2. Buch
[109] Von nun ab war ich des Bleibens im Wallfische überdrüssig und fing an auf Mittel und Wege zu sinnen, wie wir aus demselben herauskommen könnten. Anfangs gedachten wir einen Gang durch die rechte Wand zu graben und so zu entlaufen; wir machten uns auch ans Werk. Als wir aber fünf Stadien vorgedrungen waren und kein Ende absahen, gaben wir das Miniren auf und beschlossen, den Wald in Brand zu stecken. Auf diese Weise, meinten wir, würde der Wallfisch sterben, und wenn das geschehen wäre, das Herauskommen uns leicht sein. Zuerst zündeten wir die Theile des Waldes nach dem Schwanze zu an, und sieben Tage und gleich viel Nächte fühlte das Ungeheuer von der Glut nichts, am neunten Tage nahmen wir Spuren einer Krankheit an ihm wahr: es machte seine Mundöffnungen langsamer, und wenn es einmal seinen Rachen öffnete, so schloß es ihn schnell wieder zu. Am zehnten und eilften Tage war es dem Verscheiden nahe und roch schon; am zwölften fiel es uns endlich ein, wenn wir ihm nicht etwas zwischen die Backzähne beim Oeffnen des Rachens stützen würden, damit es ihn nicht zumachen könne, so würden wir in Gefahr kommen, in dem Leichnam eingeschlossen zu Grunde zu gehen. Deshalb hielten wir seinen Rachen durch eingestemmte große Balken offen, besserten unser Schiff aus und versahen es mit Wasser in Menge und mit andern Lebensmitteln; das Steuer sollte Skintharus führen; am folgenden Tage war der Wallfisch schon todt. Alsdann zogen wir unser Fahrzeug hinauf, schleppten es durch die Zwischenräume der Zähne, an die wir es befestigten, und ließen es allmälig in das Meer herab. Auf dem Rücken des Wallfisches opferten wir dem Poseidon und brachten, da es Windstille war, drei Tage bei dem Siegesdenkmal zu; darauf segelten wir am vierten Tage ab. Wir begegneten vielen Leichen aus der Seeschlacht, fuhren an sie heran und wunderten uns beim Messen über ihre Größe. Einige [110] Tage schifften wir bei angenehmer Temperatur, dann fing ein heftiger Nordwind an und es entstand eine gewaltige Kälte, in Folge deren das ganze Meer, nicht nur auf der Oberfläche, sondern bis in eine Tiefe von vierhundert Klaftern gefror, so daß wir aus dem Schiffe stiegen und auf dem Eise herum liefen. Da der Wind andauerte und wir es nicht aushalten konnten, so kamen wir auf einen Gedanken, dessen Erfinder Skintharus war; wir gruben uns in dem Wasser eine sehr große Höhle und blieben in ihr dreißig Tage, in derselben zündeten wir Feuer an und aßen Fische, die wir beim Graben fanden. Als uns bereits die Lebensmittel mangelten, stiegen wir aus der Höhle heraus, zogen das festgefrorene Schiff auf das Eis, spannten das Segel aus und glitten, als wenn wir segelten, auf dem Eise glatt und sanft einher. Am fünften Tage trat schon Wärme ein, das Eis schmolz und es wurde wieder alles Wasser. Nach einer Fahrt von etwa dreihundert Stadien landeten wir an einer kleinen, wüsten Insel; auf ihr nahmen wir Wasser ein, das uns schon ausgegangen war, erlegten zwei wilde Stiere und fuhren dann weiter. Diese Stiere hatten die Hörner nicht oben am Kopfe, sondern unter den Augen, wie Momus es einst wünschte. Nach nicht langer Zeit gelangten wir in ein Meer, nicht von Wasser, sondern von Milch; auch bemerkte man in ihm eine weiße, mit Weinstöcken besetzte Insel; die Insel war ein sehr großer, steinharter Käse, wie wir später beim Essen erkannten, von fünfundzwanzig Stadien Umfang. Die Weinstöcke waren voller Trauben, aus denen wir jedoch nicht Wein, sondern Milch preßten. Mitten auf der Insel war ein Heiligthum der Nymphe, Galatea15 errichtet, wie die Inschrift besagte. So lange wir dort blieben, diente uns das Land zur Kost und Speise, unser Trank war die Milch von den Trauben. Königin dieser Lande sollte Tyro16, die Tochter des Salmoneus, sein, die nach ihrer Entfernung aus dem Vaterlande diese Ehre von Poseidon bekommen [111] hatte. Nachdem wir fünf Tage auf der Insel geblieben waren, brachen wir am sechsten bei stiller See unter dem Geleit eines sanften Windes auf. Am achten Tage, als wir nicht mehr durch Milch, sondern schon in bläulicher Salzfluth schifften, sehen wir viele Menschen auf dem Meere laufen, die sonst an Körper und Größe uns ähnlich waren, bis auf die Füße allein; diese waren bei ihnen aus Kork, woher sie auch, wie ich glaube, den Namen Korkfüßler führten. Wir staunten nicht wenig, als wir sie nicht untersinken, sondern ohne Furcht auf den Wellen wandeln sahen; sie näherten sich, begrüßten uns in hellenischer Sprache und sagten, daß sie nach Phello (Korkstadt), ihrem Vaterlande, eilten. Eine Strecke lang liefen sie neben uns, dann schlugen sie, uns eine glückliche Reise wünschend, einen andern Weg ein, kurz darauf zeigten sich viele Inseln, in der Nähe zu unserer Linken Phello, wohin jene eilten, eine Stadt, die auf einem großen, runden Korke lag, in der Ferne und mehr nach rechts fünf sehr große und hohe, auf denen ein mächtiges Feuer loderte. Dem Vordertheile unseres Schiffes gegenüber zeigte sich eine breite, niedrige Insel, welche einen Raum von nicht weniger, als fünfhundert Stadien einnahm. Bereits waren wir ihr nahe und es umwehte uns eine wunderbar liebliche, wohlriechende Luft, wie nach der Erzählung des Geschichtschreibers Herodot17 das glückliche Arabien duften soll, denn ein Wohlgeruch von Rosen, Narcissen, Hyacinthen, Lilien und Veilchen, Lorbeeren, Myrthen und Weinblüthen kam uns entgegen. Voller Freude über den Duft, und in der Erwartung, daß es uns nach so vielen Leiden auch einmal wieder gut gehen werde, befanden wir uns bald hart an der Insel. Da bemerkten wir rings umher viele wellenlose Häfen und silberklare, ohne Geräusch in das Meer mündende Flüsse, ferner Wiesen, Wälder und Singvögel, von denen wenige auf den Gestaden, viele auf den Zweigen ihr Lied ertönen ließen; eine leichte, balsamische Luft umgab das Land, liebliche, sanft wehende Lüfte fächelten den Wald, so daß auch von den sich bewegenden Zweigen [112] ein anmuthiges Lied ertönte, ähnlich dem Klange der Rohrflöte18, die an einen einsamen Ort gelegt ist. Mitunter hörte man auch ein gemischtes starkes Getön von Stimmen, aber nicht lärmend, sondern wie es bei einem Gastmahl vorzukommen pflegt, wenn einige die Flöte oder Cither spielen und andere ihren Beifall durch Worte oder Klatschen zu erkennen geben. Durch dies alles bezaubert, landeten wir an, legten das Schiff vor Anker, ließen den Skintharus und zwei von den Gefährten in ihm zurück und gingen fort. Wie wir eine Wiese mit schönen Blumen durchschritten, treffen wir die umherziehenden Wächter an, die uns in Rosenkränzen, den stärksten Banden, die bei ihnen im Gebrauch sind, fesselten und uns vor ihren Fürsten führten. Auf dem Wege hörten wir von ihnen, daß das Land die Insel der Seligen heiße und daß ihr Fürst der Kretenser Rhadamanthys19 sei. Wie wir vor ihn geführt waren, standen wir als die vierte Partei in dem Reiche derer, über die Gericht gehalten werden sollte.
