen, und wie wird er sich verhalten, wenn er ihn sieht? Er wird mich alten Mann an einer Pinie aufhängen wie den Marsyas, und den Knaben am Ende auch, weil er die Ziegen für die Schuldigen hält.«
9 (1) Jetzt weinten sie noch heißere Tränen, aber sie jammerten nun nicht mehr um die Blumen, sondern um ihr eigenes Leben. Auch Chloe jammerte, weil Daphnis doch nun sicher aufgehängt würde. Sie wünschte, der Herr möchte gar nicht kommen, und verbrachte trostlose Tage, weil sie ihren Daphnis schon unter dem Hieb der Geißel sah. (2) Bei Anbruch der Nacht kam Eudromos mit der Meldung, der ältere Gebieter werde in drei Tagen da sein, der Sohn jedoch vor ihm, und zwar schon am nächsten Tage. (3) Sie besprachen nun den ganzen Vorfall mit dem Boten. Der war Daphnis wohlgesinnt und riet, zunächst dem jungen Herrn alles zu erzählen. Er selbst werde dabei helfen und könne wohl auch einiges ausrichten, da er dessen Milchbruder sei. Und am anderen Morgen handelten sie nach dieser Verabredung.
10 (1) Astylos, der Sohn, kam zu Pferde und mit ihm sein Parasit, gleichfalls beritten. Während jenem der erste Flaum wuchs, schor Gnathon, so hieß dieser, sich schon lange den Bart. Sofort näherte sich Lamon und mit ihm Myrtale und Daphnis. Alle drei fielen dem Jüngling zu Füßen, und Lamon bat, sich eines unseligen, alten Mannes zu erbarmen und ihn, der ohne Schuld sei, vor dem väterlichen Zorn zu schützen. Dann erzählte er alles. (2) Astylos hatte Mitleid und ging in den Garten, und als er die Verwüstung sah, erklärte er, dem Vater gegenüber die Schuld auf sich nehmen und alles auf seine Pferde schieben zu wollen. Die wären dort angebunden gewesen, wären wild geworden, hätten sich losgemacht, alles zertrampelt und sogar die Blumen mitsamt den Wurzeln aus dem Boden getreten. (3) Da erflehten Lamon und Myrtale allen Segen der Götter für ihn, und Daphnis kam mit Geschenken: Böcklein, Käsen, Vögeln und ihren Jungen, Trauben, die noch an der Rebe, und Äpfeln, die noch an ihren Zweigen saßen. Auch süßduftenden lesbischen Wein, eines der angenehmsten Getränke, brachte er.
11 (1) Astylos lobte alles und ging dann auf die Hasenjagd, denn er war ein reicher und stets dem Vergnügen lebender junger Herr und aufs Land nur gekommen, um neue Freuden zu genießen. (2) Doch Gnathon, ein Mensch, der nur gelernt hatte, zu essen und bis zum Rausch zu trinken und sich nach dem Rausch der Wollust zu ergeben, und der nur seinem Gaumen und seinem Bauch und noch niedrigeren Genüssen lebte, hatte ein Auge auf Daphnis geworfen, als der die Gaben überreichte; und weil er für Knaben schwärmte und hier eine Schönheit vor sich hatte, wie er sie in der Stadt nicht finden konnte, nahm er sich vor, ihm nachzustellen, zumal er es nicht für schwer hielt, einen Ziegenhirten zu gewinnen. (3) Da er solches im Sinn hatte, nahm er an Astylos’ Jagd nicht teil und ging statt dessen zu den Weideplätzen, unter dem Vorwande, die Ziegen, in Wahrheit, um den Knaben zu betrachten. Er gab ihm gute Worte, lobte die Tiere, bat, ihm eine Hirtenweise zu spielen, und versprach schließlich, ihm die Freiheit zu verschaffen, denn er vermöchte alles.
12 (1) Nun glaubte er ihn gefügig, lauerte ihm abends, als er die Ziegen von der Weide trieb, auf, lief auf ihn zu und küßte ihn. (2) Daphnis begriff ihn nicht und sah ihn nur erstaunt an; und als Gnathon Gewalt anwenden wollte und Hand an ihn zu legen versuchte, (3) stieß er den trunkenen Menschen von sich und schleuderte ihn zu Boden. Dann lief er davon, wie ein junges Tier, und ließ ihn liegen, der nun eines Mannes und nicht eines Knaben als Stütze bedurfte. Und fortan wich er ihm ganz aus und trieb seine Ziegen bald hierhin, bald dahin, um ihm nicht zu begegnen und Chloe zu schützen. (4) Aber auch Gnathon gab sich keine Mühe mehr, nachdem er erfahren hatte, daß Daphnis nicht nur schön, sondern auch stark sei, er spähte jedoch einen günstigen Augenblick, um mit Astylos über den Knaben zu sprechen. Er hoffte nämlich, ihn von dem Jüngling, der gern viel und reichlich gab, als Geschenk zu erhalten.
