Nachwort
[159] Die Prosaerzählung des hellenischen Altertums begann im letzten vorchristlichen Jahrhundert mit einigen Novellensammlungen und entwickelte sich dann zum Roman, der in den vier ersten nachchristlichen Jahrhunderten seine Blütezeit erlebte. Die griechische Bezeichnung für die Gattung lautete: »Dramatikon Dihegema«, was so viel heißt wie »Dramatische Erzählung«, oder »Logos erotikos«, was wir am besten mit »Liebesroman« übersetzen. Wirklich steht bei den uns erhaltenen oder aus Bruchstücken und durch Inhaltswiedergaben bekannten Werken – es sind ihrer acht – Eros im Mittelpunkte; stets geht es um ein Paar, das von Anfang an durch Liebe, manchmal auch schon ehelich verbunden ist, dann aber durch ein widriges Geschick getrennt und erst am Schluß zu einem dauernden, ungestörten Glück vereinigt wird. Bei den Schilderungen der Prüfungen, die den Liebenden auferlegt werden, sparen die Verfasser nicht mit Abenteuern, Schrecknissen und Wundern; und so kühn und willkürlich wie sie in der Erfindung von Leid und Gefahren sind, so unerwartet und unbegründet lassen sie den Sturm des Unheils in der Windstille eines ewig ungetrübten Friedens enden. Wir, die wir durch die Meisterleistungen [160] der letzten hundertundfünfzig Jahre daran gewöhnt sind, die äußeren Begebenheiten einer Erzählung nur im Zusammenhange mit einer seelischen Entwicklung ihrer Personen zu sehen, und die wir uns ein anspruchsvolleres Werk der Gattung nicht ohne ein soziales, sittliches oder religiöses Problem vorstellen mögen, finden wenig Geschmack an Geisteserzeugnissen, deren Wirkung nur mit einer Anhäufung phantastischer Geschehnisse bestritten wird, und können den Ruhm und die Verbreitung, die jene Romane – besonders Heliodors »Äthiopische Geschichten« – im byzantinischen Mittelalter und in der Renaissance genossen haben, nicht recht begreifen.
Dieses allgemeine Urteil muß jedoch mit dem Vorbehalt ausgesprochen werden, daß es vielleicht anders lauten würde, wenn wir von manchen Werken mehr kennten als spärliche Fragmente oder gar nur Inhaltsangaben. Nach dem heutigen Stande der Überlieferung ist des Longus Hirtengeschichte die weitaus schönste Erzählung des griechischen Altertums, und sie hat auch in den letzten Jahrhunderten immer als solche gegolten. Zwar wird dem heutigen Leser, der von den Forderungen ausgeht, die er an einen Roman zu stellen pflegt, zunächt mancherlei fehlen. Er vermißt die spannende und mitreißende Wirkung, wie sie durch äußere Vorgänge nicht erzeugt wird, wohl aber durch frohe oder traurige [161] Schicksale, an denen er teilnimmt. Longus erschüttert unser Herz trotz Raubzug und Fehde, trotz Nachstellung und Gewalt, trotz aller Fährnisse und Rettungen kaum; und von einer Entwicklung und Wandlung seiner Menschen, die zu jeder Begegnung mit dem Schicksal gehören, merken wir nicht eben viel. Allenfalls kann man hier und da von Ansätzen zur Verinnerlichung reden. Nach Lykainions Warnung überwindet Daphnis seine Leidenschaft und wird zum zärtlichen Liebhaber, Dorkons Absichten klingen in einen wehmütigen Verzicht aus, und Gnathons krankhaftes Ansinnen endet in aufrichtiger und tätiger Reue. Aber wir fühlen, daß dem Dichter gar nicht daran liegt, uns durch sittliche Läuterungen zu erfreuen, daß es ihm überhaupt nicht darauf ankommt, die Erzählung von den Charakteren seiner Figuren her zu bewegen. Wir sollen mit anderen Wertmaßstäben an seine Kunst herantreten und müssen daher, um ihm gerecht zu werden, von den uns geläufigen Vorstellungen absehen.