Zuerst kam der Fall des Telamoniers Ajax zur Verhandlung, ob er mit den Heroën20 zusammen sein dürfe, oder nicht, man erhob gegen ihn die Anklage, daß er rasend sei und sich getödtet habe. Endlich, nachdem viel hin und her gesprochen war, erkannte Rhadamanthys, wie folgt: für den Augenblick habe er sich dem Hippokrates, dem Arzte aus Kos, zum Gebrauch einer Nieswurzkur anzuvertrauen, später aber, nach seiner geistigen Genesung, an dem Gelage Theil zu nehmen.
Der zweite Fall war ein erotischer: Theseus und Menelaus lagen im Streite, wessen Gemahlin Helena sein solle. Rhadamanthys entschied, daß sie mit Menelaus zusammen zu leben [113] habe, weil er um dieser Ehe willen so viele Mühen und Gefahren bestanden, überdem habe Theseus bereits andere Frauen, die Amazone Hippolyte und die Töchter des Minos21.
Drittens wurde verhandelt, ob der Vorrang dem Alexander, dem Sohne des Philipp, oder dem Carthaginienser Hannibal gebühre22; der Gerichtshof erkannte, daß der erste Platz dem Alexander zukomme, und es wurde für ihn ein Thronsessel neben den Perserkönig, Cyrus den älteren, gestellt.
Viertens wurden wir vorgeführt; Rhadamanthys richtete an uns die Frage, weshalb wir noch bei Lebzeiten den heiligen Ort betreten hätten. Wir erzählten ihm alles der Reihe nach. Hierauf ließ er uns abtreten und erwog und berieth lange Zeit mit seinem Collegium; dasselbe war zahlreich, und unter andern befand sich auch Aristides der Gerechte aus Athen darin. Nachdem man zu einem Beschluß gekommen war, verkündete er das Urtheil, daß wir für unsern Vorwitz und die unternommene Reise nach unserem Tode Rechenschaft abzulegen, für jetzt aber eine bestimmte Zeit auf der Insel zu bleiben und mit den Heroen zu verweilen und uns dann zu entfernen hätten; die Frist unseres Aufenthaltes setzte er auf nicht mehr als sieben Monate fest. Hierauf fielen uns die Kränze von selbst ab, so daß wir frei waren, und in die Stadt zum Gastmahl der Seligen geführt wurden. Diese Stadt ist ganz aus Gold, die Ringmauer aus Smaragd; es befinden sich darin sieben Thore, sämmtlich von Zimmet und aus einem Holz. Der Boden der Stadt und der Grund innerhalb der Mauer ist von Elfenbein; die Tempel aller Götter sind von Beryll gebaut, und darin stehen sehr große Altäre von Amethyst, aus einem Stück, auf welchen sie die Hekatomben darbringen. Um die Stadt fließt ein Fluß des schönsten Oeles, hundert königliche23 Ellen breit, fünfzig tief, um bequem [114] darin zu schwimmen; die Bäder bei ihnen sind große Häuser aus Glas, die mit Zimmet geheizt werden, anstatt Wasser ist in den Wannen warmer Thau. Zur Kleidung gebrauchen sie feine, purpurfarbige Spinngewebe, Körper haben sie nicht, sondern sie sind unantastbar und ohne Fleisch und Bein; man sieht von ihnen nur eine Gestalt und Form, und trotz ihrer Körperlosigkeit stehen sie zusammen, bewegen sich, haben Sinn und Sprache, überhaupt scheint ihre Seele blos in einer dem Körper ähnlichen Hülle umherzuwandeln. Wenn man sie nicht anfaßt, könnte man sich nicht überzeugen, daß das, was man sieht, nicht Körper ist; sie gleichen aufrecht stehenden, aber nicht dunkeln Schatten. Niemand altert, sondern Jeder behält das Alter, in dem er hinkommt. Auch gibt es bei ihnen weder Nacht, noch hellen Tag; eine Beleuchtung wie die Morgendämmerung, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist, zieht sich über das Land hin; sodann kennen sie nur eine Jahreszeit; es ist bei ihnen immer Frühling und es weht nur ein Wind, der West. Das Land grünt und blüht von allerlei Blumen, von allerlei zahmen und schattigen Gewächsen; die Reben tragen zwölf Mal, einmal jeden Monat; von den Granaten, Aepfeln und dem andern Obste hieß es, daß sie dreizehn Mal tragen, nämlich zweimal in dem Monat, den sie nach Minos benannt haben; anstatt des Weizens wächst oben an den Aehren ein fertiges Brod, ähnlich einem Pilz. Rings um die Stadt herum sind dreihundert und fünfundsechszig Wasser- und eben so viele Honigquellen, Oelquellen gibt es fünfhundert, doch sind diese kleiner, ferner sieben Flüsse mit Milch, acht mit Wein. Der Ort, wo sie schmausen, ist außerhalb der Stadt hergerichtet, auf dem sogenannten elysischen Gefilde; es ist eine sehr schöne Wiese, und ein dichter, mannigfaltiger Wald beschattet die bei Tische Liegenden, die auf Lagern von Blumen ruhen. Die Aufwartung besorgen die Winde, außer dem Weineinschenken: das brauchen sie nicht, denn um den Ort, wo sie speisen, stehen Bäume von dem durchsichtigsten Glase, und die Frucht dieser Bäume sind Trinkgefäße von verschiedener