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13 (1) Im Augenblick kam es allerdings nicht dazu, denn Dionysophanes war mit Klearista, seiner Gattin, gekommen, und es gab ein großes Durcheinander von Zugtieren und Bedienten, Männern und Frauen. Doch fing er schon an, sich eine Rede auszudenken, die nicht weniger lang als verliebt werden sollte. (2) Dionysophanes war halb ergraut, aber ein großer und stattlicher Mann, der es mit jungen Leuten noch aufnehmen konnte, dabei reich wie nur wenige und rechtschaffen wie kein anderer. (3) Nach seiner Ankunft opferte er noch am gleichen Tage den Göttern, welche die Flur schützen: Demeter, Dionysos, Pan und den Nymphen, und ließ dann für alle Anwesenden einen gemeinsamen Mischkrug aufstellen. An den folgenden Tagen besichtigte er Lamons Wirtschaft, (4) und als er die Äcker gut bestellt, das Weingelände voller Reben und den Garten wohl imstande fand, denn, was die Blumen anging, so hatte Astylos die Schuld auf sich genommen, freute er sich sehr, lobte Lamon und versprach, ihn zu einem freien Manne zu machen. Dann begab er sich zu den Weideplätzen, um die Ziegen und ihren Hirten in Augenschein zu nehmen.
14 (1) Chloe flüchtete in den Wald, weil sie sich vor dem großen Menschenschwarm schämte und fürchtete. Aber Daphnis stand da, mit einem wolligen Ziegenfell um die Lenden, einer frisch genähten Hirtentasche um die Schultern, und hielt in jeder Hand etwas, in der einen ein paar frisch gepreßte Käse, in der andern ein paar Böcklein, die noch die Muttermilch nahmen. (2) Wenn Apollo je bei Laomedon um Lohn gedient hat, so ist er gewiß nicht schöner gewesen als Daphnis in diesem Augenblick war. Zu sprechen vermochte er kein Wort, Röte bedeckte seine Wangen, er sah zu Boden und hielt die Gaben hin. Statt seiner redete Lamon und sagte: (3) »Dies ist dein Ziegenhirt, Herr. Du gabst fünfzig Tiere in meine Hut und zwei Böcke; er hat hundert daraus gemacht und zehn Böcke. Sieh nur, wie fett sie sind, wie dicht im Fell und wie gut und stark im Gehörn! Auch die Tonkunst hat er sie gelehrt, und bei allem folgen sie dem Klang der Flöte.«
15 (1) Klearista, die bei diesen Worten zugegen war, wünschte den Beweis für ihre Wahrheit und befahl Daphnis, für die Ziegen zu spielen, wie er es sonst tue, und versprach ihm dafür einen Leibrock, einen Mantel und Schuhe. (2) Da hieß er sie denn alle niedersitzen wie im Theater, trat unter seine Buche und nahm die Flöte aus seiner Hirtentasche. Zuerst spielte er leise auf, und die Ziegen standen mit gehobenen Köpfen da. Dann flötete er das Weidelied, und gleich senkten sie die Köpfe und grasten. Darauf gab er eine zartere Weise an, und die ganze Herde legte sich nieder. (3) Wie er dann durchdringender blies, flüchteten sie in den Wald, als sei ein Wolf im Anzuge; und als er nach einer Weile einen Lockruf ertönen ließ, kamen sie zurück und liefen bis dicht vor seine Füße. (4) Wohl nie hat man Diener den Befehlen ihres Herrn so gehorsam gesehen. Alle staunten, besonders Klearista, und sie gelobte dem schönen, tonkundigen Hirten nun geradezu die Gaben. Dann ging man wieder ins Haus, nahm das Frühstück ein und schickte Daphnis von den Speisen.