Es will uns nicht als Zufall erscheinen, daß er zu Beginn des Werkes von einem Gemälde berichtet, das ihn zum Schreiben begeistert habe und das er sich habe deuten lassen, um dann als getreuer Nachbildner seine Geschichte auszuarbeiten. Während der Lektüre drängt sich uns immer wieder der Vergleich mit der Malerei auf, und oft denken wir gerade [162] an antike Fresken, deren Kunst ganz im Flächenhaften befangen bleibt. Übertragen wir ihr Prinzip auf unseren Liebesroman, so finden wir, daß hier die Begebenheiten ebenfalls gewissermaßen flächenhaft nebeneinander stehen, daß die Personen nicht durch bestimmte Charakterzüge vertieft werden, aus denen allein sich Verwicklung und Lösung ergeben können, wie wir sie verlangen. Erkennen wir aber an, daß Longus von anderen Grundsätzen ausgeht als unsere Schriftsteller, so wäre es ebenso ungerecht, von ihm die Eigenschaften heutiger Romane zu fordern, wie es unerlaubt ist, Giotto zu tadeln, weil er nicht die Vorzüge Rembrandts besitzt.
Bei unserem Dichter finden wir nur Typen. Da sind einmal die Bauern und Hirten. Wir erfahren von ihnen nur Allgemeines, nur Lebensäußerungen, die ihrem Stande eignen. Wir sehen sie bei den Beschäftigungen, die der Wechsel der Jahreszeiten ihnen auferlegt und bei den Gelagen und Späßen, die sie sich nach getaner Arbeit gönnen. Wir hören von ihrem Wohlergehen und einmal auch von ihren Sorgen. Es wird angedeutet, daß sie am Gelde hängen, daß sie überhaupt auf materiellen Vorteil aus sind; aber auch, daß sie ihrem Gebieter mit Ergebenheit dienen, wobei freilich der Wunsch, Leibeigenschaft mit Freiheit zu vertauschen, eine Rolle spielen mag. Der andere Stand, dem wir begegnen, ist die bürgerlich-aristokratische [163] Oberschicht der Städte. Da ist der reiche und mächtige und dabei gerechte und wohlwollende Herr; da ist seine kluge, menschlich fühlende Gattin; da ist der muntere, großzügige, lebenslustige Sohn, der seine Tage mit Jagd und anderen Vergnügungen hinbringt. Da sind ferner die leichtsinnigen und etwas hartherzigen Jünglinge aus Methymna, die auch nicht unter Berufssorgen zu leiden haben; und da ist endlich der lasterhafte Gnathon, der Schmarotzer, der von der Güte des jungen Astylos lebt und ihn dafür mit seinem Witze unterhält. Sie alle sind Typen und weisen nur Eigenschaften auf, die ihresgleichen von Personen geringeren Standes unterscheiden.
Noch weniger deutlich umrissen sind Daphnis und Chloe selbst. Sie gehören weder zu den Hirten noch zu den Städtern, sie sind auch nicht beides in einem. Sie sind Liebende schlechthin und nichts anderes als Liebende; und alles, was sie tun und was mit ihnen geschieht, ist dazu bestimmt, sie als solche zu zeigen. Diese Liebe wechselt wohl in der Färbung, je nach dem Alter, in dem die Kinder stehen, und je nach den Gefahren, die sie bedrohen; in ihrem Wesen ist sie jedoch ohne Wandel und Entwicklung. Sie ist ein Zustand, der einzige Zustand, den Daphnis und Chloe zu kennen scheinen. Die beiden, die am Schluß der Erzählung das Brautgemach betreten, sind jedenfalls keine anderen als der kleine Knabe [164] und das kleine Mädchen, die sich auf den Triften getummelt haben. Zuweilen fühlt man sich versucht, sie mit Gestalten unserer Volksmärchen zu vergleichen; man glaubt, die Nymphen durch Feen und Pan durch einen Waldgeist ersetzen zu können und denkt daran, wie gerade im Märchen oft ein unschuldiges Paar, dessen Herkunft geheimnisvoll ist, von freundlichen Schutzgeistern durch Träume auf den rechten Weg gewiesen und schließlich ans Ziel seiner Wünsche geführt wird. Aber das Hirtenkostüm, das ländliche Tun und Treiben und viele, das wirkliche Leben spiegelnde Geschehnisse ordnen die Erzählung der Idylle zu. Auch ist die klare Luft, in der sie lebt, vom Zwielicht nordischer Geschichten weit entfernt.