Arbeit und Größe. Wenn nun Einer zum Essen geht, so bricht er einen oder zwei Becher ab und stellt sie vor sich hin, die [115] Becher füllen sich auf der Stelle mit Wein. Auf diese Art trinken sie; Kränze bedürfen sie nicht, Nachtigallen und die andern Singvögel sammeln in ihren Schnäbeln von den nahen Wiesen Blumen und schneien sie mit Gesang über ihnen fliegend herab. Sie salben sich folgendermaßen: dichte Wolken ziehen aus den Quellen und dem Flusse Salböl auf, lagern sich über den Ort des Gelages und lassen durch den leisen Druck des Windes einen sanften Thauregen auf sie herabträufeln. Bei dem Mahle beschäftigen sie sich mit Musik und Gesängen; vorzüglich werden ihnen Homers Gedichte vorgetragen, der auch selbst bei dem Gelage anwesend ist und seinen Platz über Odysseus hat. Die Chöre bestehen aus Knaben und Mädchen; an dem Gesange betheiligen sich und leiten ihn: der Lokrer Eunomus24, Arion aus Lesbos, Anakreon und Stesichorus, auch diesen sah ich bei ihnen, weil Helena sich schon mit ihm ausgesöhnt25 hatte. Wenn diese zu singen aufhören, tritt, zweitens, ein Chor von Schwänen, Schwalben und Nachtigallen auf; sind diese fertig, so flötet schon von herabkommenden Winden der ganze Wald. Am meisten trägt zu ihrem Frohsinn Folgendes bei: Neben dem Ort, wo sie schmausen, befinden sich zwei Quellen, die eine des Lachens, die andere der Wollust, aus einer von ihnen trinken alle am Anfange des Schmauses und bringen dann die übrige Zeit in freudiger und lachender Stimmung zu.
Ich will nun erzählen, welche berühmte Persönlichkeiten ich bei ihnen sah: erstlich alle Halbgötter und alle, die gegen Ilium zu Felde zogen, außer Ajax dem Lokrer, dieser sollte allein an dem Orte der Sünden gezüchtigt werden; von den Nichthellenen die beiden Cyrus, den Scythen Anacharsis, den Thracier Zamolxis, und den Italiener Numa, ferner den Spartaner Lykurgus, die Athener Phocion und Tellus und die Weisen außer Periander; auch den Sokrates, den Sohn des Sophroniskus, sah ich mit Nestor und Palamedes sich unterhalten, um ihn waren Hyacinth [116] aus Lacedämon, Narciß aus Thespiä, Hylas und viele andere Schönheiten; wie es mir schien war er in Hyacinth verliebt, wenigstens richtete er meistens an ihn seine Kreuz- und Querfragen. Es hieß, daß Rhadamanthys ihm zürne und oftmals gedroht habe, ihn aus der Insel zu werfen, wenn er immerfort sein Zeug schwatzen und nicht die Ironie aufgeben und ruhig schmausen würde. Plato allein war nicht anwesend, sondern er sollte in der von ihm selbst geformten Stadt, nach seiner eigenen Verfassung und den Gesetzen, die er geschrieben, leben. Den ersten Preis trugen bei ihnen Aristipp, Epikur und ihre Anhänger als angenehme und höchst liebenswürdige Gesellschafter davon; desgleichen war der Phrygier Aesop da, den sie als Harlequin gebrauchen. Diogenes aus Sinope hatte seinen Charakter so sehr verändert, daß er die Hetäre Lais geheirathet hatte, und daß er oftmals vor Trunkenheit zu tanzen anfing und andern Unfug trieb. Von den Stoikern war keiner da, man sagte, daß sie noch damit beschäftigt seien, den steilen Hügel der Tugend hinanzusteigen. Wir vernahmen auch von Chrysippus, daß er die Insel nicht früher betreten dürfe, als bis er sich viermal durch Nieswurz gereinigt habe. Von den Akademikern hieß es, daß sie zwar die Absicht haben, zu kommen, daß sie aber noch anhalten und zweifeln, denn sie begreifen auch das nicht einmal, ob es überhaupt eine solche Insel gäbe. Vornämlich jedoch, glaub’ ich, fürchteten sie sich vor dem Urtheil des Rhadamanthys, weil sie jeglichen Maßstab des Urtheils26 aufgehoben hatten. Viele von ihnen sollten sich zwar aufgemacht haben, um den hierher Kommenden zu folgen, aus Trägheit aber hatten sie davon abgelassen, weil sie jene nicht fassen konnten, und waren mitten auf dem Wege umgedreht.
Dies sind etwa die merkwürdigsten Leute, die man hier zu sehen bekommt; am höchsten ehren sie den Achilles und nach ihm den Theseus. Was endlich den Geschlechtstrieb betrifft, so befriedigen [117] sie denselben ganz offenkundig mit Männern und Frauen vor aller Augen, und das gilt durchaus nicht für unanständig. Sokrates allein schwur, daß er sich jungen Leuten nur in reiner Absicht nähere; doch bezüchtigten ihn alle eines Meineides, wenigstens machten Hyacinth und Narciß, trotz seines Leugnens, oftmals Geständnisse. Die Frauen sind Gemeingut aller, und Niemand kennt Eifersucht, sie sind vielmehr in dieser Beziehung die besten Platoniker27; ebenso sind die Knaben jedem Beliebigen ohne Widerspruch zu Willen.