16 (1) Der aß mit Chloe, freute sich am Genuß der städtischen Leckerbissen und war voller Hoffnung, daß er die Herrschaft für sich gewinnen und die Heirat durchsetzen werde. Doch Gnathon war durch die Vorgänge auf der Weide nur noch mehr entbrannt und meinte, das Leben sei des Lebens nicht wert, wenn er Daphnis nicht bekäme. Er paßte dem Astylos auf, der im Garten wandelte, zog ihn zum Heiligtum des Dionysos und küßte ihm Füße und Hände; (2) und als der fragte, warum er das tue, ihn reden hieß und schwor, ihm zu helfen, sagte er: »Es ist zu Ende mit deinem Gnathon, Herr. Der bis jetzt nur deinen Tisch liebte, der früher schwor, es gebe nichts Lieblicheres als alten Wein, der deine Köche höher pries als die jungen Leute in Mytilene, der findet heute, daß überhaupt nur Daphnis schön ist. (3) Ja, und ließest du täglich noch so viel Fleisch, Fisch und Gebäck auftischen, dem Genuß all dieser schönen Dinge würde ich vorziehen, mich in eine Ziege zu verwandeln und Gras und Blätter zu fressen, nur um Daphnis’ Flöte zu hören und von ihm gehütet zu werden. Ach, rette deinen Gnathon und zeige dich mächtiger als die unbezwingliche Liebe! (4) Wenn nicht, so schwöre ich dir bei meinem Abgott, daß ich ein Schwert nehme, mir den Bauch mit Essen vollstopfe und mich vor Daphnis’ Tür um bringe. Dann kannst du mich nicht mehr dein Gnathonchen nennen, wie du es im Scherz so oft tust.«
17 (1) Der großmütige Jüngling konnte dem Weinenden, der ihm immer wieder die Füße küßte, nicht nein sagen, zumal ihm selbst die Schmerzen der Liebe nicht unbekannt waren, und versprach, den Knaben vom Vater zu erbitten und ihn mit in die Stadt zu nehmen. (2) Und da er Gnathon wieder bei guter Laune sehen wollte, fragte er lächelnd, ob er sich denn nicht schäme, einen Sohn Lamons gern zu haben, und wie er sich nur so danach sehnen könne, für einen Burschen zu schwärmen, der Ziegen hüte, und tat dabei, als ekle ihn vor dem Bocksgestank. (3) Doch der Freund, der bei Schlemmergelagen die gesamte Liebesmythologie gelernt hatte, sprach nicht ungeschickt über sich und Daphnis: »Ein Liebender, Herr, macht sich solche Gedanken nicht, sondern läßt sich vom Schönen ergreifen, in welcher Gestalt er es finden mag. (4) Es hat Menschen gegeben, die einem Baum, einem Fluß oder einem Tier verfallen waren; und Liebende solcher Art, die das Geliebte zu fürchten haben, muß man allerdings bemitleiden. Was mich angeht, so bin ich zwar einem Sklaven zugetan, aber ein Freier kann nicht schöner sein. (5) Sahst du nicht, daß sein Haar der Hyazinthe gleicht, und daß seine Augen unter den Brauen leuchten wie ein Edelstein in einer Fassung aus Gold? Ist sein Antlitz nicht mit süßer Röte bedeckt, und schimmern die Zähne seines Mundes nicht wie Elfenbein? (6) Und wenn ich für einen Hirten erglühe, so tue ich nichts anderes als viele Götter. Rinder hütete Anchises, und doch hing Aphrodite an ihm; Ziegen weidete Branchos, und ihn liebte Apollon; Hirt war auch Ganymed, und doch ließ Zeus ihn rauben. (7) Auch wollen wir einen Knaben nicht verachten, dem wir die Tiere ergeben sahen, als liebten sie ihn. Ja wir müssen Zeus’ Adlern dankbar sein, daß sie eine solche Schönheit noch auf Erden weilen lassen.«
18 (1) Astylos lachte herzlich, besonders über die letzten Worte, und erklärte, Eros mache große Sophisten aus den Menschen. Dann suchte er einen günstigen Augenblick zu erwischen, um mit dem Vater über Daphnis zu sprechen. Nun hatte Eudromos die ganze Unterhaltung belauscht; und da er Daphnis gern hatte, weil er ihn für einen braven Jungen hielt, und es ihm weh tat, daß ein so schönes Wesen den Lüsten eines Gnathon dienen sollte, ging er hin und erzählte ihm und Lamon alles. (2) Daphnis war so bestürzt, daß er sich vornahm, mit Chloe die Flucht zu wagen oder sich zu töten, und auch das mit ihr gemeinsam. Doch Lamon holte Myrtale aus dem Hause und sagte: »Wir sind verloren, Frau. Der Augenblick ist gekommen, unser Geheimnis muß an den Tag. (3) Um die Ziegen ists geschehen, und um alles andere auch. Aber bei Pan und bei den Nymphen! Lieber will ich, wie es im Sprichwort heißt, als einziger Ochse im Stall zurückbleiben, als Daphnis’ Geschichte verschweigen. Ich will erzählen, daß ich ihn als ausgesetztes Kind gefunden, will schildern, wie er Nahrung erhielt, und vorweisen, was ich bei ihm entdeckt habe. Gnathon, der verworfene Mensch, soll erfahren, wen zu begehren er sich untersteht. Halte mir die Erkennungszeichen bereit!«