Ja, der Himmel, der sich über ihren Menschen wölbt, paßt ganz gewiß nicht zum Märchen. In diesem Buch herrscht der Tag uneingeschränkt; die Nacht hat nur die Aufgabe, auf den kommenden Morgen vorzubereiten. Und der Tag ist immer heiter; nicht ein einziges Mal wird er durch ein Unwetter getrübt. Wir atmen das Licht der südlichen Inselwelt, unter dem alle Konturen verschwimmen, das alles Feste in ein Flimmern auflöst. Aber dieses selbe Licht bindet auch; nie verliert sich der Blick in eine nebelhafte Ferne, in der das Ungewisse ängstigt. Es ist eine begrenzte, geschlossene Welt; selbst das Meer hat einen deutlichen Saum, und man [165] möchte glauben, daß es an diesem Saum mit ihm und mit der ganzen Welt zu Ende ist. Nur im Süden kann Chloe, als Daphnis ihr die Sage von der Nymphe Echo erzählt hat, fragen, ob denn hinter dem Felsenvorsprung noch ein zweites Meer sei, eben weil sie sich ein Meer nicht anders vorstellt als einen ausgedehnteren Teich. Klar und übersichtlich ist auch die Landschaft; es gibt keine Furcht vor den Schrecknissen undurchdringlicher Wälder und unzugänglicher Gebirgsschlünde. Alles, was wir sehen: Weideplätze, Äcker und Weinberge, untersteht der Pflege von Menschenband. Und der Garten, das schönste Kleinod im ländlichen Besitz des Herrn, ahmt nicht etwa die Wildnis nach; alles an ihm ist mit der Schnur gemessen. So will es der antike Mensch, und so will es noch heute der Südländer. Beider Liebe gilt der gebändigten Natur, beiden liegt das Schwärmen des Nordländers für unwegsame Gegenden fern.
Zur Idylle gehört auch der freundliche Ausgang. In unserer Erzählung haben alle Nöte und Gefahren den Zweck, die endgültige Verbindung der Liebenden hinauszuzögern und sie inzwischen fester an einanderzuketten. Droht ein Unheil, so kommt über Nacht ein Traum von den guten Nymphen; und schicken ihn die Nymphen nicht, so schickt ihn Pan. Die eine wie der andere erweisen sich als höchst verläßlich; aber auch Eros, der jenen übergeordnet [166] ist, tritt nicht als weltdurchdringende Kraft auf den Plan, auch nicht als furchtbare, unter Qualen verwandelnde, wenn nicht gar vernichtende Macht, sondern als sanfter und nicht einmal sonderlich launischer Gott, der seine Schützlinge zwar bisweilen ein wenig peinigt, aber doch nur, um sie höheren Freuden zuzuführen; der auch ihren Feinden gegenüber mild ist, dem törichten Dorkon ein versöhnliches Ende bereitet und dem Bösewicht Lampis und sogar Gnathon verzeiht. Da diese Gottheiten, wiewohl sie nur einen mittleren Rang bekleiden, alles bewirken, bedarf es des Eingreifens höherer Mächte nicht, und die Olympischen werden in der Fabel selbst so wenig in Anspruch genommen wie Hades. Die Idylle will, nicht anders als das Märchen, die Dauer glaubhaft machen; der Tod, wenn er überhaupt vorkommt, ist daher völlig ohne Gewicht. Als ein Abbild des Unvergänglichen erscheint auch das Dasein der Hirten und Bauern. Was Philetas an Liebesfreuden und -leiden erfahren hat, das erfahren jetzt Daphnis und Chloe. Wenn er sich hochbetagt ins Grab legt, so lebt er doch in seinen Söhnen weiter; und das Knäblein Tityros wird, wenn es dereinst ein Greis geworden ist, die Flöte ebenso geschickt