Es waren noch nicht zwei oder drei Tage vergangen, als ich in einer müssigen Stunde mich dem Dichter Homer näherte und unter andern auch die Frage an ihn richtete, woher er denn eigentlich wäre, mit dem Bemerken, daß hienach bei uns noch heute mit dem größten Eifer geforscht werde. Er gab mir die Antwort, er wisse, daß einige ihn für einen Chier, andere für einen Smyrnäer, die meisten für einen Kolophonier halten; er sei jedoch in Wirklichkeit aus Babylon28, und heiße bei seinen Mitbürgern nicht Homer, sondern Tigranes; später habe er seinen Namen verändert, weil er bei den Hellenen als Geißel29 gewesen sei. Sodann fragte ich, ob die Verse, welche die Kritik verwirft, von ihm verfaßt wären: er erkannte sie alle als die seinigen an und warf dem Aristarch und Zenodot große Kleinigkeitskrämerei vor. Als er diese Fragen befriedigend beantwortet hatte, fragte ich ihn weiter, weshalb in aller Welt er von dem Zorn des Achilles angefangen habe? worauf er entgegnete, daß ihm das ganz absichtslos eingefallen sei. Ferner wünschte ich auch zu wissen, ob er die Odyssee, wie die meisten meinen, vor der Ilias geschrieben habe – was er verneinte. Daß er nicht blind war, wie es desgleichen von ihm heißt, erkannte ich auf der Stelle, er hatte den Gebrauch seines Gesichtes, so daß ich nicht nöthig hatte, danach zu fragen. Wenn ich einmal ihn unbeschäftigt sah, [118] so war es häufig meine Gewohnheit, an ihn heranzutreten und mich irgendwonach bei ihm zu erkundigen, worauf er immer bereitwillig Auskunft ertheilte, besonders, nachdem er seinen Prozeß gewonnen hatte. Thersites erhob nämlich wegen der Spötteleien30, die er sich in seinem Gedichte gegen ihn erlaubt hatte, die Anklage auf muthwillige Verläumdung, allein Homer wurde, weil Odysseus als sein Anwalt auftrat, freigesprochen. Zu derselben Zeit langte auch der Samier Pythagoras an, nachdem er sich sieben Mal verwandelt und in eben so vielen Geschöpfen gelebt und den Kreislauf der Seele vollendet hatte. Seine ganze rechte Hälfte war von Gold; es wurde entschieden, daß er mit den Heroen leben solle, es herrschte aber noch Zweifel, ob er Pythagoras oder Euphorbus genannt werden müsse31. Ebenso kam Empedokles zwar auch an, auf dem ganzen Leibe versengt und gebraten, jedoch wurde er, trotz vielen Bitten, nicht aufgenommen.
Im Verlauf der Zeit erschienen die bei ihnen üblichen Kampfspiele, die sogenannten Thanatusien; Achilles war zum fünften, und Theseus zum siebenten Mal Kampfrichter. Eine ausführliche Schilderung derselben würde zu weitläufig sein, ich will deshalb nur die Hauptsachen erzählen: Im Ringen trug Karos32, der Jünger des Herakles, über Odysseus Sieg und Kranz davon. Zwischen dem Aegyptier Areios, der in Korinth beerdigt ist, und Epeios33, die sich im Faustkampf mit einander maßen, war die Sache unentschieden; das Pankratium ist bei ihnen nicht üblich. Es ist mir jedoch schon entfallen, wer im Wettlauf Sieger war. Die Dichter übertraf in Wirklichkeit Homer bei Weitem, gleichwohl wurde dem Hesiod der Sieg zuerkannt34. [119] Der Kampfpreis bestand für alle in einem aus Pfauenfedern geflochtenen Kranze.
Als die Kampfspiele eben vollendet waren, kam die Nachricht, daß diejenigen Verdammten, die an dem Ort der Sünder gezüchtigt werden, ihre Fesseln gesprengt hätten und, nach Ueberwältigung der Wache, im Anzuge auf die Insel begriffen seien; ihre Anführer sollten Phalaris von Agrigent, der Aegypter Busiris, Diomedes aus Thracien und die Räuber Skiron und Pityokamptes sein. Wie Rhadamanthys dies hörte, stellte er die Heroen auf dem Ufer in Schlachtordnung; es befehligten sie Theseus, Achilles und der Telamonier Ajax, der von seiner Geisteskrankheit schon genesen war. In dem darauf folgenden Handgemenge siegten die Heroen namentlich durch die erfolgreichen Bemühungen des Achilles. Auch Sokrates, der auf dem rechten Flügel stand, zeichnete sich noch weit mehr aus, als in seinem Leben bei Delium, denn als die Feinde heranrückten, hielt er Stand und wechselte nicht einmal die Farbe. Hiefür wurde ihm später, als Preis seiner Tapferkeit, ein schöner und sehr großer Park in der Vorstadt gegeben, welchen Ort er Todtenakademie benannte, und wo er sich mit seinen versammelten Freunden zu unterhalten pflegte. Hierauf nahmen sie die Besiegten fest, legten sie wieder in Banden und schickten sie fort, um noch mehr gezüchtigt zu werden. Auch diesen Kampf beschrieb Homer und er gab mir bei meinem Fortgehen ein Exemplar für die Menschen bei uns, allein dasselbe ist mir ebenso, wie die andern Gegenstände, abhanden gekommen. Der Anfang dieses Gedichtes war: „Jetzt verkünde mir, Muse, den Kampf der todten Heroen.“ Damals aber wurden Bohnen gekocht, wie es bei ihnen Sitte ist, wenn sie einen Krieg mit Glück geführt haben, und der Siegesschmaus gehalten und ein großes Fest gefeiert. Nur Pythagoras nahm keinen Antheil daran, sondern saß, das Bohnenessen verabscheuend, in der Ferne, ohne etwas zu genießen. Als schon sechs Monate von unserer Zeit vergangen waren, [120] ereignete sich um die Mitte des siebenten etwas Neues. Kinyras, der Sohn des Skintharus, ein großer und schöner Junge, hatte sich schon seit langer Zeit in Helena verliebt, und es war ersichtlich, daß sie diese Neigung leidenschaftlich erwiderte; häufig nickten und tranken sie bei dem Mahle einander zu, standen allein vom Tische auf und streiften im Walde umher. Endlich beschloß Kinyras, da er vor Liebe sich gar nicht mehr zu helfen wußte, die Helena zu entführen und davon zu fliehen; und sie war nicht abgeneigt, mit ihm nach einer von den in der Nähe liegenden Inseln, entweder nach der Kork- oder nach der Käseinsel zu entweichen. Die drei verwegensten meiner Gefährten hatten sie längst als Mitwissende in ihren Plan gezogen, jedoch sagte er dem Vater nichts davon, denn er wußte wohl, daß dieser ihn daran hindern würde. Wie sie nun über den Anschlug einig waren, führten sie ihn auch aus; sie nahmen, ohne daß Jemand etwas davon merkte, – ich war nicht gegenwärtig, weil ich gleich bei Tisch eingeschlafen war – die Helena auf ein Boot und fuhren schnell ab. Um Mitternacht erwachte Menelaus, machte, wie er das Bett seiner Frau leer bemerkte, Lärm, und eilte in Begleitung seines Bruders zu dem Könige Rhadamanthys. Mit dem Dämmern des Tages erklärten die ausgestellten Späher, daß sie das Schiff in weiter