19 (1) Nach dieser Abrede zogen sie sich wieder ins Haus zurück. Inzwischen war Astylos zu seinem Vater gegangen, der gerade unbeschäftigt war, und hatte gebeten, Daphnis in die Stadt mitnehmen zu dürfen, da er schön und für das Land zu schade sei. Auch könne er von Gnathon rasch städtische Manieren lernen. (2) Dionysophanes gab gern seine Einwilligung, schickte zu Lamon und Myrtale und ließ ihnen die frohe Nachricht mitteilen, Daphnis werde in Zukunft nicht mehr Ziegen und Böcken, sondern seinem Sohne aufwarten. Gleichzeitig versprach er, ihnen an Stelle des Knaben zwei neue Ziegenhirten zu verschaffen. (3) Als nun alles zusammenströmte, und viele ihre Freude über den künftigen, schönen Mitsklaven äußerten, bat Lamon, sprechen zu dürfen, und begann: »Laß dir von einem alten Manne die Wahrheit erzählen, Herr! Bei Pan und bei den Nymphen schwöre ich, daß ich nicht lügen werde. (4) Ich bin nicht Daphnis’ Vater, und auch Myrtale hat nicht das Glück gehabt, seine Mutter zu sein. Andere Eltern haben ihn ausgesetzt, als er noch ein Knäblein war, vielleicht, weil sie sich mit ihren älteren Kindern begnügen wollten. Er lag noch so da, als ich ihn entdeckte und sah, wie eine von meinen Ziegen ihn an ihrem Euter trinken ließ. Die habe ich immer geliebt, weil sie die Pflichten der Mutter übernommen hat, und sie nach ihrem Ende neben meinem Garten begraben. (5) Die mitgegebenen Erkennungszeichen, die ich fand, nahm ich an mich, das gestehe ich, Herr. Doch habe ich sie treulich gehütet. Der Stand, von dem sie künden, ist höher als der unsere. Nun lehne ich mich nicht dagegen auf, daß Daphnis des Astylos Sklave, daß er der schöne Diener eines schönen und vortrefflichen Herrn wird. Aber ich kann nicht zugeben, daß man ihn den Lüsten Gnathons preisgibt, der ihn nach Mytilene mitnehmen will, um ein Weib aus ihm zu machen.«
20 (1) Sprach’s und verstummte und vergoß viele Tränen. Gnathon war so frech, mit Schlägen zu drohen, doch Dionysophanes, den die Aussage sichtlich erregt hatte, warf ihm einen zornigen Blick zu und hieß ihn schweigen. Dann forderte er den Alten auf, seine Geschichte zu wiederholen und ja die Wahrheit zu sagen und kein Märchen zu erdichten, um den Sohn nicht hergeben zu müssen. (2) Als Lamon dann bei seinen Behauptungen blieb, sie bei sämtlichen Göttern beschwor und sogar gefoltert werden wollte, wenn er löge, überdachte er den Bericht mit Klearista, die neben ihm saß: »Weshalb sollte der Alte lügen, zumal er statt eines Ziegenhirten zwei bekommt? Kann ein Bauer sich so etwas überhaupt ausdenken; ja, war es nicht eigentlich von vornherein unglaubwürdig, daß dieser Alte und sein einfältiges Weib Eltern eines so schönen Sohnes sind?«
21,3 Übersetzung unsicher
21 (1) Doch sie wollten sich nicht länger mit Vermutungen begnügen, sondern die Erkennungszeichen selbst in Augenschein nehmen und prüfen, ob sie wirklich auf ein glänzendes und rühmliches Los hinwiesen. Myrtale ging und brachte alles, wie sie es in der alten Hirtentasche verwahrt hatten. (2) Den herbeigeschafften Dingen schenkte zunächst Dionysophanes seine Aufmerksamkeit; und als er das purpurne Mäntelchen, die getriebene Spange aus Gold und das kleine Schwert mit dem Elfenbeingriff sah, rief er laut: »O Herrscher Zeus!« und winkte der Gattin, sie möchte gleichfalls alles betrachten. (3) Sofort sagte sie ebenso überrascht: »Ihr lieben Moiren! Haben wir das nicht unserem eigenen Kinde mitgegeben? Haben wir Sophrosyne damit nicht in diese Flur geschickt? Ja, es sind wahrhaftig dieselben Gegenstände, lieber Mann. Es ist unser Kind, Daphnis ist dein Sohn, die Ziegen, die er gehütet hat, waren die seines Vaters.«
22 (1) Während sie noch sprach und Dionysophanes die Erkennungszeichen küßte und vor übermäßiger Freude weinte, warf Astylos, sobald er verstanden hatte, daß Daphnis sein Bruder sei, den Mantel ab und lief in den Garten, weil er ihm den ersten Kuß geben wollte. (2) Doch als der ihn und viele andere auf sich zukommen sah und »Daphnis« rufen hörte, glaubte er, man wolle ihn fangen. Rasch warf er seine Hirtentasche und seine Flöte weg und ergriff die Flucht, und zwar lief er ans Meer, um sich von einer hohen Klippe herunterzustürzen. (3) Und vielleicht wäre das Ungeheuerliche geschehen, und der eben Wiedergefundene hätte sich wirklich das Leben genommen, hätte Astylos seine Absicht nicht geahnt und ihm von weitem zu gerufen: »Bleib stehen, Daphnis, und fürchte nichts! Ich bin dein Bruder, und die bisher deine Herren waren, sind deine Eltern. (4) Eben hat Lamon uns die Geschichte von der Ziege erzählt und uns die Beigaben gezeigt. Wende dich um und sieh, wie heiter und glücklich wir dir alle entgegengehen. Und dann küsse mich zuerst! Bei den Nymphen schwöre ich, daß ich nicht lüge.«
23 (1) Nach dieser Zusicherung beruhigte Daphnis sich endlich, erwartete den herbeieilenden Astylos und küßte ihn. In Scharen strömten Diener und Dienerinnen hinterdrein, auch der Vater kam und mit ihm die Mutter, und alle umarmten und küßten ihn unter Freudentränen. (2) Doch zu keinem war er so zärtlich wie zu den Eltern. Er lag an ihrer Brust, als sei es nie anders gewesen, und wollte von der Umarmung nicht lassen. So raschen Glauben findet Natur. Selbst Chloe vergaß er für kurze Zeit. Später ging er ins Haus, kleidete sich in ein prächtiges Gewand, setzte sich neben seinen wahren Vater und hörte dessen Rede zu.