handhaben können wie jetzt sein Vater. Die Nachfahren der beiden Liebenden werden auf denselben Fluren und kaum unter anderen inneren Bedingungen aufwachsen als ihre Eltern [167] und Voreltern, und so wird es sich in unverändert schönem Reigen wiederholen, bis an der Welt Ende. Ob der Wunschtraum, den die Idylle zur Wirklichkeit macht, aus dem Herzen eines kulturmüden und gesellschaftsüberdrüssigen Städters kommt oder ob Longus sich an erdichteten Zuständen erfreut, ohne sie für mehr zu nehmen als für einen poetischen Stoff, wissen wir nicht. Vielleicht ist beides wahr. Der Dichter und seine Zeitgenossen mochten ihr Dasein hin und wieder satthaben und sich nach einem unbekannten Glück sehnen und fanden ihr Leben doch auch wieder begehrenswert genug, um bei der Kunst nur den Blick in eine ideale Welt zu genießen.
Wie dem auch sein mag, der naive Dichter, für den manche Longus gehalten haben, ist er nicht. Er ist ein reifer Künstler und völlig Herr seiner Mittel. Schon die Knappheit, mit der er das Bild einer Jahreszeit vor uns hinzaubert, einen lebhaften Hergang schildert, einen Garten beschreibt, in einem Selbstgespräch wechselnde Empfindungen zum Ausdruck bringt, zeugt von höchster Meisterschaft. Denken wir etwa an die Stelle im ersten Buch, wo er den Sommer vor uns erstehen läßt! Es sind nur wenige Sätze mit fast nüchtern anmutenden Aussagen. Aber der ganze Sommer mit seiner Gleichmäßigkeit, die wie Stillstand erscheint, lebt in ihnen. Und es ist nicht irgendein Sommer, sondern der Sommer der [168] Liebenden, wie jede Jahreszeit und überhaupt alles in dieser Erzählung nur durch sie Leben und Farbe erhält. Mit einer Peinlichkeit, die uns beinahe übertrieben dünkt, vermeidet der Dichter Eigenschaftsworte, als fürchte er am meisten, seine Sprache zu überladen. Dabei kommt uns wieder die südliche Landschaft in den Sinn, die eine vorwiegend lineare ist, ebenso die antike Malerei, deren Kunst in der Hauptsache in einer zeichnerischen Leistung besteht. Aber der Reiz der Landschaft liegt, wie wir sahen, nicht nur in ihrer Einfachheit, sondern auch in der Vielfalt ihrer zarten Übergänge. Und auch darin ist sie für unseren Dichter Vorbild gewesen. Die Hirtengeschichte fließt in stetem, sanftem Strömen dahin und ist, ob es sich um Beschreibung oder um Wiedergabe eines Geschehens handelt, reich an Empfindungstönen und Wirklichkeitsbildern. Und wenn wir uns ihre Zartheit vor Augen führen wollen, so brauchen wir uns nur die Szenen zu vergegenwärtigen, in denen uns das Erwachen der kindlichen Liebe geschildert wird. Hier wird auch deutlich, wie sehr sich des Longus Kunst grundsätzlich von der jedes modernen Schriftstellers unterscheidet. Ein solcher würde diese ersten und bewußten Regungen im Zusammenhange mit dem Milieu und der Vorgeschichte des Knaben wie des Mädchens sehen, er würde sie individualisieren, sie mit besonderen Zügen untermalen. Anders unser Dichter. Er [169] gibt nur das Allgemeine, zeichnet nur einen Vorgang, wie er sich bei unschuldigen Kindern, solange die Welt besteht, begeben hat, und wie er sich immer wieder begeben wird. Von hier aus wird vielleicht auch verständlich, weshalb die Liebe seines Paares