Entfernung sähen; in Folge dessen ließ Rhadamanthys fünfzig Heroen in ein Fahrzeug, welches aus einem Stück Asphodilholz gemacht war, steigen und befahl ihnen, Jagd zu machen. Durch angestrengtes Rudern holten sie jene um Mittag ein, als sie eben in die Milchsee einfuhren, in der Nähe der Käseinsel, so wenig fehlte, daß sie entkommen wären. Die Heroen banden das Boot mit einer Rosenkette an ihr Schiff an und kehrten zurück. Helena vergoß dabei Thränen, schämte sich, und verhüllte ihr Gesicht, den Kinyras und seine Genossen verhörte Rhadamanthys zuvor, ob sie noch andere Mitwisser hätten; wie sie keinen nannten, wurden sie zuerst mit Malven gepeitscht, dann schickte er sie, an den Schamtheilen gefesselt, nach dem Orte der Sünder fort. Desgleichen beschloß man, uns vor dem Termin aus der Insel zu schicken, und uns nur den nächstfolgenden Tag verweilen zu lassen. Auf diese Eröffnung fing ich an zu klagen [121] und zu weinen, in dem Gedanken, was für ein Leben ich verlassen sollte, um wieder umherzuirren: sie trösteten mich jedoch und sagten, daß ich binnen weniger Jahre zu ihnen kommen würde, und zeigten mir schon den Lehnstuhl und Platz, den ich für die Folge in der Nähe der Trefflichsten haben sollte. Hierauf näherte ich mich dem Rhadamanthys und flehte ihn an, mir die Zukunft zu verkünden und Auskunft über die Fahrt zu geben. Er sagte zwar, daß ich nach vielen Irrfahrten und Gefahren in mein Vaterland kommen würde, ließ sich aber nicht willig finden, auch die Zeit der Rückkehr hinzuzufügen. Er zeigte mir die nahen Inseln, von denen fünf sichtbar waren, die sechste in der Ferne schimmerte, und sprach: diese nahe liegenden, auf denen du das große Feuer brennen siehst, sind der Aufenthaltsort der Bösen, jene sechste ist die Stadt der Träume: nach dieser kommt die Insel der Kalypso, sie ist aber noch nicht sichtbar. Wenn du diese vorbeigefahren bist, wirst du nach dem Festlande kommen, das dem von euch bewohnten gegenüber liegt. Nachdem du hier viele Leiden überstanden, verschiedene Völker durchzogen und mit ungeselligen Menschen verkehrt hast, wirst du endlich in das andere Festland gelangen. Das war alles, was er sagte. Hierauf zog er aus der Erde eine Malvenwurzel, überreichte sie mir und befahl mir, diese in den größten Gefahren anzurufen: auch rieth er mir, wenn ich einmal auf unsere Erde gekommen wäre, weder mit einem Messer das Feuer zu schüren, noch Wolfsbohnen zu essen, noch mit einem Knaben, der über achtzehn Jahre alt ist, ein Liebesverhältniß anzubinden35: wenn ich dieß nicht vergäße, so hoffe er, daß ich auf die Insel zurückkehren würde. Sodann traf ich die Vorkehrungen zur Abfahrt und schmauste mit ihnen, als es Zeit dazu war. Am folgenden Morgen trat ich zu dem Dichter Homer und bat ihn, mir ein zweizeiliges Epigramm zu machen; als er es fertig hatte, errichtete ich am Hafen eine Beryllsäule und schrieb es hinauf. Das Epigramm lautete:
Lucian kehrt, der Liebling der seligen Götter, nachdem er
Alles geschaut, was hier ist, in’s Vaterland wieder zurück nun.
[122] Jenen Tag verweilte ich noch dort und ging dann am folgenden unter dem Geleit der Herren in See: da kam Odysseus, ohne daß Penelope etwas davon wußte, an mich heran und gab mir einen Brief an Kalypso, den ich nach der Insel Ogygia mitnehmen sollte. Auch schickte Rhadamanthys den Fährmann Nauplius mit mir, damit er verhindere, daß einer uns festnehme, wenn wir an die Inseln getrieben würden, und dafür zeuge, daß wir andere Handelszwecke verfolgten. Als wir aus der balsamischen Luft der Insel heraus waren, empfing uns sogleich ein schrecklicher Gestank, wie von zusammen gebranntem Asphalt, Schwefel und Pech, und ein arger, unerträglicher Fettgeruch, wie von gebratenen Menschen, und die Luft war düster und nebelig und es träufelte aus ihr ein pechartiger Thau: auch hörten wir das Schwirren der Peitschen und das Wehegeheul vieler Menschen. An den andern Inseln landeten wir nicht, diejenige aber, die wir betraten, war von folgender Beschaffenheit: sie hatte ringsum steile, glatte Abhänge und einen rauhen, ausgetrockneten Felsboden: es gab auf ihr keinen Baum und kein Wasser. Gleichwohl klimmten wir die Abhänge hinan und schritten durch eine abschreckende Landschaft, auf einem mit Dornen und Spitzpfählen besetzten Fußsteige weiter. Als wir zu dem Gefängnisse und dem Orte, wo die Sünder gezüchtigt werden, gelangten, setzte uns zuerst die Beschaffenheit des Platzes in Staunen, denn aus dem Boden selbst waren überall Schwerter und Spitzpfähle emporgewachsen, rings herum flossen Ströme, von denen der eine Koth, der zweite Blut, der innerste Feuer mit sich führte; dieser letzte war sehr breit und unüberschreitbar, er floß wie Wasser und wogte wie das Meer, und enthielt viele Fische, theils große, die Feuerbränden, theils kleine, die feurigen Kohlen glichen und bei ihnen Lämpchen hießen. Ein enger Eingang führte über alle, an dem als Thürhüter der Athener Timon stand. Weil aber Nauplius uns leitete, so durften wir vorbeigehn und schauten, wie viele Könige und viele Privatleute gepeinigt wurden, von denen wir einige erkannten: auch den Kinyras sahen wir, der, an den Schamtheilen aufgehängt, über dem Feuer geräuchert wurde. Diejenigen, die uns herumführten, gaben uns die Lebensbeschreibung eines Jeden und berichteten, aus [123] welchem Grunde er gezüchtigt wurde. Die größten Strafen unter allen erduldeten diejenigen, welche in ihrem Leben gelogen und welche unwahre Geschichte geschrieben hatten, unter denen Ktesias aus Knidus, Herodot und viele andere sich befanden. Bei dieser Wahrnehmung hegte ich gute Hoffnungen für die Zukunft, denn ich war mir bewußt, nie eine Lüge gesagt zu haben. Eilig kehrte ich zum Schiffe zurück, weil ich den Anblick nicht zu ertragen vermochte, nahm von Nauplius Abschied und schiffte davon. Bald darauf zeigte sich in der Nähe die Insel der Träume, doch trübe und nicht deutlich zu erkennen: sie selbst hatte etwas den Träumen Aehnliches, sie wich zurück und entfernte sich immer mehr, je näher wir herankamen. Wie wir sie endlich erreicht hatten und in den Hafen, der Hypnos (Schlaf) heißt, nahe an den Thoren aus Elfenbein, wo der Tempel des Alektryon (Hahn) ist, eingelaufen waren, stiegen wir um die späte Abenddämmerung an das Land, gingen in die Stadt und bekamen viele Träume verschiedener Art zu Gesichte.