24 (1) »Ich heiratete sehr jung, meine lieben Kinder, und schon bald hielt ich mich für einen besonders glücklichen Vater, denn mir war zuerst ein Sohn geboren worden, dann eine Tochter und als dritter unser Astylos. Ich glaubte, es sei der Nachkommenschaft nun genug, und als mir zu allem andern noch dieses Kind geschenkt wurde, ließ ich es aussetzen und ihm die Dinge mitgeben, die ihr gesehen habt, allerdings nicht als Erkennungszeichen, sondern als Totengabe. (2) Doch das Geschick wollte es anders. Der älteste Sohn und die Tochter wurden am gleichen Tage durch das gleiche Übel hingerafft, während die göttliche Vorsehung dich uns als Stütze unseres Alters erhielt. Vergib uns mein damaliges Tun; es war ein wohlüberlegter Entschluß. (3) Und du, Astylos, gräme dich nicht, wenn dir statt der ganzen Habe nur ein Teil zufällt. Es gibt keinen wertvolleren Schatz als einen Bruder. Habt euch gegenseitig lieb, denn, was euern Reichtum angeht, so dürft ihr euch mit Königen messen. (4) Ich hinterlasse euch viel Land, viele wackere Diener, Gold, Silber und was sonst zum Besitz eines wohlhabenden Mannes gehört. Als einzige Sondergabe bestimme ich für Daphnis diese Flur mit Lamon und Myrtale und den Ziegen, die er selbst gehütet hat.«
25 (1) Während er noch sprach, sprang dieser auf und rief: »Du mahnst mich zur rechten Zeit, Vater. Ich muß gehen und die Ziegen zur Tränke führen. Sie haben Durst und warten auf das Zeichen meiner Flöte, und ich vergesse mich hier.« (2) Da lachten alle herzlich, daß er, der ein Herr geworden, noch Hirt sein wollte. Ein anderer wurde abgeschickt, um für die Tiere zu sorgen, dann opferte man dem Retter Zeus und rüstete das Mahl. Nur Gnathon nahm an diesem Schmaus nicht teil. Tag und Nacht hielt er sich zitternd vor Furcht wie ein Schutzflehender im Heiligtum des Dionysos versteckt. (3) Rasch hatte sich inzwischen die Kunde verbreitet, daß Dionysophanes einen Sohn gefunden habe, und daß Daphnis, der Ziegenhirt, zum Herrn der Flur bestimmt worden, und schon am frühen Morgen strömte es von allen Seiten, da jeder den Jüngling beglückwünschen und seinem Vater Geschenke bringen wollte. Unter den ersten, die erschienen, war auch Dryas, Chloes Pflegevater.
26 (1) Dionysophanes behielt alle bei sich. Wer an seiner Freude teilgenommen hatte, der sollte auch beim Fest nicht fehlen. Eine große Tafel mit viel Wein, allerhand Mehlspeisen, gebratenen Wasservögeln, Spanferkeln und mancherlei Backwerk wurde hergerichtet, und reiche Opfer brachte man den Gottheiten des Landes. (2) Daphnis nahm die ganze Habe seiner Hirtenzeit und verteilte sie unter die Götter. Dem Dionysos weihte er die Tasche und das Fell, dem Pan die Flöte und die Querpfeife, den Nymphen den Hirtenstab und die Eimer, die er selbst verfertigt hatte; (3) und da längst Vertrautes unserm Herzen nun einmal näher steht als selbst ein großes, aber noch ungewohntes Glück, so weinte er bei jedem Gegenstande, von dem er sich trennte. Er molk noch einmal, bevor er die Eimer gab, zog auch sein Fell noch einmal an und spielte nochmal auf seiner Flöte. (4) Dann küßte er alles, redete mit seinen Ziegen und rief jeden Bock mit Namen. Auch aus der Quelle trank er, wie er es oft mit Chloe getan hatte. Doch zum Bekennen seiner Liebe wartete er auf einen gelegeneren Augenblick.