mehr oder weniger im Sinnlichen befangen bleibt. Das ist keine Freude am Erotischen und erst recht nicht der Wunsch, durch lüsterne Vorgänge Leser zu gewinnen, sondern entspringt dem bewußten Kunstwillen, im Allgemeinen, ja im Zuständlichen zu verharren, womit sich jede persönlich gefärbte Gefühlsäußerung verbietet. Die höchste Bewunderung verdient nun aber die Fähigkeit des Longus, diese strenge Gebundenheit stets aufs neue zu beleben, der keinen Schwankungen unterworfenen Liebe durch verschiedene Beschäftigungen und wechselnde äußere Geschehnisse immer wieder andere Farben zu geben und so auch die ganze Erzählung bei allem Gleichklang in ständiger Bewegung zu halten.
Wie überlegen der Dichter zu Werke geht, das beweist auch die gleiche Kompositionsweise, die er in den ersten drei Büchern walten läßt. Das vierte Buch bildet eine Ausnahme, weil in ihm die Handlung zum Ende drängt und die Parallelität daher nicht mit derselben Peinlichkeit eingehalten werden konnte. In den übrigen Abschnitten jedoch, die von fast gleicher Länge sind, herrscht eine Raumverteilung [170] von strenger und sich genau wiederholender Gesetzmäßigkeit. In jedem Buch eine oder zwei Jahreszeiten; zwei Weideszenen mit Liebesfreuden und -sorgen, mit einem Zwischenspiel, das den Stoff zu einer Ekloge abgeben könnte und vielleicht auch abgegeben hat – die Zikade, die sich in Chloes Busen verfängt und der Liebesschwur bei Pan und bei den Tieren – oder das wie der Raub des Apfels einer anderen Dichtung, nämlich einer Ode Sapphos, entnommen ist –, und mit einer eingelegten Erzählung – Pan und Pitys, die Syrinx, Echo –; eine Hirtenszene, nämlich Dorkons Bestattung, das Gelage mit Flötenspiel, Verkleidung und Tanz nach Chloes Errettung und das häusliche Mahl nach dem Vogelfang bei Chloes vermeintlichen Eltern; ein Anstoß zur Liebe oder zu neuer Liebesglut zuerst der Wettstreit mit Dorkon, dann das Märchen des Philetas und schließlich Lykainions List –; und endlich zwei dramatische Vorfälle, die das Paar bedrohen oder vorübergehend trennen, um ihre Leidenschaft nachher nur heftiger zu entfachen – im ersten Buch Dorkons Überfall und Daphnis’ Entführung durch die Seeräuber, im zweiten Daphnis’ Heimsuchung durch die jungen Leute aus Methymna und Chloes Gefangennahme und im dritten das Erscheinen der Freier und das Finden des Säckels, der Daphnis’ Werbung zum Siege verhilft. Um dieser Parallelität willen hat man Longus zu den Sophisten gerechnet, [171] aber wir sehen in den Entsprechungen nicht den Hang zu langweiliger Exaktheit, sondern nur ein äußerstes Streben zur Form und zur kunstvollen Bändigung des Stoffes. Auch bleibt die Gesetzmäßigkeit des Aufbaus dem unbefangenen Leser ebenso verborgen wie die wohlerwogene Komposition eines Gemäldes und die regeltreue Durchführung eines Tonstücks dem genießenden Betrachter und Hörer. Auf Grund seiner Freude an Symmetrie unserem Dichter Manier vorzuwerfen, geht jedenfalls nicht an. Mag sein, daß er hin und wieder im sprachlichen Ausdruck zur Künstlichkeit neigt. Aber die abfällige Beurteilung, die ihm deswegen zuteil geworden ist, muß so unbedenklich zurückgewiesen wer den wie der Glaube an seine Naivität.