Zuerst will ich von der Stadt sprechen, weil kein Anderer über sie geschrieben, und Homer, der allein ihrer erwähnt, sie nur oberflächlich geschildert hat36.
Rings um die ganze Stadt erhebt sich ein Wald, dessen Bäume aus hohen Mohn- und Alraunpflanzen bestehen, auf denen eine Unzahl Fledermäuse sich befindet, welche unter den beflügelten Thieren allein auf der Insel vorkommen. In der Nähe fließt ein Fluß vorbei, den sie Nyktiporos37 nennen, ebenso gibt es zwei Quellen an den Thoren, welche auch einen Namen haben, die eine heißt Negretos38, die andere Pannychia39: die Ringmauer der Stadt ist hoch und von einer mannigfaltigen, dem Regenbogen ganz ähnlichen Farbe; jedoch sind in ihr nicht zwei Thore, wie Homer sagt, sondern vier, von denen zwei, ein ehernes und ein aus Thon gefertigtes, nach dem Felde der Gefühllosigkeit gehn, durch welche die grausigen, blutigen und wilden [124] Träume ziehen sollten, zwei sehen nach dem Hafen und dem Meere, eins ist aus Horn, durch welches wir kamen, das andere von Elfenbein. Wenn man in die Stadt tritt, rechts ist der Tempel der Nacht, die sie nebst dem Alektryon unter allen Göttern am meisten verehren: der Tempel des Alektryon liegt am Hafen: zur Linken befindet sich das königliche Schloß des Hypnos, der bei ihnen das Scepter führt und zwei Satrapen oder Statthalter ernannt hat, den Taraxion40, den Sohn des Mataiogenes, und den Ploutokles, den Sohn des Phantasion. Mitten auf dem Markt ist eine Quelle, die sie Kareotis41 nennen, und in der Nähe die beiden Tempel der Täuschung und der Wahrheit: hier befindet sich auch ihr Heiligthum und Orakel, dessen Vorsteher und Prophet der Traumdeuter Antiphon42 ist, der diese Ehre von Hypnos bekommen hat.
Die Träume selbst haben weder alle dieselbe Beschaffenheit, noch dasselbe Aussehen: vielmehr waren einige lang, zart, schön und hübsch, andere hager, klein und ungestaltet, einige, wie es schien, von Gold, andere von niedrigem und keinem Werthe: es befanden sich unter ihnen auch einige befiederte und wundersam aussehende, andere waren wie zu einem Festzuge als Könige, Götter u. dergl. geputzt und herausstaffirt: viele erkannten wir, da wir sie längst bei uns gesehen hatten. Diese traten an uns heran und begrüßten uns als alte Bekannte, nahmen uns auf, schläferten uns ein und bewirtheten uns glänzend und artig und versprachen, neben einer prächtigen sonstigen Aufnahme uns zu Königen und Satrapen zu machen. Einige führten uns sogar in unser Vaterland, zeigten uns unsere Angehörigen und brachten uns an demselben Tage wieder zurück.
Dreißig Tage und gleich viele Nächte blieben wir bei ihnen schlummernd und schmausend: danach erweckte uns plötzlich ein heftiges Gewitter: wir sprangen auf und gingen, nachdem wir [125] Speise eingenommen, in See. Am dritten Tage gelangten wir von dort nach der Insel Ogygia, an der wir landeten. Zuvor erbrach ich den erwähnten Brief und las ihn. Er lautete also: „Odysseus sendet der Kalypso seinen Gruß. Laß mich dir mittheilen, daß ich bald nach meiner Abfahrt von dir mit dem Floß, welches ich mir bei dir zimmerte, Schiffbruch litt und kaum durch Leukothea’s Beistand mich in das Land der Phäaken rettete, von denen ich in meine Heimat geschickt wurde, wo ich viele Freier meines Weibes, die meine Habe verpraßten, antraf. Ich tödtete sie alle, wurde aber selbst nachher von Telegonus, den mir Circe geboren, umgebracht und befinde mich jetzt auf der Insel der Seligen, wo mir Muße genug ist, sehr zu bereuen, daß ich den Aufenthalt bei dir und die mir von dir angebotene Unsterblichkeit im Stiche gelassen habe. Wenn sich mir eine Gelegenheit bietet, werde ich entwischen und zu dir kommen.“ Dies enthielt der Brief und zum Schluß die Bitte, daß sie uns gastlich aufnehmen möge.