27 (1) Während dieser Opfer geschah mit Chloe folgendes: Sie saß bei ihren Schafen und weinte, und das war bei ihrer Lage ja auch nicht zu verwundern. Unter Tränen sagte sie: »Daphnis hat mich vergessen und träumt von einer reichen Heirat. (2) Was ließ ich ihn auch bei den Ziegen schwören statt bei den Nymphen! Nun hat er sie im Stich gelassen und mich ebenfalls. Selbst als er den Nymphen und dem Pan opferte, hat er kein Verlangen gehabt, seine Chloe zu sehen. Jetzt hat er gewiß im Hause der Mutter Mägde gefunden, die schöner sind als ich. Nun, wohl ihm! Aber ich will nicht am Leben bleiben.«
28 (1) Während dieses Selbstgespräches kam Lampis, der Rinderhirt, mit einigen Bauern, überfiel sie und schleppte sie weg, da Daphnis sie ja doch nicht mehr heiraten und Dryas nun wohl auch mit ihm zufrieden sein werde. Das geraubte Mädchen schrie zum Erbarmen, und einer, der den Vorfall mit angesehen hatte, hinterbrachte es Nape, die sagte es ihrem Manne, und Dryas lief damit zu Daphnis. (2) Der geriet außer sich, wagte jedoch nicht, mit dem Vater zu sprechen, konnte sich aber auch nicht beruhigen, ging schließlich in den Garten und jammerte: »Das ist ein unseliges Wiederfinden! (3) Viel besser stand es um mich, als ich Ziegen hütete, viel glücklicher war ich als Sklave! Da konnte ich Chloe sehen und sie küssen. Jetzt hat Lampis sie sich genommen und wird mit ihr schlafen, sobald es Nacht ist. Und ich zeche und schlemme und werde dem Schwur untreu, den ich bei Pan, den Ziegen und den Nymphen geleistet habe.«
29 (1) Dies hörte Gnathon, der noch im Garten versteckt war. Er hielt jetzt die Gelegenheit zur Versöhnung für gekommen und brachte rasch einige von Astylos’ jungen Leuten zusammen. Sie liefen hinter dem Alten her, (2) ließen sich den Weg zu Lampis’ Wohnung zeigen, beeilten sich, wie es nur gehen wollte, und erwischten ihn auch wirklich, als er das Mädchen eben in seine Behausung zerren wollte. Sofort entrissen sie es ihm und züchtigten die Bauern, seine Helfer, mit Schlägen. (3) Gnathon lag sehr daran, Lampis selbst zu fesseln und wie einen Kriegsgefangenen vorzuführen, aber der entkam. (4) Immerhin war der Streich gelungen, und noch bevor es Nacht wurde, kehrten sie zurück. Dionysophanes ruhte schon, doch Daphnis fand keinen Schlaf und ging immer noch weinend im Garten umher. Da brachte ihm Gnathon seine Chloe und erzählte alles, bat dann, ihm nicht länger zu zürnen, ihn als einen Sklaven zu behalten, der doch nicht ganz unbrauchbar sei, und ihn nicht von seinem Tisch zu verstoßen, ohne den er Hungers sterben müsse. (4) Als Daphnis sein Mädchen wiederhatte und es in den Armen hielt, schloß er um des großen Dienstes willen mit Gnathon Frieden. Dann bat er Chloe um Vergebung, daß er sie scheinbar vergessen habe.
30 (1) Sie überlegten nun und hielten es schließlich für das beste, den Heiratsplan geheim zu halten, Chloe zu verstecken und ihre Liebe zunächst einmal der Mutter anzuvertrauen. Doch dem widersetzte sich Dryas, bestand darauf, mit dem Vater zu sprechen und gelobte, ihn zum Guten zu bereden. (2) Wirklich nahm er tags darauf die Hirtentasche mit den Erkennungszeichen und ging zu Dionysophanes und Klearista, die im Garten saßen. Astylos war ebenfalls da und Daphnis selbst auch, und sobald sich alle still verhielten, begann er so: (3) »Wie Lamon sich genötigt sah, zu sprechen, so muß auch ich das bisher Verschwiegene an den Tag bringen. Chloe ist nicht mein Kind, und ich habe anfangs auch nicht für sie gesorgt. Sie hat andere Eltern, und ein Schaf gab ihr Milch, solange sie in der Nymphengrotte lag. (4) Das habe ich mit eigenen Augen gesehen und darüber gestaunt und sie nach sattsamer Verwunderung in meine Obhut genommen. Für meine Worte spricht ihre Schönheit, denn sie gleicht uns nicht im geringsten, sprechen auch die Beigaben, die für einen Hirten viel zu kostbar sind. Betrachtet diese und dann sucht nach den Angehörigen des Mädchens! Am Ende erweist es sich noch als des Daphnis würdig.«
31 (1) Wie Dryas diese Worte nicht ohne Absicht hatte fallen lassen, so nahm Dionysophanes sie auch nicht gleichgültig hin, und als er den Knaben musterte und sah, wie er blaß wurde und heimlich weinte, merkte er bald, was hier vorging. Da das Schicksal des eigenen Kindes ihn jedoch näher anging als das eines fremden Mädchens, prüfte er die Aussagen des Alten zunächst mit aller Gründlichkeit. (2) Als er sich dann aber die mitgebrachten Erkennungszeichen angesehen hatte: die golddurchwirkten Schuhe, die Spangen und die Haarbinde, rief er Chloe zu sich, sprach ihr Mut zu und sagte, da sie den Mann habe, werde sie gewiß auch bald Vater und Mutter finden. (3) Während nun Klearista sich ihrer annahm und sie als des Sohnes künftige Gattin ausstattete, zog Dionysophanes Daphnis beiseite und fragte, ob sie noch Mädchen sei; und als der schwor, daß es zwischen ihnen nie mehr als Küsse und Gelöbnisse gegeben habe, freute er sich der Versicherung und ließ sie beieinander sitzen.