Nach allem Gesagten wird verständlich, daß Goethe, und gerade in seinem Alter, unserer Hirtengeschichte die größte Bewunderung gezollt hat. Goethe war zu einem erheblichen Teil Schüler und Nachfahre der Antike und hat sich auch stets als solchen betrachtet; in ihren Werken fand er sein künstlerisches Ideal, die Darstellung des Allgemeinen und Typischen, am reinsten verkörpert. Begreiflich also, daß er die Vorzüge unserer Erzählung gepriesen hat, zumal sie dieselben sind, die er bei seinen Dichtungen anerkannt wissen wollte. So entspricht denn auch das, was er bei Longus als rühmenswert hervorhebt, den Forderungen, die er an sich selbst gestellt [172] haben würde, wäre ihm die Aufgabe zugefallen, den Hirtenroman zu schreiben. Er lobt die Vielfalt menschlicher Beziehungen und Beschäftigungen und ihr Zusammenwirken zu einem harmonischen Ganzen; er freut sich an der Landschaft, die er selbst kennengelernt und von der er sich so schwer hat losreißen können, und an dem immer hellen und heiteren Tag, der über alle Begebenheiten sein Licht ergießt; und nicht zum wenigsten entzückt ihn die Zartheit, mit der das Liebesverhältnis behandelt wird.
Die größte Verbreitung hat die Geschichte von Daphnis und Chloe in Frankreich gefunden, wo sie durch Amyots Übersetzung im 16. Jahrhundert bekanntgeworden ist. Diese Übertragung hat in den folgenden Jahrhunderten viele Ausgaben erlebt, die mit den Namen berühmter Illustratoren verknüpft sind. Sie litt jedoch unter mangelnder Vollständigkeit; in der Handschrift, die ihr zugrundeliegt, fehlen die Abschnitte dreizehn bis siebzehn des ersten Buches. Erst im Jahre 1810 entdeckte der Franzose Courier in der mediceischen Bibliothek zu Florenz einen Text, der ohne Lücke ist. Er ergänzte und überarbeitete Amyot, und auch in dieser neuen Form, in der Goethe unser Werk las, ist das Buch immer wieder aufgelegt worden. Die erste Arbeit von Amyots Hand scheint uns jedoch reizvoller zu sein als die spätere. Sie liest sich wie eine schöne [173] Originaldichtung und begeht nur den einen Fehler, daß sie in Longus einen naiven Dichter sieht. Nicht anders steht es mit der englischen Übersetzung Thornleys aus dem 17. Jahrhundert. Auch sie gewährt einen hohen Genuß, ist aber zu sehr im Ton des Märchens gehalten. Erst der Deutsche Friedrich Jacobs ist mit seiner, im Jahre 1832 erschienenen Übertragung der kunstvollen Prosa unseres Dichters gerecht geworden.
Wann und wo Longus gelebt hat, wissen wir nicht; wissen auch nicht, ob er die Hirtengeschichte – das einzige Werk von ihm, das wir kennen – in jüngerem oder reiferem Alter geschrieben hat. Die neueste Forschung rechnet ihn dem dritten nach christlichen Jahrhundert zu; der lateinische Name und die griechische Sprache lassen jedenfalls darauf schließen, daß er der Epoche des römischen Imperiums angehört, in der die nationalen Unterschiede sich bereits verwischt hatten. Noch galt Humanität ohne christlichen Inhalt als das alle Welt verbindende und verpflichtende Ideal, die große Umwertung war erst von wenigen vollzogen worden, und die Hirtengeschichte läßt noch nichts davon ahnen, daß das Angesicht der abendländischen Erde sich bald völlig verändern sollte.
Ludwig Wolde