Als ich wenige Schritte vom Meere weggegangen war, fand ich eine solche Grotte, wie sie Homer schildert, und sie selbst mit Weben beschäftigt. Wie sie den Brief nahm und las, weinte sie zuerst lange Zeit, sodann lud sie uns zu sich ein und bewirthete uns glänzend und erkundigte sich nach Odysseus und Penelope, wie sie aussähe und ob sie so sittsam sei, als Odysseus einst von ihr geprahlt habe. Wir antworteten ihr so, wie wir glaubten, daß es ihr angenehm sein würde. Hierauf kehrten wir zu unserem Schiffe zurück und legten uns in seiner Nähe auf dem Ufer schlafen. Des Morgens fuhren wir bei heftiger werdendem Winde ab und fielen nach einem Sturm von zwei Tagen am dritten den Kolokynthopiraten43 in die Hände: dies sind wilde Menschen von den nahen Inseln, welche Vorübersegelnde ausplündern: sie haben große, sechzig Ellen lange Fahrzeuge von Kürbissen. Sie trocknen nämlich Kürbisse, höhlen sie aus und nehmen das Innere heraus und schiffen dann darin, zu Masten gebrauchen sie Rohr, anstatt des Segels haben sie ein Kürbisblatt. Sie griffen uns mit zwei [126] wohlbemannten Schiffen an und bewarfen uns mit einem Hagel von Kürbiskernen, wodurch viele von uns verwundet wurden. Lange blieb die Seeschlacht unentschieden; endlich um Mittag sahen wir, daß die Karyonauten44 im Rücken der Kolokynthopiraten heransegelten. Wie sich zeigte, lebten sie mit einander in Feindschaft, denn als diese jene herankommen sahen, ließen sie uns im Stich, wandten sich gegen jene und lieferten ihnen eine Seeschlacht. Unterdessen flohen wir mit aufgespanntem Segel davon und ließen sie kämpfend zurück. Es war offenbar, daß die Karyonauten siegen würden, weil sie selber zahlreicher – sie hatten fünf bemannte Fahrzeuge – und ihre Schiffe von stärkerem Bau waren: diese bestanden aus ausgehöhlten halben Nußschalen und die Größe einer jeden solchen Hälfte betrug fünfzehn Klafter an Länge. Als wir ihnen aus dem Gesichte waren, verbanden wir unsere Verwundeten und legten für die Folge unsere Waffen nicht mehr bei Seite, weil wir immer Nachstellungen erwarteten. Und diese Befürchtung war nicht umsonst. Die Sonne war noch nicht untergegangen, als von einer wüsten Insel etwa zwanzig auf großen Delphinen reitende Männer auf uns loskamen, die auch Seeräuber waren. Die Delphine trugen sie ganz sicher, sprangen und wieherten gleich Pferden. Wie diese Wilden sich genähert hatten, postirten sie sich zu beiden Seiten unseres Schiffes und warfen uns mit trockenen Dintenfischen und Krabbenaugen: als auch wir Pfeile und Speere auf sie losschleuderten, hielten sie nicht mehr Stand, sondern flohen, die meisten verwundet, nach der Insel.
Um Mitternacht fuhren wir bei Windstille unversehens an das gewaltige Nest eines Eisvogels an, dessen Umfang sechzig Stadien betrug: der Eisvogel saß darauf, der nicht viel kleiner war, als das Nest, und brütete. Mit einem kläglich tönenden Geschrei flog er davon und hätte uns beinahe das Schiff durch den Wind, den er beim Auffliegen mit seinen Flügeln machte, versenkt. Wie der Tag schon dämmerte, stiegen wir in das Nest und betrachteten es: große Bäume waren dazu zusammengetragen und es glich einem mächtigen Flosse: Eier waren fünfhundert [127] darin, jedes größer als eine chiische Tonne: im Innern waren auch schon die Jungen zu sehen und piepten. Wir hieben also ein Ei mit Holzäxten auf und nahmen ein unbefiedertes Junges heraus, das stärker war, als zwanzig Geier. Als wir von dem Neste etwa zweihundert Stadien fortgesegelt waren, trafen uns höchst auffallende Wunderzeichen zu. Das (geschnitzte) Gänschen auf dem Schiffshintertheile fing plötzlich zu flattern und zu schnattern an, der Steuermann Skintharus, der schon einen kahlen Kopf hatte, bekam wieder Haare, und was das Seltsamste von allem war, der Mastbaum des Schiffes wurde grün und trieb Aeste und setzte an seinem Ende Früchte an, Feigen und noch nicht reife, dunkle Trauben. Wie wir das sahen, geriethen wir natürlich in Bestürzung und flehten die Götter an, das Uebel, welches diese Dinge etwa bedeuten könnten, von uns abzuwenden. Wir hatten noch nicht eine Strecke von fünfhundert Stadien zurückgelegt, als wir einen sehr großen und dichten Wald von Fichten und Cypressen sahen: wir hielten ihn für Festland: es war aber in Wirklichkeit unergründliches, mit Bäumen, die keine Wurzel hatten, bewachsenes Meer: trotzdem standen die Bäume fest und aufrecht, gleich als schwämmen sie. Wir näherten uns, betrachteten die ganze Sache und wußten uns nicht zu rathen, was wir thun sollten; weder war es möglich, durch die Bäume zu schiffen, denn sie standen dicht an einander, noch schien es leicht, wieder umzukehren. Ich stieg auf den höchsten Baum und schaute aus, wie es auf der andern Seite aussähe: da bemerkte ich, daß eine Strecke von fünfzig Stadien oder etwas mehr Wald sei, daß dann wiederum ein anderes Meer folge. Wir beschlossen also, das Schiff auf die dichten Zweige der Bäume zu heben und es wo möglich in jenes andere Meer hinüber zu schaffen. Und so machten wir es auch. Wir banden das Schiff an ein großes Thau, stiegen auf die Bäume und schleppten es mit Noth und Mühe herauf: wir setzten es dann auf die Zweige, spannten die Segel aus und ließen uns, indem der Wind das Schiff fortstieß, darüber hinweg schleifen, als wenn wir im Meere segelten. Bei dieser Gelegenheit kam mir die Stelle aus dem Dichter Antimachus45 [128] in den Kopf, wo er sagt: Ihnen, da sie mitten das Waldmeer durchfuhren –.