32 (1) Da konnte man denn sehen, was Schönheit ist, wenn sie sich dem Schmuck gesellt. Chloe, die jetzt prächtige Kleider trug und ihr Haar aufgesteckt und ihr Antlitz gewaschen hatte, erschien so viel herrlicher als vorher, daß selbst Daphnis sie kaum wiedererkannte. (2) Ja, auch ohne Erkennungszeichen hätte jeder geschworen, daß Dryas nicht der Vater des Mädchens sein könne. Trotzdem war er auch zugegen. Er schmauste an Napes Seite, und zwar an einem besonderen Tisch, den Lamon und Myrtale mit ihnen teilten. (3) An den folgenden Tagen wurden wieder Opfer gebracht und Mischkrüge aufgestellt, und auch Chloe weihte ihre Habe: die Flöte, die Hirtentasche, das Fell und die Melkeimer. Sie goß Wein in die Quelle – die in der Nymphengrotte –, weil sie dort ihre erste Nahrung erhalten und so manches Mal in ihr gebadet hatte. (4) Darauf kränzte sie den Grabhügel des Mutterschafes, den Dryas ihr zeigte, spielte noch einmal für ihre Herde und betete dann zu den Göttinnen, das Paar, das sie ausgesetzt habe, möchte der Verbindung mit Daphnis würdig befunden werden.
33 (1) Da es nun der ländlichen Feste genug war, hielt man es für an der Zeit, sich in die Stadt zu begeben und nach Chloes Eltern zu forschen, um die Hochzeit nicht noch länger hinauszuschieben. (2) In der Frühe, als schon alles aufgepackt war, schenkte man dem Dryas noch dreitausend Drachmen und dem Lamon den halben Anteil an der Flur mit dem Getreide und Weinertrag, dazu die Ziegen samt ihren Hirten, vier Joch Ochsen, Winterkleider und die Freiheit für sein Weib. Dann zog man mit Rossen und Gespannen und vielem Hausrat in die Stadt. (3) Die Ankunft wurde von den Bürgern nicht bemerkt, da sie nachts erfolgte, aber am andern Morgen fand sich ein großer Haufen von Männern und Frauen vor dem Hause ein. Die Männer beglückwünschten Dionysophanes zum wiedergefundenen Sohne und taten dies noch lebhafter, als sie Daphnis zu Gesicht bekamen, und die Frauen freuten sich mit Klearista, daß sie für den Sohn auch gleich die Frau habe mitbringen können. (4) Chloes Schönheit, die jede andere in den Schatten stellte, versetzte alle Welt in Erstaunen, und die ganze Stadt geriet über die beiden in Aufregung. Man pries die bevorstehende Verbindung und hoffte, die Herkunft des Mädchens werde seinem Aussehen entsprechen; ja, manche reiche Frau betete zu den Göttern, sie möchte sich als Mutter einer so schönen Tochter ausweisen können.
34 (1) Da hatte nun Dionysophanes, der nach langem Hin- und Herdenken in einen tiefen Schlaf gesunken war, folgenden Traum: Die Nymphen schienen Eros zu bitten, er möchte den beiden doch endlich zur Heirat verhelfen. Dann entspannte der Liebesgott seinen kleinen Bogen, legte den Köcher beiseite und befahl ihm, alle vornehmen Herren aus Mytilene zu Gast zu laden, und sobald der letzte Mischkrug gefüllt sei, die Schmucksachen herumzuzeigen und den Hochzeitsgesang anzustimmen. (2) Dieses Traumgesicht veranlaßte ihn, sich in aller Frühe zu erheben, ein prächtiges Mahl aus allem, was Land und Meer und Seen und Flüsse liefern, bereiten zu lassen und die vornehmsten Mytilenäer zu Tisch zu laden. (3) Und als es Nacht geworden und der Mischkrug gefüllt war, aus dem man dem Gott Hermes spendet, brachte ein Diener auf einer silbernen Schale die Erkennungszeichen und reichte sie von links nach rechts herum, so daß jeder sie sehen konnte.