Trotz diesen Schwierigkeiten schlugen wir uns durch den Wald durch und gelangten wieder in Wasser, wo wir das Schiff ebenso hinabließen und dann durch reines, klares Wasser segelten, bis wir an eine große Spalte kamen, die durch das Auseinandertreten des Wasser gebildet war, ähnlich den durch Erdbeben bewirkten Rissen, die wir auf der Erde häufig bemerken. Obwohl wir die Segel schnell einzogen, blieb unser Schiff doch nicht so leicht stehn, sondern es fehlte vielmehr wenig daran, daß es herabgefahren wäre. Wir guckten über unser Schiff und sahen eine gar furchtbare, seltsame Tiefe von etwa tausend Stadien: das Wasser stand wie zertheilt von einander. Bei näherem Umschauen sahen wir zur Rechten in nicht weiter Entfernung ein aus dem einen Meere in das andere fließendes Wasser, welches beide Meere auf der Oberfläche wie eine Brücke mit einander verband. Wir bewegten unser Schiff durch Rudern heran und fuhren unter großer Seelenangst herüber, woran wir fast schon verzweifelt hatten. Von da kamen wir in ein stilles Meer und zu einer nicht großen, leicht zugänglichen, bewohnten Insel: es bewohnten sie die Bukephalen (Ochsenköpfler), wilde Menschen mit Hörnern, wie man bei uns den Minotaur darzustellen pflegt. Wir stiegen aus und gingen vorwärts, um Wasser einzunehmen und wo möglich etwas zu essen zu bekommen, denn unsere Vorräthe waren uns schon ausgegangen. Und Wasser fanden wir in der Nähe, sonst war nichts zu sehn, nur hörten wir in der Ferne großes Gebrüll: in dem Glauben, daß es von einer Rinderheerde herrühre, gingen wir weiter und trafen auf Menschen. Als sie uns [129] erblickten, machten sie auf uns Jagd und nahmen drei von unsern Gefährten gefangen, wir übrigen flohen zu dem Meere. Weil wir jedoch unsere Freunde nicht ungerächt zu lassen gedachten, so bewaffneten wir uns alle und fielen über die Bukephalen her, die eben das Fleisch der Getödteten unter sich vertheilten. Wir verfolgten sie alle mit Geschrei, tödteten etwa fünfzig und nahmen zwei lebendig gefangen: hierauf kehrten wir mit den Gefangenen wieder zum Schiffe zurück: allein zu essen fanden wir nichts. Die Andern riethen, die Gefangenen zu schlachten, weil dies aber nicht meine Absicht war, so ließ ich sie binden und bewachen, bis Gesandte von den Bukephalen kamen und die Gefangenen für ein Lösegeld zurückforderten: wir verstanden nämlich, daß dies ihr Nicken und klägliches, gleichsam flehendes Gebrüll bedeute. Das Lösegeld bestand in einer Menge Käse, trockenen Fischen, Zwiebeln und vier Hirschen, von denen jeder drei Füße hatte, zwei Hinterfüße, die vorderen aber waren in einen zusammengewachsen. Hiefür gaben wir die Gefangenen los, verweilten einen Tag und fuhren ab.
Nun zeigten sich schon Fische, Vögel flogen neben uns, und die andern Zeichen, aus denen man auf die Nähe des Landes schließt, wurden sichtbar. Bald darauf sahen wir Männer, die in einer ganz neuen Art Schifffahrt trieben: sie waren Schiffer und Schiffe zugleich. Ich werde sagen, wie sie das machten: sie lagen mit dem Rücken auf dem Wasser, richteten das männliche Glied, wovon sie mit großen versehen sind, in die Höhe und spannten daran das Segel aus: die Zipfel hielten sie mit den Händen fest, und indem der Wind hineinblies, segelten sie. Nach diesen kamen andere, die auf Korken saßen und sich von zwei Delphinen, die sie vorgespannt hatten und lenkten, fortziehen ließen. Diese thaten uns weder etwas zu Leide, noch flohen sie vor uns, sondern sie fuhren furchtlos und friedlich heran und bewunderten das Aussehen unseres Schiffes, das sie von allen Seiten betrachteten.
Schon am Abend landeten wir an einer kleinen Insel, die von hellenisch redenden Frauen, wie uns däuchte, bewohnt war: diese Frauen, alle schön und jung und buhlerinnenartig geputzt [130] und in langen Schleppkleidern, kamen an uns heran und begrüßten uns. Die Insel hieß Kabbalusa, die Stadt Hydromardia; sie faßten uns bei der Hand und jede suchte sich einen aus, den sie zu sich fortführen und als Gast aufnehmen wollte. Weil mir aber nichts Gutes ahnete, so blieb ich ein wenig stehen und sah bei genauerem Umschau viele Knochen und Schädel von Menschen herumliegen. Lärm zu machen, die Gefährten zusammenzurufen und zu den Waffen zu greifen, hielt ich nicht für zweckdienlich: ich nahm vielmehr die Malve vor und betete inständig zu ihr, sie möge mich aus den gegenwärtigen bösen Gefahren entrinnen lassen. Bald darauf, als meine Wirthin mir aufwartete, bemerkte ich, daß sie nicht Frauenbeine, sondern Eselshufe habe: ich ziehe also mein Schwert, nehme sie fest und verhöre sie über alles. Obwohl ungern, machte sie doch endlich das Geständniß: sie seien Meerweiber, die den Namen Eselsfüßlerinnen führen, und nähren sich von den zu ihnen kommenden Fremden: wenn wir sie, sagte sie, berauscht haben, so gehen wir mit ihnen zusammen zu Bett und fallen im Schlaf über sie her. Wie ich das hörte, ließ ich sie dort gefesselt zurück, stieg auf das Dach und rief mit lauter Stimme die Freunde zusammen: als sie sich versammelt hatten, eröffnete ich ihnen alles, zeigte ihnen die Gebeine und führte sie zu der Gefesselten hinein. Sie wurde sogleich Wasser und war verschwunden: trotzdem stieß ich zur Probe mein Schwert in das Wasser: da wurde es Blut.
Wir hatten nun nichts Eiligeres zu thun, als nach dem Schiffe hinabzugehn und davonzufahren. Wie der Tag anbrach, erblickten wir das Festland, von dem wir vermutheten, daß es dasjenige sei, welches dem von uns bewohnten gegenüber liegt. Unser Erstes war, auf die Kniee zu fallen und unser Gebet zu verrichten: hierauf fingen wir an zu berathen, was wir machen sollten, da die Einen meinten, wir sollten das Land nur betreten und wieder umkehren, die Andern dafür stimmten, das Schiff dort zurückzulassen und in das Innere des Landes vorzudringen, um zu versuchen, was mit den Einwohnern anzufangen sei. Während wir dies überlegten, befiel uns ein heftiger Sturm und schmetterte das Schiff an das Ufer, so daß es in Stücke zerfiel und wir [131] selbst mit Mühe nur unsere Waffen und was sonst möglich war, ergreifen und uns durch Schwimmen retten konnten. Das ist also, was mir bis zu der Ankunft im andern Lande, auf dem Meere und während der Fahrt auf den Inseln und in der Luft und darauf in dem Wallfische und, nachdem wir aus ihm herausgekommen waren, bei den Heroen und den Träumen und zuletzt bei den Ochsenköpflern und den Eselsfüßlerinnen begegnete, die Erlebnisse auf dem andern Festlande werde ich in den folgenden Büchern berichten46.