35 (1) Anfangs schwiegen alle, bis ein gewisser Megakles, der seiner Jahre wegen zu oberst seinen Platz hatte, die Sachen gleich beim ersten Anblick erkannte und mit lauter und jugendlicher Stimme rief: »Was sehe ich da? Was mag aus dir geworden sein, mein Töchterchen? Ob du wohl noch lebst oder ob ein Hirt diese Gegenstände ohne dich gefunden und aufbewahrt hat? (2) Bitte, sage mir, Dionysophanes, woher du meines Kindes Beigaben hast, und beneide mich nicht, wenn nach der Entdeckung deines Daphnis auch ich zum Finder werden sollte.« Dionysophanes bat ihn, zuerst die Geschichte von der Aussetzung zu erzählen, und so fuhr Megakles denn fort, ohne in der Stimme nachzulassen: (3) »Gering war früher meine Habe, weil ich alles, was ich besaß, zur Ausrüstung von Chören und Trieren spendete. Unter solchen Umständen wurde mir eine Tochter geboren. Da ich sie nun in Dürftigkeit nicht aufwachsen lassen wollte, gab ich ihr diese Zeichen mit und setzte sie aus, denn für manchen Vater gilt ja auch das als kein schlimmes Los. (4) Das Kind wurde in das Nymphenheiligtum gelegt und den Göttinnen anvertraut. Doch nun, wo ich keinen Erben mehr hatte, floß mir täglich neuer Reichtum zu. (5) Aber trotz aller Gebete schenkten mir die Götter kein Kind, auch keine Tochter mehr; ja, sie scheinen meiner zu spotten und schicken mir des Nachts Träume, in denen sie mir weismachen, ich würde nochmal durch ein Schaf zum Vater.«
36 (1) Da erhob Dionysophanes seine Stimme noch lauter als Megakles, sprang auf, führte die herrlich geschmückte Chloe herein und sagte: »Dies ist das Kind, das du ausgesetzt hast, dies das Mädchen, das göttliche Vorsehung von einem Schaf für dich aufziehen ließ, wie sie mein Knäblein einer Ziege anvertraute. (2) Hier hast du die Erkennungszeichen und die Tochter. Nimm sie und gib sie dann meinem Sohn zur Braut! Beide sind ausgesetzt und nun wieder gefunden worden, und beide haben unter Pans, der Nymphen und des Eros Schutz gestanden.« (3) Megakles pries diese Worte, dann schickte er zu Rhode, seiner Gemahlin, während Chloe in seinen Armen ruhte. Die Nacht über blieben alle, wo sie waren, weil Daphnis seine Chloe niemandem überlassen wollte, selbst dem eigenen Vater nicht.
37 (1) Am nächsten Morgen beschloß man auf Bitten von Daphnis und Chloe, denen der Stadtaufenthalt nicht zusagte, wieder hinauszuziehen. Auch sollte eine ländliche Hochzeit gefeiert werden. (2) Man ging also zu Lamon, brachte Dryas zu Megakles, empfahl Nape der Rhode und traf Vorkehrungen für ein glänzendes Fest. Vor den Nymphen wurden die Kinder vermählt, dann weihte Chloes Vater neben vielem andern die Erkennungszeichen und schenkte dem Dryas noch so viel, daß er auf zehntausend Drachmen kam.
38 (1) Da der Tag schön war, ließ Dionysophanes vor dem Nymphenheiligtum aus frischem Grün Lager herrichten, lud die ganze Nachbarschaft dorthin ein und bewirtete sie auf das reichlichste. (2) Lamon und Myrtale waren da, Dryas und Nape, Dorkons Angehörige, der alte Philetas und seine Kinder, Chromis und Lykainion. Selbst Lampis, dem man verziehen hatte, fehlte nicht. (3) Wie immer bei solchen Festen, ging es einfach und ländlich zu. Einige sangen Schnitterlieder, andere ahmten die Späße nach, die beim Keltern üblich sind; Philetas blies auf der Schalmei, Lampis auf der Flöte, Dryas und Lamon tanzten, und Chloe und Daphnis küßten einander. (4) Und die Ziegen grasten in der Nähe, als wollten auch sie an der Freude teilnehmen. Den Städtern behagte das freilich nicht sonderlich, aber Daphnis rief viele Tiere mit Namen, fütterte sie mit grünen Blättern, nahm sie bei den Hörnern und küßte sie.
39 (1) Und nicht nur an diesem einen Tage, sondern so lange sie lebten, hielten sie es mit den Hirten, verehrten deren Götter, die Nymphen, Pan und Eros, schafften sich große Herden von Schafen und Ziegen an und erklärten Früchte und Milch für die angenehmste Kost. (2) Ihr Knäblein ließen sie von einer Ziege nähren, und ihr zweites Kind, ein Töchterchen, legten sie einem Schaf ans Euter, und nannten das Söhnchen Philopoimen und das Mägdlein Agele. Und alle diese Bräuche behielten sie bis in ihr hohes Alter bei. Auch ließen sie die Nymphengrotte ausschmücken, Bildsäulen aufstellen und für Eros, den Hirten, einen Altar errichten. Und dem Pan gaben sie statt der Pinie einen Tempel als Wohnsitz und nannten ihn Pan, den Krieger.
40 (1) Doch dieses Namengeben und alles übrige geschah später. An jenem Tage wurden sie von sämtlichen Gästen bei Anbruch der Nacht ins Brautgemach geleitet. Die einen bliesen auf der Schalmei, andere auf der Flöte, und wieder andere trugen mächtige Fackeln. (2) Als man sich der Tür näherte, ließen sie ihre rauhen und heiseren Stimmen ertönen, und es klang wahrhaftig nicht wie ein Hochzeitslied, sondern als wären sie dabei, mit Hacken den Erdboden aufzureißen. (3) Daphnis und Chloe aber legten sich zueinander, umarmten und küßten sich und schliefen nicht mehr als die Eulen. Daphnis befolgte Lykainions Lehren, und Chloe erfuhr erst jetzt, daß alles, was sie am Waldrande getrieben hatten, nur kindliches Hirtenspiel gewesen war.
